Läuferherzen im Langstreckentest: Wie gesund ist Ausdauersport wirklich?

Kein Bock zu lesen? Lass dir diesen Artikel einfach vorlesen. Jetzt Mitglied werden und Vorlesefunktion freischalten.
Wer Sport treibt, tut etwas für seine Gesundheit. So die landläufige Meinung. Doch gilt dies auch uneingeschränkt? Macht uns jede Laufstunde mehr zu einem noch gesünderen Menschen? Medizinische Studien deuten darauf hin, dass dies nur bis zu einem gewissen wöchentlichen Aktivitätslevel zutreffend ist. Und dieser Kipppunkt kommt früher als gedacht.

„Ist Sitzen eine tödliche Aktivität?“ Mit dieser provokanten Frage betitelte die New York Times 2011 einen Artikel über Studien, die langes Sitzen mit einem aktiven Lebensstil verglichen. Das Fazit aller Untersuchungen: Sitzen schadet der Gesundheit, während moderate Bewegung das Risiko für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen senkt und die Lebenserwartung steigert. Solche Ergebnisse finden sich nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch in Mainstream-Medien. Immer wieder heißt es dort: „Wer läuft, lebt länger.“

Doch bedeutet das, dass besonders viel und langes Laufen besonders gesund ist? Als ich vor etwa 20 Jahren mit dem Marathonlaufen anfing, begegnete mir oft der Satz: „Der Marathonlauf selbst ist nicht gesund – das Training dafür aber schon.“ Damit beruhigte man sich angesichts von Todesfällen bei Marathonveranstaltungen, die Nicht-Läufer oft mit „Das kann doch nicht gesund sein!“ kommentierten. Auch ich tröstete mich damit, dass der Wettkampf ja nur ein kleiner Teil meines Laufprogramms war.

Schließlich ist durch Studien gut belegt, dass Laufen gesund ist – insbesondere fürs Herz: Blutdruck und Ruhepuls sinken, das „böse“ LDL-Cholesterin wird reduziert, und das Risiko für Diabetes nimmt ab.

© Camilla Pizzini /Tecnica

Ist Marathon gesund oder nicht? Ein Medizinkrimi

1976 wagte der Pathologe Thomas Bassler die These, dass Marathonläufer immun gegen Atherosklerose seien. Er wies jedoch darauf hin, dass seine Probanden nicht rauchten und sich gesund ernährten – mögliche Faktoren, die diesen Effekt begünstigten. Trotz dieser Einschränkung behauptete er: „Es gibt keine histologisch belegten Fälle fataler Atherosklerose bei Marathonläufern.“

Diese steile These wurde prompt vom streitbaren Sportmediziner Tim Noakes aus Kapstadt angegriffen. Er berichtete von sechs Marathon- und Ultramarathonläufern, die einen Herzinfarkt erlitten hatten. Bei vier von ihnen konnte eine Atherosklerose der Herzkranzgefäße nachgewiesen werden.

Mit der zunehmenden Popularität von Marathonläufen mehrten sich die Berichte über plötzliche Herztode bei solchen Veranstaltungen. Die Annahme war jedoch, dass die Ursachen bereits vor dem Lauf bestanden. Doch 2014 sorgte eine Studie des Minneapolis Heart Institute für Aufsehen: Robert S. Schwartz und Kollegen untersuchten 50 Marathonläufer, die in einem Zeitraum von 25 Jahren mindestens einen Marathon pro Jahr absolviert hatten. Verglichen wurden sie mit Nicht-Läufern.

Wenig überraschend waren Pulsrate, Gewicht und BMI bei den Läufern geringer, und anders als bei den Nicht-Läufern hatte keiner der Marathonläufer Diabetes entwickelt. Doch dann kam der schockierende Befund: Bei der Untersuchung der Herzkranzgefäße mittels Computertomographie (CT) wiesen 60% der Marathonläufer Plaques – also Verengungen – in den Gefäßen auf, und das Volumen der verkalkten Plaques war fast doppelt so groß wie das der Kontrollgruppe.

James O’Keefe, einer der Studienautoren, tingelte danach von einer Veranstaltung zur nächsten und propagierte: Bewegung ist nur in moderater Menge gesund – Langstreckenlaufen kann richtig gefährlich werden: „Lauf um dein Leben! In einem angenehmen Tempo und nicht zu weit.“ Diese Devise hat sich bis heute im Kopf einiger Sportler und Sportlerinnen festgesetzt.

