Die Norweger Methode: Birne statt Ballern

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Wer schnell sein will, muss leiden! Ist diese Floskel noch gültig? In Norwegen legt man eher Wert auf cleveres statt extrem hartes Training. Der Erfolg gibt Ingebrigtsen und Co. Recht.

Intervalle müssen All-Out gelaufen werden– bis zur Kotzgrenze. Ist doch klar! Der mittlere Intensitätsbereich, also das klassische Tempo- oder Schwellen-Training? Leere Kilometer! Sinnlos! Wenn Intervalle dann richtig ballern und wenn Grundlage dann bloß nicht zu schnell!

So haben wir es gelernt und so schien es über viele Jahre lang trainingswissenschaftlicher Konsens zu sein. Auf der Bahn oder auch bei Bergintervallen galt: Nur wer besonders hart zu sich selbst ist und sich bei Intervalleinheiten gründlich quälen kann, wird es im Ausdauersport zu was bringen. Ich erinnere mich an eine Vorgabe aus meiner Trainingpeaks App: Laufe so schnell, dass sich die letzte Wiederholung so anfühlt, dass du höchstens noch eine halbe weitere schaffst. Natürlich stand ich nach der Einheit am Straßenrand, die Hände auf die Beine gestützt und schnappte nach Sauerstoff wie Darth Vader ohne Maske. Ein paar Minuten später, als die Sauerstoff-Schuld dieser anaeroben Schinderei endlich ausgeglichen war, beendete ich das Training äußerst zufrieden. Ich konnte mir nichts vorwerfen: Ich hatte alles gegeben. Mehr ging nicht. Ganz nach dem Motto: Großer Reiz, große Anpassung. Aber ist es wirklich so einfach?

" „Ballern“, „Goschn Polieren“, „sich das Leben aus dem Körper flexen“… das sind die Kategorien, in denen meine Tempoeinheiten stattfinden. "

Sandnes, Norwegen: In der Doku Team Ingebrigtsen sieht man wie Jakob Ingebrigtsen und seine Trainingskameraden auf der Bahn laufen. Keiner hechelt. Stattdessen wird den Ausnahme-Mittelstrecklern nach jedem Intervall ins Ohr gestochen und das Blutlaktat gemessen. Warum? Der mit dem höchsten Wert gewinnt? Mitnichten. Die Kontrolle dient dazu, die Intensität zu kontrollieren und notfalls zu drosseln. Die Grenze von 2,5 mmol/L (entspricht ungefähr der aeroben Schwelle) sollen die Athleten nicht überschreiten. Ich stutze. Aerobe Schwelle. Das ist vielleicht Marathontempo oder darunter. Ziemlich langsam für Intervalle. „Ballern“, „Goschn Polieren“, „sich das Leben aus dem Körper flexen“… das sind die Kategorien, in denen meine Tempoeinheiten stattfinden. Und nun kommen da ein paar Norweger und laufen alles in Grund und Boden, indem sie ihr Tempo streng kontrollieren? Sich bremsen statt pushen? 

Die Norweger Methode

Nehmen wir uns die Zeit und schauen uns genau an, was das Training der Norweger so einzigartig macht. In der Studie The Norwegion double-threshold method in distance running wird das Training von einigen norwegischen Langstreckenläufern, darunter auch der 1500-Meter-Olympiasieger Jakob Ingebrigtsen und seine zwei Brüder, sehr detailliert beschrieben. Was auffällt, ist der enorm hohe Umfang. Im Schnitt laufen die norwegischen Athleten 160 Kilometer pro Woche. Eine beeindruckende Kilometerzahl selbst für einen Marathon oder Ultra-Athleten. Für einen Sportler, dessen Wettkampfbelastungen gute 3 Minuten dauern, aber erst recht. Ein weiteres auffälliges Charakteristikum ihres Trainings sind die sogenannten Double-Threshold-Days. Das sieht dann wie folgt aus: Am Morgen werden 5 mal 6 Minuten Intervalle gelaufen mit einer Minute Pause. Nach einer Erholungszeit von mindestens 6 Stunden geht es zur zweiten Einheit hinaus: 12 mal 1000 Meter mit einer Minute Pause oder aber 25 mal 400 Meter mit einer halben Minute Pause. Hört sich brutal, ja fast unmenschlich an? Finde ich auch. Möglich sind diese Einheiten selbst für solche absoluten Ausnahmeathleten, aber eben nur, weil sie nicht all-out gelaufen werden. Wie der Name „Double-Threshold-Days“ schon sagt, werden die Einheiten an bzw. unterhalb der Schwelle gelaufen und der Laktatspiegel streng kontrolliert, um selbiges zu überprüfen. Zwei solcher Tage, also insgesamt vier dieser Einheiten, werden pro Woche trainiert. Anaerobe Intensitäten, eigentlich das Tempo, welches für einen 1500-Meter-Läufer rennspezifisch wäre, werden nur einmal pro Woche in Form von 20 mal 200 Meter Bergan-Intervallen trainiert. Insgesamt verbrachten die in der Studie besprochenen Athleten 76 % ihrer Trainingszeit im langsamen Grundlagenbereich (< 2mmol/l Laktat), um die 20% an der Schwelle (2-4 mmol/l Laktat) und nur 3-4 % im anaeroben Intensitätsbereich (> 8 mmol/l Laktat). Nur in der Vorwettkampfphase wurde die Trainingsdauer an der Schwelle leicht reduziert und das anaerobe Training leicht erhöht. Längere intensive Intervalle (4-8 mmol/l Laktat), welche formal als klassisches VO2Max-Training bezeichnet werden, fanden gar nicht statt. 

