Sind Frauen die besseren Ultraläufer? Der Gender Performance Gap im Ultrarunning

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Sind Frauen die besseren Ultraläufer? Immer wieder hört man die Theorie, dass je länger eine Strecke ist, desto größer seien die Vorteile des weiblichen Körpers. Das stimmt nicht, behauptet unsere Autorin. Sie belegt, dass es den Gender Performance Gap auch im Ultrarunning gibt. Nur wer das akzeptiere, könne die Leistungen von Frauen in unserem Sport wirklich wertschätzen.

Gleich zweimal haben in den letzten 12 Monaten Frauen im Ultratrailrunning Furore gemacht:

Courtney Dauwalter schaffte im vergangenen Jahr als erste Frau das „Triple“ aus Western States, Hardrock 100 und UTMB. Diese drei anspruchsvollen, hochkarätig besetzten und sehr unterschiedlichen 100-Meilen-Rennen absolvierte sie innerhalb von gut zwei Monaten. Und sie war nicht nur die erste Frau, sondern auch der erste Mensch überhaupt, dem dieses Kunststück gelang. Doch damit nicht genug: Jedes dieser Rennen gewann sie. Beim Western States brach sie den legendären Streckenrekord von Ellie Greenwood, und beim Hardrock 100 übertraf sie ihren eigenen Rekord. Zudem verbesserte sie im Vorbeigehen den Rekord für das ‚Double‘ aus Western States und Hardrock um über eine Stunde, den bisher Jeff Browning gehalten hatte.

Courtney Dauwalter setzt regelmäßig neue Maßstäbe im Ultralaufen für Frauen. Foto: Salomon

Und dann sahen wir im März dieses Jahres, wie Jasmin Paris etwas vollbrachte, das kaum jemand einer Frau zugetraut hätte: Sie finishte die legendären Barkley Marathons. Dieses Rennen ist bekannt für die weltweit wohl höchste DNF-Rate. Sein Erfinder, Gary ‚Lazarus Lake‘ Cantrell, gestaltet nämlich die Strecke und die Bedingungen dieses Rennens so, dass es gerade noch machbar ist – allerdings nur für die physisch wie mental fittesten Läufer bei perfekten äußeren Bedingungen. Diese imaginäre Schwelle schien jedoch auf Männer ausgerichtet zu sein. Viele Frauen haben in den letzten Jahrzehnten versucht, den Barkley zu finishen – doch keine hat es geschafft, mehr als drei der fünf Runden zu beenden. Doch nun hat uns Jasmin Paris eines Besseren belehrt: Auch eine Frau kann den Barkley erfolgreich absolvieren.

Ist für Frauen also alles möglich?

(Un)sichtbare Heldinnen

Immer wieder, wenn eine Frau auf langen Distanzen Unerwartetes leistet, entstehen sofort Spekulationen: Könnten Frauen im Ultrarunning den Männern überlegen sein? Die physiologischen und biochemischen Nachteile, die bei Distanzen vom 100-Meter-Sprint bis zum Marathon zu einem Gender Performance Gap von 9,3 bis 12,3 % führen, könnten bei den extrem langen Distanzen plötzlich zu Vorteilen werden. Gerne wird spekuliert, dass mit zunehmender Länge der Distanz die physische Leistung im Vergleich zu mentalen Eigenschaften an Bedeutung verliert. Tatsächlich postulierten Wissenschaftler um Tim Noakes 1997 anhand von Bestzeiten und Trainingsdaten von 28 Frauen und 103 Männern, dass Frauen bei gleichem Training ab einer Renndistanz von etwa 70 km mindestens genauso schnell wie Männer sein könnten.

Die Realität widerlegt jedoch diese Vorhersage. Ein Blick auf die Weltbestzeiten für Ultra-Distanzen sowie 6-, 12-, 24-, 48- und 144-Stunden-Rennen zeigt, dass der Gender Performance Gap auf Ultramarathondistanzen nicht sinkt, sondern tendenziell sogar höher ist als bei kürzeren Distanzen. Gleichzeitig ist die Schwankungsbreite deutlich größer.

Weltrekorde für unterschiedliche Laufdistanzen

Im Trailrunning gibt es keine Weltrekorde, da die Leistungen aufgrund unterschiedlicher Steigung und unterschiedlichen Geläufs kaum vergleichbar sind. Um dennoch verschiedene Strecken vergleichbar zu machen, hat die ITRA den Race Score und den personenbezogenen Performance Index entwickelt.

