Warum ich ab jetzt ohne Trainingsplan laufe

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Unsere Autorin plant diesen Herbst die 330 km lange TOR des Géants zu laufen. Dieses Ziel ist so groß, dass sie sich erstmals an eine Trainerin gewandt hat, mit der Bitte, sie mit einem Trainingsplan vorzubereiten. Warum dieser Versuch gescheitert ist und sie ab jetzt Trainer-frei läuft, lest ihr hier.

„Du, Juliane, willst bei uns trainiert werden? Ich hätte dich so eingeschätzt, dass du nicht so Typ Trainingsplan bist“, so ähnlich lautete Kims Replik auf meine Anfrage bei two peaks endurance, dem Unternehmen, bei dem sie als Geschäftsführerin und Trainerin arbeitet. Sie hat sich auf das Coaching von Ultratrailläuferinnen spezialisiert und scheint mich offenbar gut einschätzen zu können.

Warum? Sie kennt den alles-laufbar-Podcast Vom Laufen, in dem ich nicht müde werde zu wiederholen, dass ich die Freiheit und den Abenteueraspekt am Trailrunning liebe. Seit 13 Jahren finishe ich Ultratrails zwischen 50 und 120 km, ohne je einen Trainingsplan konsultiert oder befolgt zu haben. Und das fand ich bisher immer toll. Bis zu dem Moment, in dem ich entschied, die TOR zu laufen.

Die TOR des Géants (Giganten-Tour) ist ein 330 km langer Ultratrail im italienischen Aostatal. Mehr als 24.000 Höhenmeter sind in rund sechs Tagen und Nächten zu meistern und zwar viele Pässe über 3.000 m ü.NN passierend. Dieses Rennen wird das anspruchsvollste meines Lebens werden, daher rief ich Kim an, die selbst solche Art von Läufen erfolgreich bestreitet.

„Gut, probieren wir es mit dir. Unter einer Bedingung“, trotz Kims Skepsis starten wir das Training, ich müsse aber anfangen, meine Herzfrequenz aufzuzeichnen. Außerdem  sei es sinnvoll, ein Abo bei TrainingPeaks abzuschließen, einer App über die das Training gesteuert wird. Ich rechne: COROS-Herzfrequenz-Armgurt 89 EUR plus (bereits vergünstigtes) TrainingPeaks-Monatsabo 9 EUR plus Bezahlung des two peaks-Trainings. Autsch! Zu Studentinnenzeiten schien Trailrunning so attraktiv, weil es fast kostenfrei funktionierte. Aber die TOR… Ich erfülle die Bedingungen.

Die Vorbereitung

TrainingPeaks zeigt in einem Kalender Einheiten, die Kim mir wöchentlich aufträgt. Erste Einheit: „Lauf/Hike-Wechsel, 3 Stunden, 4-6 RPE (Rate of Perceived Exertion, das ist eine Messlatte der empfundenen Anstrengung, die bis 10 reicht)“. Darunter lese ich eine ausführliche Beschreibung zur Ausführung, teils mit Videoerklärung. Im späteren Verlauf des Trainings werden wir fünf Herzbereichzonen definieren, aber dafür braucht Kim erst meine Daten. Ich muss lernen, mein Laufen nach Anstrengungsleveln zu kategorisieren. Es gibt jetzt nicht mehr das einfache Vorhaben eine „tolle Bergtour zu machen“. Ab jetzt lautet die diktierte Aufgabe „3 Stunden Lauf/Hike in einer bestimmten Herzfrequenz, hoch zügig hiken, runter laufen, nicht trödeln“. Ich sehe limitierende Spaß-Faktoren, aber offenbar bedeutet kluges Training genau das: fremde Vorgaben erfüllen, eigene Vorstellungen und Wünsche streichen.

Der Start

Meine Wahlheimat Garmisch-Partenkirchen bietet optimales Trail-Terrain. So setze ich am ersten Trainingstag meine Tochter in der Kita ab und starte eine Lieblingsrunde, eine 3-Stunden-Bergtour durch ein verlassenes, steiles Kar im Estergebirge. „Auf Kims Anerkennung zur perfekten Umsetzung ihrer ersten Trainingseinheit freue ich mich jetzt schon“, sind in etwa meine Gedanken.

