Nur ein Stück Blech? Über die Macht der Medaillen

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Wir alle besitzen Finishermedaillen. Bei dem einen verstauben sie im Regal, bei anderen sind sie dekorativ aufgehängt und wieder andere sammeln sie in irgendwelchen Schachteln. Dennoch sind sie große Motivatoren – insbesondere, wenn sie als leistungsabhängige Belohnungen eingesetzt werden, wie unsere Autorin herausgefunden hat.

Es sind mehr oder weniger geschmackvolle Objekte aus Blech, heute aus Nachhaltigkeitsgründen auch gerne mal aus Stein oder Holz. Mit der einen oder anderen Medaille verbinden wir Erinnerungen – an ein perfektes Rennen oder daran, dass wir uns durchgekämpft haben, obwohl fast alles schiefgelaufen ist.

Eines haben aber diese Finishermedaillen gemeinsam: Es sind keine individuellen Leistungsauszeichnungen. Finishermedaillen sind nicht vergleichbar mit den Medaillen, die wir von den Olympischen Spielen oder von Meisterschaften kennen. Bei diesen Wettbewerben werden nur die besten drei Athletinnen und Athleten mit Medaillen ausgezeichnet: Gold – Silber – Bronze. Die Finishermedaillen dagegen unterscheiden nicht zwischen Sieger oder einem Läufer im Mittelfeld oder dem letzten Finisher. Ein jeder bekommt die gleiche Medaille um den Hals gehängt.

Außerhalb Europas gibt es Wettkämpfe, bei denen je nach Leistung unterschiedliche Medaillen vergeben werden. Beim Western States, zum Beispiel, erhalten alle Läufer, die die 100 Meilen in weniger als 24 Stunden absolvieren, eine silberne Gürtelschnalle. Wer länger als einen Tag, aber dennoch innerhalb von 30 Stunden ins Ziel kommt, bekommt eine bronzene Gürtelschnalle.

Andere Rennen, wie der Bear 100 oder der Wasatch Front 100, unterscheiden ebenfalls nach Finisherzeiten und verleihen unterschiedliche Gürtelschnallen für Zeiten unter 24 Stunden, unter 30 Stunden und unter 36 Stunden. Noch komplexer ist die Medailleneinteilung beim Comrades Marathon, einem der ältesten Ultramarathons, der jährlich in Südafrika stattfindet und etwa 90 Kilometer umfasst. Neben den Goldmedaillen für die besten zehn Läufer und Läuferinnen werden hier abhängig von der Finisherzeit insgesamt sieben verschiedene Medaillen vergeben.

Die Gürtelschnallen des Western States. Silber gibt es für Sub-24, Bronze für Sub-30 Stunden. Fotos: wser.org

Egal ob Gürtelschnalle oder Medaille: Diese Auszeichnungen für die Finisher haben einen nur geringen materiellen Wert. Auch wenn Jared Hazen seinen beim Western States 2014 gewonnenen Belt Buckle bei ebay inserierte, letztlich 519 US Dollar für sie kassierte, sich dadurch aber auch das Unverständnis von so manchem Ultrarunner zuzog.

Wie ist es aber mit dem ideellen Wert von Medaillen? Sind sie für uns Motivation oder am Ende nur schmückendes Beiwerk?

Um das herauszufinden, muss man sich Rennen mit unterschiedlichen „Belohnungsschemata“ anschauen und einen Blick auf die Histogramme der Finisherzeiten werfen. Wer einmal als Zuschauer am Rand eines Rennens gestanden hat, weiß, dass man dabei eine Glockenkurve erwarten dürfte: wenige Läufer an der Spitze, dann das Hauptfelds, wo innerhalb kürzester Zeit viele Läuferinnen und Läufer ins Ziel kommen, und schließlich das ausgedünnte Ende des Felds. Die Cutoff-Zeit sorgt dafür, dass die Kurve für langsame Zeiten nicht wieder auf null zurückgeht. Das Histogramm der Finisherzeiten beim Lavaredo Ultra Trail beispielsweise zeigt diese typische Kurvenform.

