„Wovor läufst du eigentlich weg?“

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Ist Laufen Therapie? In einer Zeit, in der die schlechten und bedrückenden Nachrichten auf uns herab prasseln wie ein Hagelschauer, nimmt sich unser Autor ganz bewusst seine Auszeiten. Lauf-Auszeiten! Aber ist die laufende Selbst-Therapie auch nachhaltig?

Der Lauf des Lebens ist vielschichtig und die Abzweigungen können in vielerlei Richtungen führen. Er ist aber in erster Linie eines: Ein Lauf. Und mit dem Laufen kenne ich mich aus. Kein Wunder, dass ich es liebe mich Alltagssituationen zu entziehen und eigenbrötlerisch meine Laufrunden zu drehen. »Wovor läufst du eigentlich weg?« erscheint vielen als die dümmste aller Fragen. Vielleicht ist sie aber auch die klügste.

Anlässe. Wir nehmen sie, wie sie kommen. Oft feierlich. Manchmal traurig. Ab und an außergewöhnlich. Und derzeit gibt es verdammt viele Anlässe. Und die meisten davon treiben mich raus. In den Wald. Neudeutsch nennen wir es Eskapismus. Ich nenne es Auszeit. Auszeit von schlechten Nachrichten und Krieg. Von Stress und Kummer. Und manchmal auch von den eigenen vier Wänden. Spätestens seit der Corona Pandemie wissen wir sie alle zu schätzen, unsere Auszeiten. In Zeiten von Ausgangssperren und einer Vielzahl von mal mehr, mal weniger nachvollziehbaren Auflagen, haben wir sie alle gebraucht.

Nun fühlt es sich so an als hätte der Zahn der Zeit besonders flott genagt. Die Unsicherheit von Generationen bricht nun gleichermaßen und großflächig über uns hinein. Ich selbst verliere den Biss. Klimakatastrophen rechts. Krieg und Eskalation links. Und in der Mitte wird in erschreckender Beständigkeit irgendein Rechtspopulist in ein Staatsamt gehoben. Da lasse ich sie mir nicht nehmen. Meine Auszeit.

© UTMB

Oft wird das Laufen als eine Art Therapie beschrieben. Ich verstehe den Vergleich. Es ist sehr einladend. Während des Laufens lerne ich mich selbst auf eine Art und Weise kennen, wie ich es sonst selten tue. Ich verbringe viele Stunden allein mit mir und dem Kreiseln meiner Gedanken. Nirgends erlebe ich mich so stark und doch auch so verwundbar wie bei einem langen Lauf. Das große Ich, das nahezu unverwüstlich Stunde um Stunde im Schein einer flackernden Stirnlampe durch den spätherbstlichen Wald rennt.  Und das kleine Ich, das nach intensiven Stunden auf verschlungenen Pfaden entblößt dar liegt. Nackt. Verwundbar. Sensibel. Meine Auszeit treibt mich nicht nur vom Alltag davon sondern auch hin zur mir selbst. Doch es gibt einen Haken bei dieser Form der Therapie. Ich bin auf mich allein gestellt.

Während bei einer gut begleiteten Therapie ein Fachmensch als Sparringspartner beiseite steht, stehe ich mit meinen düstersten Gedanken allein im Wald. In der realen Therapie hilft mir jemand diese Gedanken zu sortieren. Ängste und Fürchte zu rationalisieren und Perspektiven zu erweitern. Im Sparringskampf fühle ich mich nicht immer wohl. Aber meine Gefühle werden begleitet. Alleine im Wald muss ich meine Perspektive selbst erweitern. Es fühlt sich gut an, wenn das gelingt. Doch wie oft gelingt es tatsächlich? Wenn nur noch das kleine Ich am Rande des Weges steht, kann selbst das herbstlichste Rauschen des Laubs die gehässige Melodie des Gedankenkarussels nicht  mehr überspielen. »Wer denkt sich solche Melodien aus?« frage ich mich und komme zur Erkenntnis, dass ich selbst es bin, der das Karussell antreibt. Die Melodie entstammt der schlimmsten aller Spotify Listen. Meiner eigenen.

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Antreiben kann ich mich. Wenn ich eine Auszeit will, dann nehme ich sie mir. Selbst da, wo so wirklich gar kein Platz mehr dafür ist. Doch das teuflische Karussell bleibt nicht stehen. Wir begegnen unseren Dämonen im Alltag. Doch wir begegnen ihnen auch im Wald. So oft sich das Laufen als ein Akt der Freiheit anfühlt – und oft ist er auch genau das – so oft werden wir auch in unseren Auszeiten getrieben von unseren Dämonen. An die Kette gelegt und zum Gassi geführt. Die Verzweiflung, wenn wir während einer Krankheitspause einmal nicht Laufen können zeigt uns, wie eng unser Halsband sitzt. Meine eigenen Initialen sind herein graviert.

Wie selbstbestimmt kann unser Laufen sein, wenn uns unser Leben doch nahezu von Auszeit zu Auszeit treibt? Ja, Laufen ist Therapie. Aber keine gute, denn sie bekämpft nur die Symptome. Natürlich ist es sinnvoll nach einem Sturz die offenen Wunden zu säubern. Vielleicht sogar zu verbinden. Und dennoch werden wir darauf achten nicht an der selben Stelle wieder zu stürzen. Der Sturz ist in unserem Sport ein unausweichliches Risiko. Der Sturz ist der Dämon und wir sind sein Kettenhund. Es tut gut, sich manchmal führen zu lassen. Doch noch besser tut es manchmal auszubrechen und uns dem Dämon zu entreissen. In den Wald zu gehen, weil wir die Bewegung lieben. Nicht um zu fliehen.

" Wie selbstbestimmt kann unser Laufen sein, wenn uns unser Leben doch nahezu von Auszeit zu Auszeit treibt? Ja, Laufen ist Therapie. Aber keine gute, denn sie bekämpft nur die Symptome. "

Daniel Arnold

Die rhythmischen Schritte unserer Dämonen werden uns stets im Nacken sitzen. Ein dumpfes Trommeln, das im Forst genau so stumpf niedergeht wie in unseren finstersten Träumen. Aber sie dürfen nicht der alleinige Grund werden um in Bewegung zu kommen.

Es heißt das Laufen wappne uns für das Leben. Ich sehe es anders. Das Leben wappnet uns für das Laufen. Wer das Leben lebt, wird auch das Laufen lieben können. Doch wer dem Leben entflieht, der flieht einfach nur.

Ich freunde mich mit dem Leben an. Es ist gut.

Autor Daniel Arnold bei einer seiner Trail-Auszeiten © Hunsbückel Trail

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