" Jeder Herzschlag wird ab jetzt vermessen und später bewertet, jedes Austreten vom Trail zum Wasserlassen als zu vermeidende Pause entpuppt, die zu Nachfragen führen kann. Oje. "

Der Trailrucksack fasst 1L Wasser, 2 Riegel, 2 Gels, Rettungsdecke und Windjacke. Die Hände umfassen Laufstöcke. Alles wie gewohnt. Außer: Unten am Arm zeigt die Uhr „Training starten“ an, oben am Arm drückt leicht der Fremdkörper COROS-Herzfrequenzgurt. Er erinnert mich an eine Fußfessel. Jeder Herzschlag wird ab jetzt vermessen und später bewertet, jedes Austreten vom Trail zum Wasserlassen als zu vermeidende Pause entpuppt, die zu Nachfragen führen kann. Oje. Ich schiebe das ablehnende Gefühl weg, indem ich lustvoll auf den Trail trete und loshechte, gierig in Richtung Auszeit, Freiheit, Abenteuer und TOR. Viel zu schnell, wie die Uhr bemängelt, also zügele ich den Laufschritt. Vorgabe ist Vorgabe.

Dass das hier etwas mit Training zu tun hat, vergesse ich spätestens nach 1.000 Hm im steinig-schroffen Hochgebirge, das einen Weitblick über die umliegenden Gipfelspitzen bis ins 80 km entfernte München präsentiert. Eine Gamsherde kaut im Geröllfeld an herbstlich gefärbten Ähren. Die scheuen Tiere MUSS ich beobachten, also bleibe ich rund zehn Minuten und 28 Sekunden (wie die Uhr mir später anzeigen wird) auf einem Stein sitzen, das Handy zückend, den Moment konservierend. Vorm inneren Auge sinkt der Wert auf der RPE-Skala auf null. „Ich weiß“, denke ich beim Weitersteigen, „das war jetzt nicht trainingsplankonform, aber die Gämsen…“

Zurück im Flachen synchronisiere ich die Uhr mit TrainingPeaks. Bei überwiegend gut umgesetzten Trainings in zeitlicher Hinsicht wird der Eintrag grün markiert. Meiner erscheint orange. Zu abweichend von der Vorgabe. „Oha“, weiß ich nun, „ein Training gut umzusetzen, heißt nicht, meine Lauf-Philosophie anzupassen, indem ich Freiheit, Abenteuer und Trainingsplan versuche unter einen Hut zu bringen. Es heißt, eine andere Haltung dem Laufen gegenüber einzuüben. Laufen ist keine Reise, auf der man spontan schaut, was einem begegnet und dann reagiert. Laufen ist nun eine Aufgabe, die, egal, was passiert, abgeleistet werden sollte, Ährenkauende Gämsen hin oder her.

Die Hürden

Kim und ich haben inzwischen meine Herzfrequenzbereiche definiert. Statt mich zu Hause mit dem Satz „Ich bin ’ne Runde Joggen“, zu verabschieden, heißt es nun: „Muss eine Stunde Dauerlauf in Zone zwei zur Ökonomisierung des aeroben Stoffwechsels machen, Herzfrequenz zwischen 141 bis 158 beats per minute. Sind Armgurt, Kopfhörer und Garmin geladen?“ Diese Zone-zwei-Einheiten sind noch meine liebsten.

Fies sind andere: Doppelter Crescendolauf im Trail zur Verbesserung der Ermüdungsfähigkeit, 20 Minuten leichtes Laufen, 20 Minuten moderat, um dann zehn Minuten an der Zone vier (sehr hart) zu kratzen und das Ganze gleich zwei Mal! Blöd nur, dass ich während der harten zehn Minuten eine wandernde Freundin auf dem Trail treffe und anhalte, um mich kurz mit ihr zu unterhalten. Vor meinem inneren Auge sinkt schon wieder die RPE-Skala und die Uhr ermahnt zusätzlich zu Disziplin. Ich stoppe Laufschritt, Uhr und plausche einige Minuten. Das Intervall setze ich danach fort. Wird schon passen.

