Warum Kilian Jornet mein Lieblingstrailrunner ist

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In der Serie „Unsere Lieblingstrailrunner“ stellt ein Alles Laufbar-Teammitglied eine besondere Persönlichkeit aus unserem Sport vor, die ihn oder sie im besonderen Maße begeistert. Bennis Lieblingstrailrunner ist Kilian Jornet. Wer sonst? Aber seine Zuneigung war nicht immer unerschüttert.

Kilian Jornet! Ein Name, der in der Trailrunningwelt ein ehrfürchtiges Schweigen erzeugt. Oder wahlweise ein bewunderndes Raunen. Ich hätte jeden wählen können: Courtney Dauwalter, Dakota Jones, Jack Kuenzle, Damian Hall, Jasmin Paris – ich mag sie alle. Und doch habe ich die naheliegendste Wahl getroffen. Es mag fast ein bisschen langweilig sein zu erklären, warum der Katalane mein absoluter Lieblingstrailrunner ist. Schließlich könnte ich einfach all seine sportlichen Errungenschaften und Erfolge nacheinander durchgehen und lobpreisen. Das Resultat wäre eine nicht enden wollende Liste voller beeindruckender Heldentaten zwischen Mont Blanc und Lake District, zwischen Sierre-Zinal und Western States 100.

Aber ich will anders beginnen. Ich muss beginnen mit einem seltenen Moment des Zweifelns. Zweifel? Bei Kilian Jornet? Tatsächlich war der Ausnahme-Athlet in meinen Augen lange Zeit über jeden Zweifel erhaben. Alles was er anfasste, wurde zu Gold. Sportlich, aber auch über die physische Leistungsfähigkeit hinaus. Bis zu diesem Winter im Jahr 2020. Es war die Corona Zeit. Wettkämpfe waren rar. Aber auch davon abgesehen war Kilian mal wieder auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Schwierig bei jemandem, der alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt und so viele Rekorde und Bestzeiten hält wie kein Zweiter.

Sein damaliger Sponsor Salomon, dem er über Jahrzehnte die Treue gehalten hatte, wagte damals den Einstieg in ein neues Segment. Mit dem Phantasm brachten die ehemaligen Bergsport-Spezialisten aus Annecy ihren ersten Straßenlaufschuh auf den Markt. Auf den ersten Blick machte das neue Projekt von Kilian also durchaus Sinn: Sein Ziel: Den 23 Jahre alten 24-Stunden-Weltrekord der griechischen Lauflegende Yiannis Kouros brechen. Auf einer Bahn im kalten und dunklen norwegischen November wollte er in 24 Stunden über 300 Kilometer laufen. An seinen Füßen: der neue komplett rote Straßenschlappen seines Ausrüsters.

2020 versuchte Kilian sich am Weltrekord im 24-Stunden-Lauf. Auf der Bahn. Im norwegischen Winter. Foto: Suunto

Ich kann mich erinnern, wie ich stutzte, als ich die Ankündigung zu diesem Projekt vernahm. Ein Grund, warum ich Kilian so außerordentlich schätze, ist die Tatsache, dass er trotz seiner schier endlosen Erfolgsserie nie die Bodenhaftung verloren hatte. Dass er selbst immer der größte Kenner seiner eigenen Leistungsfähigkeit war. Damals, so schien es mir, hatte er diesen Kompass ein wenig verloren.

Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieser Rekord in Kilians Reichweite lag. Erst recht nicht bei Minusgraden im dunklen Norwegen. Natürlich war Kilian unbestritten der beste Sportler aller Zeiten, wenn es darum ging, zu Fuß oder auf Skiern Berge hinauf und wieder runter zu steigen. Aber konnte er deswegen mit nur ein paar Wochen Vorbereitung einen Rekord in einer komplett anderen Sportart, nämlich dem Straßenultralauf brechen, noch dazu ein absoluter Fabelrekord, an dem sich schon etliche Spezialisten die Zähne ausgebissen hatten? Meine Zweifel bestätigten sich: Bei einer Temperatur von minus ein Grad Celsius musste Kilian nach 10 Stunden und 134 Kilometer seinen Rekordversuch abbrechen und sich aufgrund Besorgnis-erregender Symptome im Krankenhaus behandeln lassen.

Bis heute frage ich mich, ob er wirklich ernsthaft daran glaubte, den Rekord von Yiannis Korous brechen zu können oder ob er einfach zu nett war, um „Nein“ zu sagen zu einer Promo-Aktion, die mehr zu den aktuellen Kampagnen-Interessen seines treuen Sponsors passte als zu der Bergsportler-Attitüde und den Fähigkeiten des Sportlers selbst.

Ein Jahr später beendet Kilian Jornet seine langjährige Zusammenarbeit mit Salomon, um seine eigene Marke zu gründen. Auch dem Straßenlauf kehrt er nach dieser Aktion endgültig den Rücken zu. Zu viele Verletzungspausen belasteten ihn in der Zeit, als er ernsthaft versuchte, im flachen und schnellen Laufen Fuß zu fassen.

Geschwollene Lippen, müde Augen: Ein ehrliches Porträt des NNormal-Athleten nach seinem achttägigen Pyrenäen-Projekt. Foto: Kilian Jornet/mtnath.com

Warum ich diese seltene Geschichte vom Scheitern eines Unfehlbaren erzähle? Schließlich hätte ich auch mit einer seiner unzähligen Erfolgsgeschichten einsteigen können.