" Doch dann kam der schockierende Befund: Bei der Untersuchung der Herzkranzgefäße mittels Computertomographie (CT) wiesen 60% der Marathonläufer Plaques – also Verengungen – in den Gefäßen auf. "

Die Kollegen von O’Keefe waren vorsichtiger. Sie nahmen sich das Kollektiv der Marathonläufer nochmals vor und untersuchten in einer weiteren Studie, ob die Arterienverkalkung bei Marathonläufern mit anderen Risikofaktoren erklärt werden könnte. Und tatsächlich: Risikofaktoren wie Alter, Gewicht, BMI, familiäre Herzerkrankungen, Rauchen, Blutdruck, Blutfette und Diabetes standen in einem stärkeren Zusammenhang mit der Entwicklung der Gefäßverkalkung als die Zahl der absolvierten Marathons.

Es brauchte daher eine Studie, die Gruppen von Läufern und Nichtläufern untersucht, die hinsichtlich aller Risikofaktoren perfekt ausbalanciert sind. Eine solche Studie wurde tatsächlich 2017 von dem Londoner Kardiologen Ahmed Merghani durchgeführt: Er untersuchte 152 erfahrene Ausdauerathleten, die über 10 Jahre wöchentlich mindestens 16 Kilometer liefen oder mindestens 50 Kilometer auf dem Fahrrad trainierten und mindestens einmal pro Jahr einen Wettbewerb absolviert hatten. Diese wurden mit einer aktiven, aber moderat trainierenden Kontrollgruppe verglichen. Bezüglich der oben genannten Risikofaktoren stimmten in dieser Studie beide Gruppen perfekt überein. Dennoch fanden die Forscher bei den Ausdauersportlern signifikant häufiger Plaques in den Herzkranzgefäßen und auch mehr Herzrhythmusstörungen als in der moderat trainierenden Kontrollgruppe. Wichtig ist aber auch ein zweiter Befund: Die Plaques bei den Athleten waren stärker verkalkt. Das ist wichtig für die Prognose: Denn verkalkte Plaques engen zwar das Gefäß ein, sie sind aber sehr viel stabiler gegen Risse. Und ein akuter Herzinfarkt entsteht in den meisten Fällen nicht durch eine allmähliche Gefäßverengung, sondern dann, wenn eine Plaque abreißt und dann das Herzkranzgefäß komplett verschließt.

Interessant war auch, dass man bei den untersuchten Frauen insgesamt weniger Verkalkungen und keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen fand. Dies führten die Forscher auf das Hormon Östrogen zurück. Es ist bekannt, dass dieses Hormon Frauen vor der Menopause vor Gefäßverkalkungen schützt, da es entzündungshemmend und antioxidativ wirkt. Daher treten bei Frauen Verkalkungen der Herzkranzgefäße im Mittel erst 10 Jahre später auf als bei Männern.

© Camilla Pizzini / Tecnica

Viel hilft viel? Oder macht die Dosis das Gift?

Aber wie passen die Hiobsbotschaften der Kardiologen mit den vielen Versprechen über die gesundheitsfördernde Wirkung des Laufens zusammen?

Im Jahr 2017 titelte beispielsweise der Business Insider: „Wer eine Stunde joggt, verlängert sein Leben um sieben Stunden – sagen Wissenschaftler“. Genau genommen stellten die Wissenschaftler fest, dass Menschen, die regelmäßig zwei Stunden pro Woche joggen, im Schnitt 2,8 Jahre länger leben als Inaktive.

Auffällig ist dabei: Schon eine sehr moderate sportliche Betätigung zeigt eine signifikante positive Wirkung. Kann man aber diesen Effekt durch noch mehr Sport endlos steigern, so wie es die Schlagzeile im Business Insider suggeriert? Gilt beim Sport: „Viel hilft viel“? Oder trifft vielmehr der Grundsatz zu: „Die Dosis macht das Gift“?

Um diese Frage belastbar zu beantworten, reicht ein einmaliger Vergleich zweier Gruppen nicht aus. Es reicht auch nicht aus, sich nur für die Gefäßverkalkung zu interessieren. Es braucht eine sogenannte Längsschnittstudie, in der eine große Zahl an Versuchsteilnehmern über Jahre und Jahrzehnte beobachtet wird – in Bezug auf ihre sportlichen Aktivitäten, Krankheiten und Sterblichkeit.

Tatsächlich gibt es hier eine Studie: die Copenhagen City Heart Study. Seit 1976 werden in dieser groß angelegten Untersuchung über 170.000 Personen beobachtet. Eine Substudie mit über 8.000 Teilnehmenden untersuchte den Zusammenhang zwischen sportlicher Aktivität und Gesamtsterblichkeit. Konkret wurden Personen betrachtet, die entweder bekennende Läufer oder bekennende Nicht-Läufer sind. Dabei wurde analysiert, wie sich die durchschnittliche wöchentliche Aktivitätszeit auf die Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie auf die allgemeine Sterblichkeit auswirkt.