Dieser Performance Index wird für verschiedene Streckenkategorien – Halbmarathon, Marathon, 50 km, 100 km, 100 Meilen und Endurance (alles über 100 Meilen) – berechnet. Dadurch kann man analysieren, ob Frauen abseits der Straßen und Stadien sowie auf längeren Strecken ihre physiologischen und biochemischen Nachteile in Vorteile umwandeln können. Das Ergebnis deutet jedoch nicht darauf hin. Zwar schwankt der Gender Performance Gap im Trailrunning stärker als auf den Kurzstrecken der Leichtathletik. Es gibt jedoch keine eindeutige Tendenz, dass dieser Gender Performance Gap mit zunehmender Streckenlänge abnimmt – weder für die Athletin und den Athleten mit dem höchsten Performance Index noch für die besten 1 % der AthletInnen.

Bester ITRA Performance Index für unterschiedliche Streckenkategorien

Geringster ITRA Performance Index der 1% besten Läufer/Läuferinnen

Die starke Schwankung der Werte lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass das Ultra(trail)running eine vergleichsweise junge Sportart ist, in der die Bestleistungen noch stark im Wandel begriffen sind. Eine Forschungsgruppe der ETH Zürich unter der Leitung von Beat Knechtle und Christoph Alexander Rüst hat die Entwicklung der Leistungen von Männern und Frauen in verschiedenen Ultrarunning-Disziplinen zwischen 1975 und 2013 untersucht. Sie stellten fest, dass der Gender Performance Gap bei Spitzenleistungen – also bei den RekordhalterInnen sowie den besten 10 oder 100 LäuferInnen – im Laufe der Zeit zwar abgenommen hat. Dennoch halten sie es anhand ihrer Analyse für unwahrscheinlich, dass Frauen bei langen Ultramarathons schneller werden können als Männer.

Warum erreichen Frauen dann gerade in den Ultradistanzen absolute Spitzenleistungen, gewinnen Gesamtsiege oder brechen Streckenrekorde?

 

" Wenn man annimmt, dass der Gender Performance Gap auf Ultradistanzen nicht existiert, verkennt man die Realität und die Herausforderungen, denen Spitzenläuferinnen gegenüberstehen. "

Sabine Heiland

Dies dürfte nicht so sehr auf physiologische, biochemische oder psychologische Faktoren zurückzuführen sein, sondern eher auf statistische Gegebenheiten: Bei großen Stadtmarathons wie dem New York City Marathon oder dem Boston Marathon gibt es bei beiden Geschlechtern ein breites Feld von Elite-Läufern, was dazu führt, dass sowohl von Männern als auch Frauen Spitzenleistungen erbracht werden. Im Vergleich dazu ist die Teilnehmerzahl bei Ultramarathons deutlich geringer, und es gibt weniger Elite-Athleten. Die Spitzenpositionen sind daher weniger hart umkämpft. In einem kleineren Teilnehmerfeld ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass eine außergewöhnliche Leistung stärker herausragt, sei es die eines Mannes oder eben die einer Frau.

Die Norwegerin Line Caliskaner hat den 100 Meilen langen Mauerweglauf 2023 als Gesamterste gewonnen. Foto: LG Mauerweg Berlin e.V.

Fehlannahmen werten die Leistung von Frauen ab

Wenn ich darauf hinweise, dass die Zahlen nicht hergeben, dass Frauen per se die besseren Ultrarunner sind, dann ernte ich oft den Einwand: Damit wertest Du diese exzellenten Leistungen der Frauen ab.

Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall.

Ich bin der Ansicht, dass die Leistungen von Frauen viel eher abgewertet werden, wenn wir so tun, als existiere kein Gender Performance Gap im Ultrarunning. Dadurch verschieben wir quasi die Schwelle, ab der die Leistung einer Läuferin Beachtung findet – und zwar nach oben. Auf diese Weise schmälern wir die Leistung von Frauen, die zwar herausragende Leistungen erbringen, aber nicht den Gesamtsieg erringen – was bei weit über 90% aller Rennen nun einmal der Normalfall ist: Im vergangenen Jahr gab es national wie international lediglich zwei prominente Rennen, bei denen einer Frau der Gesamtsieg gelang: Ashley Paulsons Triumph beim Badwater Ultramarathon und Line Caliskaners Sieg beim Berliner Mauerweglauf.

