Anaerobe Schwelle: Bergintervalle sind sinnlos

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Erst kürzlich sorgte unser Autor und Trainingsexperte Markus Brennauer für Aufsehen. „Trailrunner, ihr trainiert alle falsch“ postulierte er provokant in einem Artikel. Nun legt er nach. Seine These: Bergintervalle sind verschwendete Zeit!

Das gesamte Alles-Laufbar-Team sitzt in der Münchner Innenstadt in einem veganen Restaurant. Noch eine Woche bis Weihnachten, die Stimmung ist bestens. Es wird gegessen, getrunken – und natürlich lautstark diskutiert und gefachsimpelt.

  • „Welche Wettkämpfe läufst du nächstes Jahr?“
  • „Wer ist besser, Kilian Jornet oder Jim Walmsley?“
  • „Sollte man den UTMB boykottieren?“
  • „Was sind die effektivsten Trainingseinheiten?“
  • „Braucht man die Straße, um auf den Trails schnell zu sein?“
  • „Trinken wir noch ein Bier?“

 

Irgendwann kommen wir auf die deutschen Ultratrail-Meisterschaften zu sprechen – einige von uns wollen dort starten. Johannes, der Cheforganisator des Ultratrail Fränkische Schweiz (UTFS), der dieses Mal Gastgeber der Meisterschaften ist, sitzt auch mit am Tisch. Ich werfe mutig folgende Hypothese in den Raum: „Um auf den Trails erfolgreich zu sein, muss man keine Bergintervalle laufen.“

Kurzes Schweigen. Erstaunte Gesichter. Natürlich wissen alle, dass ich primär vom Bahn- und Straßenlauf komme. Benni blickt mich an und kontert sofort. Eine hitzige Diskussion entsteht. Jeder versucht, seinen Standpunkt zu verteidigen.

© Craft

Klar, meine Aussage war nicht ganz ernst gemeint – aber bewusst provokant. Ich wollte damit vor allem darauf hinweisen, dass ein kompletter Trailläufer alle Spielarten des Laufens beherrschen sollte. Und vor allem wollte ich unterstreichen, dass sich die anaerobe Schwelle am effektivsten in der Ebene trainieren lässt – und eben nicht am Berg. Diesen Standpunkt vertrete ich nach wie vor. Warum das so ist, möchte ich im Folgenden genauer erklären. Vorweg: Es gibt durchaus eine Existenzberechtigung für Bergintervalle im Training der anaeroben Schwelle – dazu später mehr.

Zunächst aber eine Anekdote:
Viele von euch kennen sicherlich Florian Bremm, den aktuellen deutschen 5.000-m-Meister, der bei der Hallen-EM im März über 3.000 Meter Siebter wurde. Flo gilt derzeit als eine der größten deutschen Hoffnungen auf den Distanzen zwischen 3.000 und 5.000 Metern. Er ist ein absoluter Verfechter des Schwellentrainings – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Kaum ein anderer deutscher Athlet arbeitet so akribisch und konsequent an seiner anaeroben Schwelle. Das zieht sich durch seinen gesamten Trainingsplan. In normalen Trainingswochen integriert er vier Einheiten zur Entwicklung der anaeroben Schwelle.Dabei orientiert er sich an der sogenannten „norwegischen Methode“, dem Double-Threshold-Training. Vormittags absolviert er klassischerweise 8–10 × 1.000 Meter etwas langsamer als sein Schwellentempo, mit kurzen Trabpausen von 60–80 Sekunden. Nachmittags folgen oft 20 × 400 Meter, diesmal etwas schneller als das Schwellentempo – ebenfalls mit kurzen Pausen.

Diese Intervalle knapp unter oder über der Schwelle gelten als besonders effektiv, wobei sich immer deutlicher zeigt: Knapp unterhalb der Schwelle zu trainieren bringt meist den größeren Nutzen.

" Und vor allem wollte ich unterstreichen, dass sich die anaerobe Schwelle am effektivsten in der Ebene trainieren lässt – und eben nicht am Berg. "

Damit Flo genau diesen Bereich trifft, achtet er auf zwei Dinge:

Erstens misst er bei jedem Intervalltraining regelmäßig seinen Laktatwert. Dazu sticht er sich mit einer Lanzette in den Finger und analysiert den Bluttropfen mit einem Laktatmessgerät. Optimal ist bei ihm ein Wert zwischen 2,0 und 2,5 mmol/l – ermittelt durch Labortests. Natürlich wurde dabei auch die passende Laufgeschwindigkeit ermittelt. Dennoch stellt Flo den Laktatwert über das Tempo. Zeigt das Gerät z.B. 3,2 mmol/l an, reduziert er die Geschwindigkeit – ist der Wert zu niedrig, steigert er sie.Weil der Laktatwert stark von äußeren Faktoren wie Müdigkeit, Regeneration, Wetter, Höhenlage, Untergrund oder Ausrüstung beeinflusst wird, variieren die Tempi von Einheit zu Einheit.

