Studie „Running to get lost“: Können wir Stress davonlaufen?

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Wissenschaftler fragen Freizeitläufer, warum sie laufen und leiten daraus interessante Erkenntnisse ab. Wir haben uns die Studie „Running to get lost“ angeschaut und wissen nun, wann Laufen zur Selbstentfaltung führt und wann zur Selbstunterdrückung.

Die Frontsängerin von Against Me! und Läuferin Laura Jane Grace singt in Hoka, Hoka – One, One (2024):

Everyday I wake up and I run, run, run (Täglich wache ich auf und laufe, laufe, laufe)

Everyday I wake up and there is more to run from (Täglich wache ich auf und es gibt mehr, vor dem man davonlaufen kann)

Eyeryone I ever loved has something they are running from (Jeden/jede, die/den ich je liebte hat etwas, vor dem er/sie davonläuft)

Grace Haltung zum Laufen wirkt in ihrem Song zwanghaft, fast schon eskapistisch, als würde sie laufen, um etwas zu entfliehen. In einem Runner’s World-Interview widerlegt die trans* Frau diese These. Sie schätze vor allem das inklusive Gruppenerlebnis, für das sie sogar einen Laufclub gründete. Und dennoch adressiert sie mit ihren Zeilen ein Gefühl, dass viele Läufer und Läuferinnen kennen: Den Drang laufen zu müssen, um einen Ausgleich zum Alltagsstress zu schaffen oder schlechten Gefühlen davonzulaufen.

Alle Fotos: Salomon

Diese Methode, das Laufen ein wenig zu instrumentalisieren, zeigt sich in anderen, uns bekannten, Ausprägungen: Meldest du dich zum Beispiel nicht auch deswegen zu Trail-Wettkämpfen an, um einen Kontrast zu Alltagsroutinen zu schaffen? Bevorzugst du nicht auch mal einen Long Run vor einem Familientreffen? Wenn ja, dann sind wir mitten im Spektrum eines Themas, zu dem Wissenschaftler eine Forschungsarbeit publiziert haben: Wenn das Laufen als Abkehr vom Alltag genutzt wird, also als eskapistische Maßnahme.

Dann, so der Initiator der Studie, Frode Stenseng (Professor an der Universität Trondheim in Norwegen), dient Laufen nicht mehr der Selbstentfaltung, sondern kann zur Selbstunterdrückung führen. Zweiteres wollen wir, die das Laufen lieben, natürlich vermeiden. Daher haben wir uns lernwillig die Studie zur Hand genommen. „Running to get ‚lost‘?“ heißt der entsprechende Fachartikel in Frontiers in Psychology (2023).

Die zentrale Frage lautet: Aus welcher Motivation heraus laufen wir? Stenseng befragte 227 Freizeitläufer, die rund fünf Stunden die Woche joggen, zu ihrer Motivation zum Laufen. Eskapismus, also die Alltagsflucht, stand dabei im Mittelpunkt der Betrachtung.

Eskapismus ist per se nichts Schlechtes

Eskapismus ist eine Aktivität, die hilft, langweilige oder belastende Dinge zu vermeiden oder zu vergessen. Die Belohnung kann der uns Laufenden bekannte Flow sein, ein Zustand intensiver Konzentration, ein Gefühl der Beherrschung und Freude. Er entlastet von schlechten Gedanken und Gefühlen, er unterbricht unser Grübeln. Das ist es, was wir vom Trailrunning kennen und lieben, oder? Eskapismus ist per se nichts Schlechtes.

Viele Menschen entwickeln jedoch ein pathologisches Interesse am Laufen. „Etwa jeder vierte Freizeitläufer und 40 Prozent der Wettkampfläufer zeigen Anzeichen einer Sportsucht“, so Frontiers in Psychology. Daraus ergibt sich die Frage: Wovor laufen sie weg? Eine Frage, die sich Alles laufbar-Autor Daniel Arnold im gleichnamigen Artikel gestellt hat. Und, die für die Studie von Stenseng im Mittelpunkt stehende Frage: Flüchten sie auf die Sonnenseite des Lebens oder verrennen sie sich auf die Schattenseite?

Alle Fotos: Salomon

Es gibt zwei Arten von Eskapismus

Stenseng stellt in seiner Studie heraus, dass es den fürs Wohlbefinden förderlichen Eskapismus gibt und den das Wohlbefinden bedrohenden. Um welche Art von Eskapismus es sich bei unserer Motivation zum Schnüren unserer Trailrunningschuhe handelt, ist einfach mit den folgenden Fragen zu ermitteln:

Verschafft dir das Laufen positive Erfahrungen? Dann handelt es sich um adaptiven Eskapismus, dieser dient der Selbstentfaltung und stellt die Sonnenseite des Laufeskapismus dar. Das ist selbst dann der Fall, wenn wir zunächst keine Lust aufs Laufen verspüren, währenddessen aber Freude empfinden können.

Soll das Laufen negative Gefühle vertreiben? Dann sprechen die Forschenden von maladaptivem Eskapismus, der zur Selbstunterdrückung führt. Das Problem: Die Unterdrückung negativer Emotionen durchs Laufen dämpft auch positive Emotionen, sodass das Laufen gar nicht den Effekt, die Steigerung des Wohlbefindens, in gewünschter Intensität bewirken kann. Ein Teufelskreislauf wird in Gang gesetzt, genau wie bei Sportsucht. Die Laufenden befinden sich in einem ständigen Zustand der Flucht. Die Lebenszufriedenheit sinkt. In Beispielen gesprochen: Wenn wir laufen, um Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen, Konflikte zu verdrängen oder die Erschöpfung nutzen, um schlechte Gefühle zu betäuben, dann lässt sich unsere Laufmotivation unter die zweite Kategorie subsumieren.

Wir lernen: Vor Problemen wegzulaufen funktioniert leider nie, sondern schafft neue Unzulänglichkeiten. Das weiß auch Laura Jane Grace, die übrigens am liebsten die Schuhmarke Hoka One One trägt. Wer hätte es bei der Auswahl ihres Songtitels gedacht?! Der Markenname kommt von der gleichlautenden Phrase aus der Maori-Sprache, die so viel wie über die Erde schweben oder fliegen bedeutet. Ersetzt man bei Letzterem das g durch ein h wären wir wieder beim Thema: Fliehen und Laufen – zwei Verben, die nicht nur semantisch nahe beieinander liegen.

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