Weil Laufen auch Kopfsache ist: So kann Mentales Training im Trailrunning helfen

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„Laufen geschieht zu 50 % mit den Beinen und zu 50 % im Kopf”. Wer schon einmal bei einem Wettkampf an der Startlinie stand, weiß, in der leicht daher gesprochenen Floskel steckt eine gehörige Portion Wahrheit. Unser Autor hat den Workshop ,Mentales Training im Trailrunning‘ besucht. Dort hat er gelernt, welchen konkreten Nutzen die Sportpsychologie für jeden Trailrunner unabhängig vom Leistungsniveau haben kann. Welche das sind, lest ihr hier.

Ich stehe im Wald, irgendwo in der Nähe von Pommelsbrunn in der Fränkischen Schweiz. Weit und breit kein anderer Läufer. Nur Bäume, ein paar Felsen und ein Weg, der keiner mehr ist. „Wie dumm kann man eigentlich sein!“, schimpfe ich leise vor mich hin. Ich lag gut im Rennen, doch irgendwie habe ich wohl eine Abzweigung verpasst und bin statt dem Trail einem Wildwechsel gefolgt. Ärger kommt in mir hoch. „Ich lauf eh schon am Limit, der Oberschenkel macht gleich zu und jetzt muss ich noch mehr Strecke machen“, schießt es mir durch den Kopf. „Das kostet Zeit und Kraft, die ich nicht habe. Das gute Ergebnis kann ich mir abschminken.“ Mit mir hadernd drehe ich um und suche den richtigen Weg.

Graupelschauer beim UTFS. Schlechtes Wetter kann einen vor große psychische Herausforderungen stellen. Alle Fotos vom UTFS: UTFS / Gerhard Illig

In solchen Situationen nicht aufzugeben, Rückschläge wegstecken und mit Schwierigkeiten umgehen zu können, das erfordert Stärke, mentale Stärke. Nicht umsonst heißt es, dass (Ultra-)Trailrunning zu einem Großteil Kopfsache ist. In dieser plakativen Aussage steckt viel Wahrheit, bestätigt Raphael Rakut. Der Psychologe und angehende Sportwissenschaftler leitet im Rahmen der Serie „UTFS Wissen“ den zweiteiligen Workshop „Mentales Training im Trailrunning“. 20 Teilnehmende aller Alters- und Leistungsstufen sind der Einladung von LOWA und den Organisatoren des Ultratrail Fränkische Schweiz gefolgt.

In den Räumen der Sportpraxis Erlangen lauschen die Frauen und Männer seinen Ausführungen zum Thema Sportpsychologie und mentales Training. Wie groß der Anteil der Psyche ist, da will er sich zwar nicht exakt festlegen. Aber dass die Psyche einen Einfluss auf die Performance hat, dass sich durch mentale Stärke ein Mehr an Leistung generieren lassen, das belegen diverse Studien. Das Gute an der Sache ist: Seine psychischen Fertigkeiten kann jeder verbessern. Mentales Training lautet das Zauberwort.

UTFS-Veranstalter Johannes Hendel neben Raphael Rakut beim „UTFS Wissen“-Workshop. Foto: Isabella Fischer

„Ursprünglich wurde mentales Training sehr eng definiert“, erklärt Rakut. „Es ging hauptsächlich um das, was man heutzutage als Visualisierung bezeichnet. Man stellt sich eine Bewegung vor seinem inneren, geistigen Auge vor, ohne diese tatsächlich auszuführen. Wird dies immer wieder wiederholt, führt das zu einer Aktivierung der an der tatsächlichen Bewegung beteiligten Nerven und Muskeln.“ Bewegungsabläufe sollten so optimiert und das physische Training ergänzt werden. Mittlerweile hat sich das Verständnis, was mentales Training ist, allerdings deutlich erweitert.

