Trailrunning ist Denksport: Was bei einem schwierigen Downhill im Gehirn geschieht

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Ein technischer Downhill wird nicht nur mit den Beinen und Muskeln gelaufen, sondern auch mit dem Kopf. Je komplexer das Terrain, desto höher die Gehirnaktivität. Welche Prozesse spielen sich im Gehirn ab? Ist Laufen mehr Denksport, als wir dachten?

Den letzten Downhill meines ersten Ultras werde ich nicht vergessen: den Jägersteig am Fuß der Zugspitze. Verblockt, rutschig, gespickt mit Stufen und Bohlen, eine Bachquerung. Der Zugspitz Supertrail XL ist fast geschafft, der Bach ist gut gefüllt an diesem niederschlagsreichen Tag. Jetzt nicht noch hinfallen. Ich tapse also den Jägersteig hinab auf müden Anfängerbeinen, da überholen mich die Spitzenläufer des längeren Zugspitz Ultratrail, die sich auf den letzten Kilometern noch ein hartes Rennen liefern. Nach fast hundert Kilometern fliegen sie vorbei, grüßen noch freundlich.

Das gibts doch nicht. Wie machen die das?

Heute, neun Jahre später, verwundert es mich immer noch. Wie können manche Läufer*innen schwierige Steige hinunterspringen wie Gämsen, während andere nur schleichen? »Wie eine schwangere Kuh« beschrieb einmal ein Freund seine eigene Downhill-Performance bei einem gemeinsamen Lauf. Er läuft Marathon in 2:45, wenn er eine Straße oder einen Forstweg runterrennt, geht die Pace unter drei Minuten pro Kilometer. Aber wenn es holprig wird, ist er noch langsamer als ich.

Maude Mathys in einem stufigen Downhill beim Kobe Trail im Rahmen der Golden Trail Series. Foto: Colin Olivero

Es sind nicht die Beine, nicht die Sprunggelenke, nicht die Mitochondrien – keiner der üblichen Leistungsparameter. Es ist der Kopf. Wer Erfahrung im Downhill-Laufen hat und sich gelegentlich bewusst macht, was dabei in ihm vorgeht, kann erstaunliche Phänomene bemerken: zum Beispiel bei jedem Schritt einen Augenblick im Voraus zu spüren, wie sich das nächste Auftreten anfühlen wird. Das Gehirn kann das Gefühl ziemlich treffsicher antizipieren.

Es ist nicht einfach herauszufinden, was im Gehirn einer Läuferin oder eines Läufers vorgeht, wenn sie oder er einen Downhill runterbrettert. Neurowissenschaftliche Studien zur Gehirnaktivität brauchen viel Technik, oft werden den Versuchspersonen Elektroden mit zig Kabeln auf die Kopfhaut geklebt, manchmal liegen sie in einer MRT-Röhre. Beides verträgt sich nicht mit Traillaufen.

Dennoch gibt es Studien, die Hinweise auf die Gehirnaktivität von Menschen geben, während diese sich durch schwieriges Terrain bewegen. Eine davon haben Neurologen und Biomediziner der University of Florida vor ein paar Monaten veröffentlicht. Die Forscher haben extra ein Laufband mit holpriger Oberfläche gebaut. Sie konnten die Holprigkeit variieren.

Die Gehirnaktivität maßen die Forscher mit einem Verfahren namens »funktionale Nahinfrarotspektroskopie«, bei dem die Versuchspersonen eine Art Badekappe mit Elektroden tragen.

Die Versuchspersonen gingen nur auf diesem Traillaufband, sie rannten nicht. Ich glaube aber, das wichtigste Ergebnis dieser Studie lässt sich auch auf unseren Sport übertragen: je schwieriger das Terrain, desto aktiver wird der präfrontale Cortex. Dieses Areal direkt hinter der Stirn ist sozusagen das Prachtstück unter den menschlichen Gehirnregionen. Es spielt eine Schlüsselrolle in jenen neuronalen Prozessen, die uns Menschen auszeichnen: komplexe Sprache, abstraktes Denken, soziale Fähigkeiten

Nicht nur die Füße, sondern auch der Kopf entscheidet beim Downhilllaufen. Foto: Leo Rsl

Was hat das mit Traillaufen zu tun? Kurz gesagt dies: Der präfrontale Cortex ist stark darin, Information aus anderen Gehirnregionen zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzuführen. Wenn es zum Beispiel darum geht, eine Entscheidung zu treffen, hört er auf Reize von den Sinnesorganen, auf Gefühle, auf Erinnerungen früherer Erfahrungen und auf Erwartungen künftiger Ereignisse. Beim Laufen in unwegsamen Gelände muss er eine ähnliche Integrationsleistung vollbringen. Es genügt nicht, ein gleichförmiges Bewegungsprogramm abzuspulen wie beim Straßenlaufen. Das Gehirn muss den visuellen Input aus den Sehzentren berücksichtigen, die Körperwahrnehmung, die Signale aus dem Gleichgewichtsorgan, das motorische Gedächtnis, und aus alledem einen Plan für die nächsten Schritte schmieden.

Die Gehirnaktivität eines Menschen, der sich durch schwieriges Gelände bewegt, ist vergleichbar mit dem eines anderen, der sich auf einfachem Terrain bewegt und mit einer schwierigen Denkaufgabe beschäftigt ist. Das erklärt womöglich auch, warum man beim Traillaufen eher in einen Flowzustand findet als auf der Straße. Das Gehirn ist zu beschäftigt, um zu grübeln oder sich zu langweilen.

Auch Gämsen und Kühe haben einen präfrontalen Cortex, aber bei ihnen macht er weniger her. Er ist jener Gehirnteil, der in der menschlichen Evolution eine so phänomenale Entwicklung durchgemacht hat, dass Menschen heute kognitiv in einer ganz anderen Liga spielen als die übrige Tierwelt. Diesen Teil des Gehirns nutzen wir also, wenn der Trail holprig wird. Wir laufen ganz bestimmt anders als Gämsen. Dafür einzigartig menschlich. Traillaufen ist eine Denkaufgabe.

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