Schwellenzauber

Erstmalig angewendet wurden diese Trainingsprinzipien von Marius Bakken. Der ehemalige norwegische 5000-Meter-Läufer (Bestzeit 13:06) arbeitet heute als Mediziner und Sportwissenschaftler. Letztes Jahr fasste er seine Erkenntnisse in einer Studie zusammen. Dort erklärt er, warum sein Ansatz eines hochvolumigen Trainings mit vergleichsweise niedrigen Intensitäten so erfolgversprechend ist. Seine Kernaussage: Intensitäten an der anaeroben Schwelle (2-4 mmol/l Laktat) seien für den Körper deutlich weniger fordernd als Einheiten, die über der Schwelle stattfinden. Die Erholung gelänge viel schneller, wodurch mehrere Einheiten (sogar zwei an einem Tag) in dieser Trainingsintensität absolviert werden könnten. Das aerobe System, welches selbst bei einer vergleichsweise kurzen Distanz wie den 1500 Metern den Großteil der Energiebereitstellung ausmacht, ist an der Schwelle dennoch stark ausgereizt und wird somit ausreichend trainiert.

Die Brüder Ingebrigtsen im Norwegen Trikot

Trainieren wir zu wenig und zu schnell?

Wenn selbst 1500 und 5000 Meter Läufer auf hohen Umfang und Schwellentraining bauen, was heißt das dann erst für uns Trailrunner, die in weitaus niedrigeren Wettkampf-Intensitäten unterwegs sind? Trainieren wir vielleicht zu intensiv und gleichzeitig zu wenig? Tatsächlich schlägt das Buch „The Uphill Athlete“ von Kilian Jornet, Steve House und Scott Johnston in eine ähnliche Kerbe. Auch hier wird immer wieder betont, wie unabdingbar es ist, sehr viel Zeit im Grundlagenbereich zu verbringen. Erst auf dieser Basis könne man sich ans intensive Training wagen. Und auch dann sollte sich eher auf die Schwellenbelastungen als auf die hoch intensiven Einheiten konzentriert werden. Jornet und Co. sprechen hier vom Staubsauger, der trainiert wird. Ein starkes aerobes System entspricht einem starken Staubsauger, der die Abfallprodukte, die das anaerobe System produziert (Laktat) effektiv aufsaugt und wiederum in Energie umsetzt. 

Natürlich hat nicht jeder so viel Zeit zum Trainieren wie ein Jornet oder Ingebrigtsen. Wenn man eben nur 6 Stunden in der Woche zum Laufen kommt, mag es unter Umständen Sinn machen, den Intensitätsanteil seiner Gesamtbelastungszeit sogar höher zu halten als die hier angesprochenen Athleten. Eben weil man zwangsläufig mehr Zeit zur Erholung hat bzw. den fehlenden Umfangsreiz zumindest in Ansätzen durch Intensität wieder wettmachen kann. Allerdings wird dies nur bis zu einem gewissen Punkt und in eingeschränktem Maße funktionieren.

 

Umfang ist King

Wir leben in einer Welt unmittelbarer Verfügbarkeit. Es gibt kaum noch Dinge, auf die wir lange warten oder hinarbeiten müssen. Amazon und Internet sei Dank. Auch in den Sport hält diese Erwartungshaltung Einzug. Werbeversprechen wie „In 6 Wochen zum ersten Marathon“ sind en vogue und HIIT-Einheiten (High Intensity Interval Training), die schnelle, aber kurzfristige Anpassungen verursachen, ein echter Renner. Allerdings zeigt uns das Training der Rekorde-brechenden-Norweger einmal mehr: Im Ausdauersport gibt es keine Abkürzungen. Wer Erfolg will, wird diesen nur durch unermüdliches und umfangreiches (nicht zu intensives) Training erringen können. Die beiden norwegischen Triathleten Kristian Blummenfelt und Gustav Iden waren genauso wie ihr heißsporniger Erfolgstrainer Gustav Bu bis zuletzt nicht liiert. Wie kompromisslos man die Suche nach sportlichem Erfolg betreibt, darf zum Glück jeder selbst entscheiden.

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