Zweitens läuft Flo seine Schwellenintervalle ausschließlich im flachen Gelände. Warum, zeigt eine weitere Anekdote:

Beim Tübinger Erbelauf über 10 km im Herbst 2024 belegte Flo hinter Richard Ringer und Frederik Ruppert den dritten Platz. Der Kurs ist leicht wellig und enthält einige kurze, aber steile Anstiege – für einen Straßenlauf durchaus anspruchsvoll. An eben diesen Anstiegen drosselte Flo sein Tempo auffällig stark. Es heißt sogar, er sei stellenweise gegangen.Der Grund: Flo nutzte den Lauf als Schwellentraining – und wollte verhindern, dass seine Muskeln durch die Anstiege zu viel Laktat produzieren. Die anaerobe Schwelle sollte nicht überschritten werden. Deshalb läuft er im Training nur auf flachem Terrain, wo sich das Tempo und damit auch die Intensität exakt steuern lassen. Bergauf oder bergab kennt er seine Schwellenbereiche nicht – und könnte das optimale Laktatniveau daher nicht gezielt einhalten.

© Craft

Genau hier setzt meine eingangs erwähnte Hypothese an: Auf einer 400-m-Bahn, dem Laufband oder einer flachen Asphaltstraße bedeutet konstante Geschwindigkeit auch konstante Belastung. Auf dem Laufband stellt man das Tempo exakt ein, auf der Bahn kann man alle 100 Meter kontrollieren, und auf der Straße übernimmt die GPS-Uhr die Überwachung.

Im Gelände, bergauf, bergab oder bei wechselndem Untergrund wird es dagegen nahezu unmöglich, die Intensität präzise zu steuern. Deshalb bin ich überzeugt: Mit Bergintervallen lässt sich die anaerobe Schwelle nicht gezielt trainieren. Zu groß ist das Risiko, zu intensiv zu laufen – was laut aktueller Trainingsphilosophie weniger Nutzen bringt als ein minimal zu langsames Tempo. Das heißt aber nicht, dass Bergintervalle für Trailläufer nutzlos wären. Wer es schafft, bei Bergintervallen exakt die passende Intensität zu treffen, kann und sollte dieses Trainingsmittel nutzen. Doch dafür müsste man zunächst ermitteln, bei welcher Steigung welches Tempo der Schwellenintensität entspricht. Das hieße: Für jede Steigung ein Labortest – oder unzählige Laktatmessungen, um die passende Geschwindigkeit zu bestimmen.

" Mit Bergintervallen lässt sich die anaerobe Schwelle nicht gezielt trainieren. Zu groß ist das Risiko, zu intensiv zu laufen. "

Natürlich könnte man sagen: „Man kann Schwellenintervalle doch auch über den Puls steuern.“ Stimmt. Aber: Der Puls in der Ebene lässt sich nicht einfach auf Bergintervalle übertragen. Die muskuläre Belastung bergauf ist eine völlig andere. Das Herz-Kreislauf-System mag zwar mit ähnlicher Intensität arbeiten – die Oberschenkelmuskulatur jedoch könnte deutlich früher übersäuern.

Es gibt also nur eine praktikable Möglichkeit, Bergintervalle zur gezielten Schwellenverbesserung einzusetzen: das Laufband.

Hier kann man über die gesamte Dauer des Intervalls eine exakt definierte Steigung und Geschwindigkeit wählen. Ein Beispiel: Man führt einen Laktattest im Labor bei 10% Steigung durch und ermittelt die passende Geschwindigkeit für den optimalen Bereich (2,0–3,0 mmol/l). Anschließend kann man diese Einheiten regelmäßig auf dem Laufband durchführen.Wer einen gleichmäßig ansteigenden Asphaltweg mit genau 10% Steigung direkt vor der Haustür hat – Glückwunsch! Aber Hand aufs Herz: Solche Strecken sind rar, erst recht über mehrere Kilometer.

Wer also seine anaerobe Schwelle gezielt verbessern will, sollte – vor allem im Herbst und Winter – flache Intervalle laufen. Nur so ist eine exakte Steuerung der Belastung möglich.

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