Zum Beispiel, wie er als 20-jähriger Neuling im Ultratrailsport ein Rennen gewann, welches bis dahin den Veteranen und Erfahrenen vorbehalten war. Bei seiner ersten Teilnahme beim UTMB 2008 siegt er in Streckenrekordzeit, obwohl er mitten im Rennen eine Stunde aufgehalten wurde, weil die Leistung des Jungspundes ohne Rucksack den Organisatoren zu unfassbar erschien, um wahr zu sein.

Oder wie er im Jahr 2013 das Matterhorn in Rekordzeit hinauf und hinunterrannte. Ein Balanceakt ohne Seil und Sicherung am Liongrat, der Bilder erzeugte von zuvor nie gesehener Anmutigkeit eines sich im schweren Gelände behände bewegenden Ausnahme-Alpinisten.

Oder sein über mehrere Jahre andauerndes Summits-Of-My-Life-Projekt, bei welchem er die ikonischsten Gipfel dieser Welt in Rekordzeit bestieg. Mont Blanc, Kilimandscharo, Denali, Aconcagua, Elbrus, Matterhorn und zu guter Letzt den Gipfel der Welt, den Mount Everest. Kein Gipfel zu hoch, keine Route zu schwer, um nicht von Kilian im Sturm erobert zu werden.

Oder sein Sieg beim Hardrock 100, den er 2017 zum wiederholten Male gewann, obwohl er sich bei Meile 15 von 100 die Schulter auskugelte.

Oder seine jüngste Heldentat. Als er letztes Jahr alle 82 Viertausender der Alpen in einer unfassbaren, nur 19 Tage andauernden Gewaltaktion bestieg. Eine Synthese aus beeindruckender Ausdauerleistungsfähigkeit, gekonnter alpiner Fertigkeiten, logistischer Planungskunst und nicht für möglich gehaltenem Schlafmangel-Management.

In Shorts und Shirt zum Rekord: Kilian rennt in Rekordzeit auf das Matterhorn. Nur einer von vielen weiteren Gipfeln. Foto: Seb Montaz

Und dies ist nur eine kleine Auswahl an Errungenschaften des Vielseitigkeitsexperten. Viele weitere könnte man hier aufzählen, die mit den Attributen „unfassbar“ „außerirdisch“ „einmalig“ nur unzureichend beschrieben wären. Dass Kilian auch bei Verticals und schnellen Skimo-Rennen seines gleichen suchte, habe ich noch nicht mal erwähnt.

Letztendlich aber sind es nicht die endlosen Erfolge, die Kilian für mich zum Idol machen. Vielmehr ist es sein Umgang mit selbigen. Es ist seine ganze Attitüde, den Sport zu betreiben. Eine Attitüde, die stets die Geschichte erzählt von einer ohne Zweifel getriebenen Suche nach neuen Herausforderungen und Grenzbereichen. Welche aber immer eingebettet ist in die authentische Erzählung eines Berg- und Natur-liebenden Outdoor-Enthusiasten, der mit einer kindlichen Neugierde und einer bescheidenen Ehrfurcht gegenüber den Bergen seinen außergewöhnlichen Weg geht.

Ein Weg, der auch weit über das sportliche hinaus Eindruck macht. Denn Kilian ist nicht nur Athlet. Wenn er in langen Abhandlungen über seine manchmal unkonventionell erscheinenden Trainingsmethoden spricht oder seine Taten einbettet in den historischen Kontext alpiner Errungenschaften, ist er Kenner, Botschafter und Pionier unseres Sports. Wenn er sich im Rahmen seiner Tätigkeit für seine Stiftung „Kilian Jornet Foundation“ einsetzt für Nachhaltigkeit, Naturschutz und Klimagerechtigkeit, ist er Aktivist und besorgter Weltbürger gleichermaßen. Wenn er seine eigene, auf Nachhaltigkeit getrimmte Marke NNormal gründet, ist er Unternehmer und Visionär. Und nicht zu vergessen: Wenn er mit seiner Frau Emelie und seinen bald drei Kindern in seiner Wahlheimat Norwegen seinen Alltag bestreitet, ist er vor allem eines: Familienvater. Dass Kilian nur fünf Stunden Schlaf pro Nacht benötigt, ist mehrmalig überliefert. Aber selbst unter diesem Umstand ist die Energie, mit welcher der 37-Jährige all diese Projekte jongliert, nicht von dieser Welt.

" Letztendlich aber sind es nicht die endlosen Erfolge, die Kilian für mich zum Idol machen. Vielmehr ist es sein Umgang mit selbigen. "

Es bleibt nur dieser eine Moment des Scheiterns, der den Übersportler menschlich erscheinen lässt. Dieser eine Moment auf dem blauen 400-Meter Stadionrund, welches umringt ist von Bergen. Vielleicht hat Kilian selbst das eine oder andere Mal hinauf geschaut auf die norwegischen Gipfel, als er seine Runden drehte in dieser kalten und dunklen November Nacht. Vor vier Jahren hinterließ diese Aktion einen kleinen Kratzer in meiner uneingeschränkten Bewunderung für Kilian Jornet. Aber ehrlich gesagt, ist sie nur ein weiterer Beweis für die unerschrockene Art und Weise, mit welcher der Sport-Pionier ein ums andere Mal unerschlossenes Territorium eroberte. Kilian, wegen mir darfst du gern noch mal scheitern. An der Wahl meines Lieblingstrailrunners wird das definitiv nichts ändern. Im Gegenteil.

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