Passt natürlich nicht, die App TrainingPeaks mahnt in Orange. Und Freunde fragen entgeistert: „Du hast was, ein Intervall unterbrochen? DAS macht man aber wirklich nicht!“ Und ich werde empört zurückfragen: „Hätte ich etwa an einer Freundin vorbeirennen sollen, ohne Plausch?! DAS macht man wirklich nicht!“

Ein Mal im Monat erhalte ich eine Monat-Analyse von Kim per Video zu meinem Training. So gerne ich Kims klugen wie durchdachten Erkenntnissen lausche, frage ich mich: „Was interessieren mich meine Läufe von gestern?“ Detailliert vergangene Laufeinheiten zu analysieren ist für mich wie zu beantragen, dass man seine alten Abiklausuren einsehen darf. Einfach überflüssig. Im Video bittet mich Kim zudem, meine Einheiten künftig zu kommentieren: Sie wisse manchmal nicht genau, was ich eigentlich trainiert hätte, weil mein Laufen zu stark von ihrem Plan abweichen würde. Oje, bin ich untrainierbar?

" Die Freiheit unvernünftig zu laufen, Junk Miles zu sammeln, einfach so, weil es keine Regeln gibt oder Uhr- und Gurt-frei laufen oder uns für viel zu lange und verrückte Events anmelden, um zu gucken, was passiert, ganz unverblümt, naiv und zuversichtlich, ohne, dass Daten den Erfolg prognostizieren oder uns abraten. Wann hat man im Leben denn sonst mal Gelegenheit dazu, anarchisch unterwegs zu sein? "

Das Scheitern

Drei Monate vergehen. Es will mir unterdessen nicht gelingen, meine Haltung zum Laufen anzupassen. Der wissenschaftliche Ansatz von Kim ist darauf ausgelegt, mein Laufen im Hinblick auf die TOR zu optimieren, vernünftig vorzugehen, datenbasiert. Ein durchdachter, intelligenter und bewährter Weg, wie zahlreiche Erfolge von two peaks-Athletinnen veranschaulichen. Was könnte ich gegen diese Vorgehensweise einzuwenden haben? Beim Laufen kommen mir viele Antworten in einem breiten Spektrum dazu:

Trailrunning beinhaltet für mich einen Anteil Anarchie. Hier darf ich alles dürfen und muss nichts müssen. Selbstbestimmt laufe ich los, mich dem omnipräsenten Optimierungswahn der postmoderten Gesellschaften entziehend, wenigstens während der Lauf-Auszeiten. Ich bin nicht ziellos unterwegs, aber nicht das Ziel ist der Zweck des Laufens, sondern der Weg, die Reise, das Abenteuer, die Freiheit. Freiheit ist ein Abstraktum, aber runtergebrochen aufs Traillaufen spürt man sie ganz konkret: Dann, wenn wir frei sind, unvernünftig zu laufen, Junk Miles zu sammeln, einfach so, weil es keine Regeln gibt oder Uhr- und Gurt-frei laufen oder uns für viel zu lange und verrückte Events anmelden, um zu gucken, was passiert, ganz unverblümt, naiv und zuversichtlich, ohne, dass Daten den Erfolg prognostizieren oder uns abraten. Wann hat man im Leben denn sonst mal Gelegenheit dazu, anarchisch unterwegs zu sein?

Für mich ab jetzt, so erkläre ich es auch Kim, wieder im Trailrunning. Ganz trainerfrei. Vielleicht ist diese Vorgehensweise auch genau die Richtige, denn auf einer 330 km langen Strecke wie der TOR kann so viel Unvorhergesehenes passieren, da kann eine naiv zuversichtliche, unkonventionelle Herangehensweise ans Laufen genauso wertvoll wirken wie all die wissenschaftlich ausgewerteten Trainingsdaten. Wir werden es sehen.

Obwohl für Kim die Vorteile eines Trainingsplan überwiegen, weiß sie genauso gut, dass viele Läuferinnen untrainierbar sind – davon hat sie selbst schon viele in ihrer Trainerinnenpraxis erlebt. Woran das liege? „Einige Läuferinnen lassen sich einfach vom Typ Mensch nicht gern in einen Trainingsplan hineindrücken, negativ formuliert. Viele laufen ihre Einheiten spontan und nach Lust und Laune und das ist ja auch voll ok so.“ Voll ok so – Das speichere ich mir als Mantra ab und laufe einfach mal drauf los, auf das größte Laufabenteuer meines Lebens.

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