Kreaturen der Nacht: Eine Hommage an das Nachtlaufen

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Nachts laufen ist eine besondere Herausforderung. Manchen Trailrunnern bereitet die Dunkelheit ein ungutes Gefühl. Das ist evolutionär erklärbar, meint unser Autor. Warum das Laufen in der Dunkelheit auf ihn trotzdem oder gerade deshalb einen ganz besonderen Reiz ausübt, erklärt er in dieser Glosse und zieht dafür einen Hit der 80er-Jahre zurate.

“Creatures of the night”. Kreaturen der Nacht. So heißt ein Song der Band KISS, den ich als Schüler sehr gemocht habe. Als Teenager habe ich das Lied als eingängige Komm-wir-machen-Party-Hymne gehört. Ich dachte, nur ein Nachtschwärmer könne die aufregenden Abenteuer des Lebens erfahren, die sich vermeintlich weit nach Sonnenuntergang in den innerstädtischen Clubs und Bars abspielen. Niemals hätte ich mir damals vorstellen können, dass mich das Lied auch Jahrzehnte später noch begleiten würde. Nicht mehr als Animationsmusik zum Feiern, sondern als Soundtrack zum Laufen – zum nachts Laufen. „Searching in the darkness, running from the day”, singt der Frontmann Paul Stanley zu Beginn des Songs. Was könnte er damit gemeint haben?

Searching in the darkness

Mit diesen Zeilen beginnt die (zugegebenermaßen in die Jahre gekommene) 80er-Stadionrock-Hymne. Das Suchen in der Dunkelheit. Wonach genau? Vielleicht nach der nächsten Wegmarkierung? Oder gibt es in der Dunkelheit noch anderes zu entdecken?

In der Dunkelheit zu laufen ist für die allermeisten Trailrunner nichts gewöhnliches. Es findet außerhalb des Gewohnten statt. Die ersten Momente, in denen der Lichtkegel der Stirnlampe die unmittelbar vor einem liegende Umgebung erleuchtet, sind deshalb jedes Mal aufs Neue besonders, spannend, aufregend. Für manche auch beunruhigend. Ist das In-der-Nacht-Laufen nicht gefährlich? Evolutionspsychologisch lässt sich die Angst leicht erklären: Ganz objektiv gesehen lauern in der Dunkelheit mehr Gefahren als bei Tageslicht. Feinde können einem leichter auflauern. Es sind weniger Menschen als tagsüber unterwegs.

Der Autor beim Nachtstart des Julian Alps in Slowenien. Foto: Sportgraf

Dazu kommt, dass unser Gehirn versucht die nur schemenhaften, diffusen Informationen, die es visuell und auditiv bekommt, kreativ zu vervollständigen. Da kann es schon mal vorkommen, dass unsere Psyche den besonders gruseligen Horrorfilm, den man vor schätzungsweise 15 Jahren im Kino gesehen hat, plötzlich aus der Schublade holt. Was war das? Kann das sein? Ist das etwa … EIN BÖSER BLUTRÜNSTIGER CLOWN??

Sich dieser mal mehr mal weniger ausgeprägten Angst auszusetzen erfordert Mut. In die Nacht hineinlaufen, lässt sich deshalb als Mutprobe bezeichnen. Das ist es, was in der Zeile „Searching in the darkness“ mit Suchen gemeint ist. Trailrunner begeben sich auf die Suche nach der inneren Stärke sich den evolutionspsychologisch im Menschen verankerten Angst vor der Dunkelheit zu stellen. Die Nacht bietet die Chance das eigene Unbehagen zu überwinden. Wer weiß was man auf dieser Suche alles über sich selbst erfahren kann?

Running from the day

Die zweite Textzeile des Songs besingt die Flucht vor dem Tageslicht. „Running from the day, hiding from tomorrow“. Die Nacht als Refugium vor den Zwängen des Tags. Ein Wegrennen von dem Sehen und gesehen werden, vom Erkennen und erkannt werden. Hinein in die diffuse, mysteriöse, stille Dunkelheit, die einen auf sich selbst zurückwirft. Wann sonst ist man jemals so sehr mit sich alleine wie in der Nacht?

" Ein Ultratrail ohne Nacht ist wie ein Einmaleins ohne Acht. Oder wie ein Superreicher ohne Yacht? "

„Running from the day, hiding from tomorrow“ bedeutet einen Ausbruch und ein Entkommen aus den Erwartungshaltungen, die bei Tageslicht an uns gestellt werden. Wie wir uns verhalten, präsentieren und artikulieren müssen. Die Nacht hat ihre eigenen Gepflogenheiten. In der Finsternis interessiert es niemanden, ob du deine Haare gekämmt hast. Oder ob dir gerade schleimartiges Sekret aus der Nase rinnt. Das Nachtlaufen ist in diesem Sinne eine Entlastung und eine Einladung an uns alle für kurze Zeit einfach nur zu sein. Ungeschminkt existieren, nur für ein paar Stunden. Klingt das nicht wundervoll?

Vielleicht habe ich genau deshalb eine Affinität zum Trailrunning in der Nacht. Bin ich eine Kreatur der Nacht? Es scheint so. Einer meiner ersten Ultras war der leider nicht mehr existierende Fidelitas Nachtlauf oder auch FiNaMa. Ein privates Ablaufen der Zugspitz-Ultratrail-Strecke bei Nacht – der sogenannte „Nacht-ZUT“ – gehört ebenfalls zu meinen Trailrunning-Highlights.

Der Autor nachts in einer Ortschaft beim UTMB. Foto: Sportograf

Ich würde so weit gehen und sagen: Ein Ultratrail ohne Nacht ist wie ein Einmaleins ohne Acht. Oder wie ein Superreicher ohne Yacht? Spaß beiseite. Es würde etwas Essenzielles fehlen, dass insbesondere dem Ultratraillaufen seinen abenteuerlichen Reiz verleiht. Wer nachts läuft, läuft im Inkognito-Modus. Von der Nacht verschluckt werden. In die Dunkelheit abtauchen. Dann zu laufen, wenn der Rest der Welt schläft. Damit gegen gesellschaftliche Normen und vor allem den eigenen Schlafrhythmus verstoßen. Ist das nicht unvernünftig? Exakt.

Ich habe mich selten so frei gefühlt, wie um 3:37 Uhr nachts auf der Rückseite des Mont Blancs, im dichten Nebel auf über 2.000 Meter Höhe, noch über 100 km von der Ziellinie des UTMB entfernt. War das ein angenehmes Gefühl? Nicht wirklich. Für jemanden, der normalerweise in einer hochgradig organisierten Gesellschaft wie der deutschen lebt, kann so ein Moment beunruhigen. Heute, über ein Jahr später, hier an meinem komfortablen Schreibtisch sitzend, die Heizung auf Stufe 3, den heißen Kaffee zu meiner Rechten, will ich solche beunruhigenden Momente der Freiheit unbedingt wieder erleben.

Der Ohrwurm, der mich damals durch die lange erste Nacht des UTMB getragen hat? Und jetzt alle zusammen: Oooooh! We’re creatures of the night! Oooooh! We’re creatures of the night!

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