Das Ergebnis war eindeutig: Egal, ob es um kardiovaskuläre oder allgemeine Todesfälle geht, der „Sweet Spot“ für die Aktivitätszeit liegt zwischen 2,6 und 4,5 Stunden pro Woche. Wer sich länger bewegt, erzielt keinen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen – im Gegenteil, bei Aktivitätszeiten über 4,5 Stunden steigt die Sterblichkeit wieder leicht an. Diese Ergebnisse sind robust und unabhängig von Subgruppen, Untersuchungszeitpunkt oder anderen Einflussfaktoren.

Die gute Nachricht: Kein Trainingsvolumen ist so schädlich wie gar kein Training. Selbst wenn mehr Sport nicht gleichbedeutend ist mit mehr Gesundheit, ist exzessive Bewegung immer noch besser als gar keine. Der wahre Feind ist nicht der Marathon, sondern die Couch. Die Studie zeigte, dass Menschen, die mehr als 10 Stunden pro Woche trainieren, ein um 15 % höheres Sterblichkeitsrisiko haben als jene mit 2,6 bis 4,5 Stunden Training. Wer jedoch gar keinen Sport treibt, hat ein fast 50 % höheres Sterblichkeitsrisiko als die moderat aktive Gruppe.

Wie hart darf's denn sein?

Doch wir alle wissen: Aktivität ist nicht gleich Aktivität. Es macht einen Unterschied, ob jemand eine Stunde spazieren geht oder eine Stunde intensiv läuft.

Der norwegische Sportmediziner Ulf Ekelund hat in einer umfassenden Metastudie den Einfluss von physischer Aktivität auf das Sterblichkeitsrisiko untersucht. Er analysierte Daten von über einer Million Menschen und zeigte, dass regelmäßige Bewegung die negativen Folgen langen Sitzens (über acht Stunden täglich) ausgleichen kann, wenn der Energieverbrauch etwa 3,7 Stunden Laufen oder 7,4 Stunden Gehen pro Woche entspricht.

In einer weiteren Metastudie untersuchte Ekelund, ob sich körperliche Aktivität je nach Intensität unterschiedlich auf die Sterblichkeit auswirkt. Das Ergebnis: Ja, das tut sie. Aktivitäten mit niedriger Intensität sind unbegrenzt vorteilhaft – jede zusätzliche Stunde bringt gesundheitliche Vorteile. Hier gilt also: Viel hilft viel. Bei intensiven Aktivitäten – hierzu zählt auch das Laufen – sieht es jedoch anders aus: Schon geringe Mengen haben eine große positive Wirkung. Wird jedoch die Grenze von etwa drei Stunden pro Woche überschritten, nimmt der gesundheitliche Nutzen leicht ab.

© Camilla Pizzini / Tecnica

Wie gesund ist unser Sport wirklich?

Eines steht fest: Die Warnungen vor verstärkter Gefäßverkalkung bei Läufern wurden in der Öffentlichkeit überzeichnet dargestellt. Zwar zeigen Langstreckenläufer im radiologischen Bild mitunter auffällige Veränderungen, und epidemiologische Studien deuten darauf hin, dass extrem intensives und langes Training die gesundheitlichen Vorteile des Laufens etwas mindern kann. Doch eines bleibt unbestritten: Läuferinnen und Läufer leben gesünder als Couch Potatoes.

Letztlich bleibt aber die Frage: Betreiben wir unseren Sport wirklich nur, um länger zu leben? Oder vielleicht vor allem, weil uns das Laufen Freude bereitet und Erlebnisse ermöglicht, die wir sonst nicht hätten? Ich für meinen Teil nehme dafür gerne in Kauf, dass ich vielleicht ein paar Prozent gesundheitlicher Vorteile einbüße. Um es mit den Worten des amerikanischen Autors Hunter S. Thompson zu sagen: „Das Leben sollte keine Reise zum Grab sein, die in der Absicht angetreten wird, in einem schönen und gut erhaltenen Körper anzukommen. Vielmehr sollte man mit blockierten Rädern und in einer Rauchwolke am Ziel ankommen, völlig aufgebraucht, komplett verschlissen und laut rufend: ‚Wow! Was für ein Trip!‘“

Gravel Running im Trail-Paradies: Drei Erkenntnisse vom Salomon Lindkogel Trail

Sub 14 – Zahlen und Storylines vom Chianti by UTMB, Barkley Marathons, Acantilados Del Norte und Lindkogeltrail