Histogramm der Finisherzeiten beim Lavaredo Ultra Trail

Beim Western States aber sieht diese Kurve ganz anders aus, und das nicht nur, weil die Cutoff-Zeit deutlich anspruchsvoller ist und damit theoretisch nur der ansteigende Teil der Glockenkurve repräsentiert ist. Was vielmehr sofort ins Auge sticht, ist ein markanter „Sägezahn“ bei 24 Stunden: Zwischen 23 und 24 Stunden ballen sich die Finisher – während zwischen 24 und 25 Stunden kaum jemand ins Ziel kommt. Im Jahr 2024 beendeten 33 Läuferinnen und Läufer das Rennen zwischen 23 und 24 Stunden, zwischen 24 und 25 Stunden jedoch nur sechs! Wer aufgrund seiner physischen Leistungsfähigkeit die 24-Stunden-Marke auch nur ansatzweise in Reichweite hat, scheint alles daranzusetzen, diese Schwelle zu unterbieten.

Der Einfluss der Medaille bzw. Gürtelschnalle auf die Finisherzeiten beim Western States

Solche Phänomene sind auch vom Marathonlauf bekannt und waren bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen – und zwar nicht durch Sportwissenschaftler, sondern durch Wirtschaftswissenschaftler. Eric J. Allen und Patricia M. Dechow haben auf der Basis von fast 10 Millionen Datensätzen festgestellt, dass sich die Zahl der Zieleinläufe unmittelbar vor „runden Zeiten“ wie 3 Stunden, 3:30 und 4 Stunden signifikant häuft. Sie führen diesen Effekt auf den starken Anreiz zurück, symbolträchtige Meilensteine zu erreichen.

"Runde" Finisherzeiten beim Marathon

Durch aufwendiges Datenfitting und umfangreiche mathematische Analysen konnten Allen und Dechow letztlich drei Mechanismen identifizieren, die zur Ballung von Zieleinläufen vor „runden Zeiten“ beitragen:

  • Die Zeitziele sind für die Läufer so attraktiv und motivierend, dass sie bereits die Grundlage für das Training, die Planung und Pacing-Strategie bilden.
  • Selbst wenn Läufer kurz vor dem Ziel langsamer sind als die erforderliche Pace für die runden Zeiten, ist unmittelbar vor dem Ziel die Motivation für einen Endspurt so hoch, dass sie letztlich die angestrebte Zielmarke unterschreiten.
  • Wenn Läufer während des Rennens merken, dass sie unerwartet unter einer bestimmten runden Zeit bleiben könnten, setzt auch dies zusätzliche Motivation frei. Dies wäre – anders als bei Mechanismus 1 – eher eine Zielsetzung „on the run“.

Diese Mechanismen, die Allen und Dechow für den Marathon postulieren, könnten auch die Ballung von Zieleinläufen vor der 24-Stunden-Grenze beim Western States erklären. Auffällig ist jedoch: Die Effekte sind beim Western States weitaus ausgeprägter als beim Marathon. Während beim Marathon die Finisherzahlen unmittelbar nach den markanten Zeiten um 20-35% sinken, brechen sie beim Western States nach 24 Stunden um ganze 88% ein. Und der Effekt hält deutlich länger an: Erst kurz vor der Golden Hour, also 4 ½ Stunden nach der 24-Stunden-Schwelle, erreicht die Finisherzahl wieder das Niveau, das sie unmittelbar vor der 24-Stunden-Grenze hatte.

Warum sind die Effekte beim Western States so stark? Haben 24 Stunden bei einem 100-Meilen-Lauf eine so viel größere Bedeutung als 3 oder 4 Stunden bei einem Marathon?

Die 24-Stunden-Grenze ist in der DNA des Western States fest verankert. In den Anfangsjahren musste man das Rennen in 24 Stunden beendet haben – erst später erhöhte man das Zeitlimit auf 30 Stunden und führte die bronzene Gürtelschnalle ein. Viele Läufer verfolgen das prägnante Ziel, noch vor dem zweiten Sonnenaufgang in Auburn zu sein. Und das Motto „100 Miles – One Day“ ist noch heute auf der silbernen Gürtelschnalle des Western States zu finden – genau wie auf den Gürtelschnallen des Tevis Cup, dem Wettbewerb im Distanzreiten, aus dem der Western States hervorgegangen ist.