Und noch ein zweiter Punkt verdient Beachtung: Wenn man annimmt, dass der Gender Performance Gap auf Ultradistanzen nicht existiert, verkennt man die Realität und die Herausforderungen, denen Spitzenläuferinnen gegenüberstehen. Fast alle Trail- und Ultrarunning-Veranstaltungen sind gemischte Rennen. Aufgrund des Leistungsunterschieds wird die Spitze des Frauenrennens oft vom Vorderfeld der Männer ‚geschluckt‘. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, können Fehlentscheidungen entstehen, wie 2022 beim UTMB.

Kurz vor dem Rennen kündigten die Organisatoren an, dass in den Verpflegungsstationen die 10 bestplatzierten Männer und die 5 bestplatzierten Frauen einen separaten Bereich erhalten würden, um möglichst ungestört zu sein. Die Veranstalter argumentierten, dass das Frauenfeld weiter auseinandergezogen sei und nicht die gleiche Leistungsdichte aufweise wie das Männerfeld. Dabei übersahen sie jedoch, dass die Top Frauen zu einem Zeitpunkt die Verpflegungsstationen erreichen, zu dem dort bereits die erweiterte Spitze der Männer anwesend ist, während die Top Männer in menschenleere Stationen einlaufen. Gerade für die Läuferinnen wäre ein separater Verpflegungsbereich wichtig, um vergleichbare Bedingungen wie die Männer vorzufinden. Erst nach lautstarkem Protest der Athletinnen lenkten die Organisatoren ein und ermöglichten sowohl den Top 10 der Männern als auch den Top 10 der Frauen den Zugang zu den separaten Bereichen.

Das Wissen um den Gender Performance Gap kann also nicht nur dazu führen, dass Leistungen von Frauen noch mehr Wertschätzung erfahren, sondern auch, dass die Voraussetzungen für ebenjene Leistungen erst geschaffen werden.

Das Dilemma der Sichtbarkeit

Ein oft übersehener Aspekt ist der Einfluss des Gender Performance Gaps auf die Sichtbarkeit der Spitzenläuferinnen bei Rennen. Live-Übertragungen konzentrieren sich auf die Führungsgruppe, die in gemischten Rennen meist von Männern dominiert wird. Dadurch gehen herausragende Leistungen von Frauen oder spannende Zweikämpfe häufig unter, da sie im vorderen Mittelfeld der Männer kaum Beachtung finden. Dies führt dazu, dass Spitzenläuferinnen weniger im Rampenlicht stehen, was ihre Sichtbarkeit und die Anerkennung ihrer Leistungen beeinträchtigt.

So sehr auch die Fokussierung auf die vermeintliche Überlegenheit der Frauen auf den Ultradistanzen ein Fluch sein kann, so kann sie – vor allem wenn es um die Mainstream-Medien geht – auch zum Segen werden. Die großen Tageszeitungen und Fernsehsender werden nur dann auf Trail- und Ultrarunning aufmerksam, wenn es von außergewöhnlichen, sensationellen Leistungen zu berichten gilt. Als Pam Reed 2002 und 2003 den Gesamtsieg beim Badwater Ultramarathon errang, wurde sie zur Late Night Show von David Letterman eingeladen. Jasmin Paris fand sich 2019 im Frühstücksfernsehen der BBC wieder, als sie beim Spine Race den Gesamt-Streckenrekord um 10 Stunden unterbot, und die Times berichtete mit der Schlagzeile Breastfeeding mother Jasmin Paris knocks hours off record time for 268-mile hill race. Auch nach ihrem Barkley Finish in diesem Jahr konnte sich Jasmin Paris kaum retten vor Interviewanfragen von BBC und Co. Und Courtney Dauwalter? Sie schaffte es schon mehrfach in die New York Times – sei es nach ihren außerordentlichen Leistungen beim Moab 240 und beim Lake Tahoe 200 oder in diesem Jahr nach ihren Streckenrekorden beim Western States und Hardrock.

Ja, Frauen müssen im Trail- und Ultrarunning außergewöhnliche, fast übermenschliche Leistungen erbringen, um von den Mainstream-Medien wahrgenommen zu werden. Doch das Positive daran ist: Die Bedingungen im Ultrarunning bieten Athletinnen immer wieder die Chance, solch unglaubliche Leistungen zu vollbringen, dass sie auch außerhalb der Ultrarunning-Community Beachtung finden und für Frauen zur Inspiration, Motivation und Empowerment werden können: Alles ist möglich!

Dieser Artikel entstand in Kooperation mit TrailrunningHD, wo er ebenfalls veröffentlich wurde.

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