„Heute verfolgt man einen breiteren Ansatz. Es geht jetzt um die systematische Entwicklung und Verbesserung der psychologischen Fähigkeiten, die hilfreich bei der Bewältigung von konkreten Herausforderungen im Training, Wettkampf oder Alltag sind. Wie aktiviere ich mich vor dem Lauf? Welche Vorstartroutinen helfen mir? Wie spreche ich im Rennen mit mir? Wie gehe ich mit verschiedenen Emotionen um? Alles das gehört nun mit dazu.“

Die eigene Performance zu optimieren, durch mentale Strategien ein paar mehr Prozent körperlicher Leistung erreichen zu können, das sei laut Raphael Rakut das Ziel. Es klingt verlockend: Das eigene Potential besser abrufen können, ohne dafür körperlich mehr trainieren zu müssen. Allerdings habe die Sportpsychologie, zu der das Thema mentale Stärke gehört, natürlich auch ihre Schranken. Sie alleine kann keine Berge versetzen. Wer ohne die körperlichen Voraussetzungen (d.h. ausreichende Kraft, Ausdauer und dergleichen) einen Ultratrail-Marathon bestreiten will, den wird mentale Stärke alleine auch nicht unbeschadet über die Ziellinie tragen. Körperliche Fitness und mentale Stärke ergänzen und verstärken sich aber sehr wohl gegenseitig. Andererseits lässt sich die persönliche Belastbarkeit auch mit psychologischen Techniken nicht ins Unendliche steigern. Und das ist gut so.

„Wer kontinuierlich die Signale seines Körper ignoriert, der riskiert einen Zusammenbruch und möglicherweise sogar ernste physische Schäden“, warnt Rakut, der selbst erfolgreicher Trailrunner ist. Zu guter Letzt sei das fehl am Platz, was der Experte als „Feuerwehrmentalität“ bezeichnet: Der Glaube, mit ein paar Tricks und Kniffen noch schnell vor einem wichtigen Rennen mal eben so das nächste sportliche Level erreichen oder ein Problem aus dem Weg räumen zu können. „Wie der Begriff Training schon verrät, ist mentales Training ein längerfristiger und systematisch-strukturierter Prozess. Die Inhalte und Techniken müssen eingeübt und in das normale Training eingebaut werden. Nur dann kann diese Hilfe zur Selbsthilfe zuverlässig funktionieren.“

Gruppenaufgabe beim Workshop "Mentales Training im Trailrunning".

Zur Verdeutlichung, was mentales Training konkret heißt, greift Raphael Rakut drei eigentlich banale Dinge heraus. Das eine ist die Frage, welche Art von Zielen man sich setzt. „Grundsätzlich kann man zwischen Ergebnis-, Leistungs- und Prozesszielen unterscheiden.“ Bei der ersteren Kategorie soll ein bestimmtes Ergebnis realisiert werden. Als Perspektivziel (á la „Mein Lauftraum ist es, einmal am UTMB teilzunehmen!“) können solche Orientierungspunkte motivieren und Sinn machen. Misst man die eigene Leistung jedoch Wettkampf für Wettkampf primär an externen Faktoren („Ich will besser sein als X / im Rennen Y unbedingt einen Podestplatz erreichen!“), wird daraus schnell ein Problem.

Natürlich kann es motivierten, besser als Kontrahent X abschneiden oder unbedingt aufs Podium laufen zu wollen. Allerdings werden Ergebnisziele leicht verfehlt, was zu Frustration führen und demotivierend sein kann. Nicht zuletzt, weil man den Erfolg oft nicht in der eigenen Hand hat. Wenn der Konkurrent einfach gerade leistungsfähiger ist, bleibt das gesteckte Ziel trotz persönlicher Bestleistung unerreichbar. Besser ist es, sich sog. Leistungs- oder Prozessziele zu setzen. Setze ich mir ein bestimmtes körperliches/ technisches/ taktisches Ziel für ein Rennen („Ich will versuchen, ohne Einbruch konstant durchzulaufen / schneller sein als im letzten Jahr!“), so bin ich einerseits deutlich weniger abhängig von externen Faktoren. Andererseits vergleiche ich nur meine persönlichen Leistungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten („Im letzten Wettkampf bin ich gegen Ende eingebrochen, diesmal aber nicht / war ich eine halbe Stunde langsamer als heute.“).

Durch Leistungsziele kann man motivierende Zwischenziele schaffen und die eigene Performance weiterentwickeln. Prozessziele wiederum setzen den Schwerpunkt auf bestimmte Handlungen („Beim nächsten Rennen will ich mich optimal verpflegen und besser auf meinen Salzhaushalt achten / es schaffen, die Stöcke effizienter einzusetzen!“). So sorgen sie für eine besondere Fokussierung und lenken die Konzentration auf einen ganz bestimmten Teilaspekt der eigenen Leistung.