Geschafft! Alles gegeben ... auch für die Medaille? Foto: UTMB

Die Macht der Medaillen

Da ist sie wieder, die Gürtelschnalle. Könnte es tatsächlich an diesem Stück Metall liegen, dass der Sägezahn im Histogramm der Finisherzeiten beim Western States so stark ausgeprägt ist?

Um dieser Frage nachzugehen, lohnt sich ein Blick auf den UTMB. Im Gegensatz zum Western States werden beim UTMB keine Finishermedaillen vergeben. Die ersten 10 Männer und Frauen erhalten einen Preis, alle anderen die begehrte UTMB-Finisher-Weste. In Chamonix verfolgt man somit für das große Teilnehmerfeld den in Europa üblichen, egalitären Ansatz: Jeder Finisher erhält die gleiche Auszeichnung. Dementsprechend zeigt das Histogramm der Finisherzeiten beim UTMB keine auffällige Ballung zu bestimmten Zeitpunkten, wie es beim Western States der Fall ist. Nur bei genauerem Hinsehen erkennt man minimale Anstiege der Finisherzahlen kurz vor den 30-, 36- und 40-Stunden-Marken.

Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass beim Ultratrail-Running weniger die Finisherzeit, sondern vielmehr die Belohnung für die Finisherzeit eine entscheidende Rolle spielt. Um dies weiter zu untersuchen, betrachten wir ein weiteres Rennen, das ebenfalls zum „Grand Slam of Ultrarunning“ gehört: den Wasatch Front 100 Mile Endurance Run. Dieses Rennen, das durch die technisch anspruchsvolle Wasatch Range südöstlich von Salt Lake City führt, ist deutlich schwieriger als der Western States. Daher beträgt die Cutoff-Zeit 36 Stunden, und es gibt drei verschiedene Gürtelschnallen: für Läuferinnen und Läufer, die unter 24, 30 bzw. 36 Stunden bleiben. Auch hier zeigen die Histogramme der Finisherzeiten markante Sägezähne bei den Zeitpunkten 24 und 30 Stunden.

Die Histogramme der Finisherzeiten zeigen starke Ausschläge bei 24 und 30 Stunden.

Den endgültigen Beweis für die Macht der Medaillen liefert ein anderer, langjähriger „Feldversuch“: der Leadville 100. Dieses Rennen, das aufgrund seiner Höhenlage – es verläuft durchgehend auf Höhen zwischen 3000 und 3850 Metern über dem Meeresspiegel – als besonders herausfordernd gilt, hat wie der Western States eine absolute Cutoff-Zeit von 30 Stunden. Die Cutoff-Zeit für die begehrtere Gürtelschnalle (Big Buckle) liegt jedoch bei 25 Stunden, um der größeren Schwierigkeit Rechnung zu tragen.

Wo zeigt sich der viel beschriebene Sägezahn? Liegt er bei der „runden Zahl“ – also einem Tag – oder bei einem Tag und einer Stunde, dem Zeitpunkt, bis zu dem es die große Gürtelschnalle gibt? Die Zahlen zeigen: Die Zieleinläufe konzentrieren sich bei 25 Stunden.

Auch wenn wir Läufer, die stets die intrinsische Motivation hochhalten, dies ungern hören: Es ist die Farbe des Metalls, die Größe der Gürtelschnalle – kurz gesagt, der rein extrinsische Motivator, der den entscheidenden Unterschied macht. Wir Läuferinnen und Läufer reagieren nicht nur auf die Peitsche des drohenden Cutoffs, sondern auch auf das Zuckerbrot der Medaille.

Medaillen mögen Staubfänger in unseren Regalen sein und aus billigem Metall bestehen. Dennoch sind sie große Motivatoren – insbesondere, wenn sie als leistungsabhängige Belohnungen eingesetzt werden. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass auch in Europa der eine oder andere Veranstalter die Finishermedaillen gestaffelt nach Zeit unterschiedlich gestaltet. Ich bin überzeugt: Das Rennen würde schneller werden.

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