" Man sollte sich vorher bewusst machen, wie ich mit mir sprechen will. Hilft mir das, was ich mir sage? Oder sollte ich besser etwas daran ändern, damit ich mich selbst positiv unterstützen und negative Gedanken in den Griff bekommen kann? "

Raphael Rakut

„Die persönlichen Ziele und den Weg dorthin sollte man visualisieren“, rät der Psychologe und Sportwissenschaftler. Etwa in Form einer Art Wanderkarte oder eines Routenplans. „So sehe ich, wo ich hin möchte und verliere mein Ziel selbst dann nicht aus den Augen, wenn mal eine Schlucht bzw. ein Rückschlag den Weg erschwert.“ Solche Visualisierungen haben noch weitere Vorteile. Erstens lassen sich damit gut Zwischenziele definieren. Zweitens werden die Dinge greifbarer und verbindlicher. Und drittens lassen sich auf diese Weise auch mögliche Hindernisse antizipieren und – fast noch wichtiger – bereits präventiv mögliche Reaktionen oder alternative Handlungsszenarien entwerfen.

Mit der richtigen Zielsetzung geht die persönliche Kompetenzerwartung als ein weiterer wichtiger Aspekt einher. „Dabei geht es um Themen wie Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen“, erläutert Rakut. Was bin ich zu leisten im Stande? Schaffe ich den Ultratrail, den ich mir vorgenommen habe, oder ist das eine ganze Nummer zu groß für mich? „Der erste Schritt muss hier sein, sich seine Stärken und Schwächen ehrlich bewusst zu machen. Auf Grundlage dessen erfolgt die Auswahl eines realistisch erreichbaren Ziels. Der nächste entscheidende Schritt wäre dann, sich selbst den Erfolg auch zuzutrauen. Darauf zu vertrauen, dass es für mich machbar ist, und mir das – vor allem in schwierigen Phasen – immer wieder bewusst zu machen – Stichwort: Selbstgesprächsregulation.“

Diese mentale Strategie spielt nicht zuletzt für Individualsportler, wie es (Trail-)Läufer sind, eine besondere Rolle. Insbesondere bei längeren und einsamen Rennen fängt irgendwann die innere Stimme an zu sprechen. Dieser stumme Dialog lässt sich kaum vermeiden und ist per se kein Problem. Entscheidend ist vielmehr, wie er abläuft. Konstruktiv oder destruktiv? „Man sollte sich vorher bewusst machen, wie ich mit mir sprechen will. Hilft mir das, was ich mir sage? Oder sollte ich besser etwas daran ändern, damit ich mich selbst positiv unterstützen und negative Gedanken in den Griff bekommen kann?“

Arbeitsblätter, Arbeitsblätter, Arbeitsblätter. Im Vordergrund: Isa Fischer von Alles Laufbar.

Mittlerweile habe ich den Trail wiedergefunden und ein Gel gegessen. Langsam laufe ich weiter. Was soll ich auch machen, aus dem Wald muss ich schließlich auf jeden Fall wieder heraus. „I can be unstoppable, gonna walk through hell, gonna shake the walls, surviving the game …“ Plötzlich merke ich, dass ich vor mich hin singe. Wo kommt das denn her? Den Song höre ich in letzter Zeit sehr oft, auch während der Anfahrt lief es laut im Auto. Der Text geht mir immer wieder durch den Kopf. Er lenkt mich von meinem Frust ab, die Musik pusht mich und dann mache ich etwas, das ich so nicht von mir erwartet hätte. Ich sage laut zu mir selbst: „Das bringst du zu Ende! Laufend und mit Anstand!“

Und tatsächlich: Während in meinem Kopf das Lied in Dauerschleife läuft, geht es Meter für Meter besser. Ich finde meinen Rhythmus und vor allem meinen Ehrgeiz wieder, nehme soweit es geht Tempo auf. Eine anstrengende Stunde später habe ich es tatsächlich geschafft: Ich laufe (!) beim legendären Pommel2K mit Anstand (!) über die Ziellinie. Völlig fertig, aber um einige wertvolle Erfahrungen reicher. Dass der Kopf eine zentrale Rolle beim (Ultratrail-)Laufen spielt, habe ich an diesem Tag am eigenen Körper erfahren. Dass die mentalen Fertigkeiten ebenso trainiert werden müssen wie die körperlichen, hat der Workshop verdeutlicht. Vielleicht singe ich ab sofort bei jedem Rennen…

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