Humboldt: Abenteurer, Entdecker und erster Ultratrailläufer der Geschichte?

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Trailrunning ist eine junge Sportart. Doch unser Autor behauptet, dass Alexander von Humboldt bereits vor 225 Jahren die Werte des Trailrunnings erkannte und als Vorbild für die Trailikonen von heute dienen kann. War Humboldt nicht nur Abenteurer und Entdecker, sondern der erste Ultratrailläufer der Geschichte?

Gibt es eine Trailläuferin oder einen Alpinisten, den die ganze Welt kennt? Jemanden, der mit seinen Posts bei Social Media über das Laufen in den Bergen mehr Menschen erreicht als Beyoncé, Cristiano Ronaldo oder Barack Obama? Jemanden, der durch sein körperliches Tun bahnbrechende Erkenntnisse gewinnt und einen ganzen Kontinent fasziniert? Heutzutage wohl nicht. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es jemanden: Alexander von Humboldt.

Das, was heutzutage Kilian Jornet oder Ida-Sophie Hegemann tun, ist im Endeffekt eine Fortführung dessen, was Alexander von Humboldt vor mehr als 200 Jahren gemacht hatte. Alle drei faszinier(t)en mit ihren Leistungen ein großes Publikum, wobei Natur und die Bewegung in ihr die Protagonisten ihres Handelns sind bzw. waren. So ließ uns Kilian Jornet unter anderem an seinem Projekt teilhaben, so viele 4.000er wie möglich in den Alpen in möglichst kurzer Zeit zu besteigen. Ida-Sohpie Hegemann gibt regelmäßig Einblicke ihr Training und lässt uns bei ihren Erfolgen und Niederlagen mitfühlen. Beide bedienen sich der Macht der Bilder und stillen die Sehnsucht in uns, selbst solche Abenteuer zu erleben. Sie faszinieren mit ihren Leistungen. Humboldt faszinierte ebenfalls durch seine körperlichen aber auch durch seine wissenschaftlichen Leistungen und ließ die Massen daran teilhaben.

Humboldt als Trailrunner. Fotos: Alle Grafiken wurden mithilfe künstlicher Intelligenz erstellt.

Humboldt hatte natürlich kein Social Media. Er war auch per Definition kein Sportler oder Alpinist. Denn das Konzept des modernen Sports war gerade erst in England geboren worden, genauso wie die Idee des Alpinismus, der sich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur auf die Alpen beschränkte, wie z.B. die Erstbesteigung des Mont Blanc 1786. Humboldt war Wissenschaftler und zeitweise der bekannteste Mensch der westlichen Welt. Dies konnte er nur aufgrund seiner körperlichen Robustheit und seiner überragenden sportlichen Fitness werden.

Der Influencer Humboldt

Seine Popularität resultierte daraus, dass er der erste Wissenschaftler war, der eine Verbindung zwischen Bewegung, Naturerfahrung und Gemütsverfassung herstellen konnte. In seinen Reiseberichten schilderte er seine Beobachtungen und verhalf den interessierten Lesern in aller Welt zu wahren Erkenntnissprüngen. Ein Großteil seiner Bekanntheit war seinen subjektiven Eindrücken zu verdanken, die er miteinfließen ließ. Es lässt sich hier ein Vergleich zu heutigen Beobachtungen ziehen.

Erfolgreiche TrailläuferInnen verdienen einen Großteil ihres Lebensunterhalts dank großartig in Szene gesetzter Abenteuer. Die Bilder und Videos von diesen Läufern erzeugen beim Betrachter ein Gefühl der Sehnsucht. Sie wollen selbst diese Erfahrung machen. Sie wollen selbst leiden, sich selbst freuen, selbst großartige Landschaften genießen. Das Ansehen der Fotos und Videos ist sozusagen eine Ersatzbefriedigung dafür, dass man gerade selbst nicht in den Bergen auf den Trails unterwegs sein kann.

Mit seinen Büchern erreichte Humboldt die Menschen in Europa, für die der amerikanische Kontinent unerreichbar war. Zudem waren seine körperlichen Leistungen für die meisten Menschen seiner Zeit unvorstellbar, genauso wie es die Leistungen der Trailelite heutzutage sind.

" Er brauchte keinen Contentmanager, wie ihn so manche TrailläuferInnen heutzutage haben. "

Markus Brennauer

Höhenweltrekord am Chimborasso

Humboldt war von 1799 – 1805 in Mittel- und Südamerika unterwegs, wo er unter anderem den zur damaligen Zeit höchsten bekannten Berg der Welt besteigen wollte, den Chimborasso. Humboldt hatte sich mit seinem Begleiter Bonpland bis auf etwa 5.600 Meter nach oben gekämpft, als sie von einer unüberwindbaren Gletscherspalte gestoppt wurden, die ihnen den Aufstieg zum Gipfel des 6.310 m hohen Vulkans unmöglich machte.

Humboldt hatte trotz der Strapazen des Aufstiegs zahlreiche Messinstrumente durch Schnee und Eis mitgenommen und konnte mit Hilfe dieser die exakte Höhe bestimmen. Trotz ihres Scheiterns war bislang kein Mensch weiter vom Erdboden entfernt gewesen als diese Expedition. Dieser Höhenweltrekord für Bergsteiger sollte 30 Jahre Bestand haben. Wenn man die Berichte dazu liest, dann kann man nachvollziehen, welch körperlichen Strapazen sich die beiden Abenteuer ausgesetzt hatten.

Heutzutage wäre solch eine Expedition vermutlich quasi live in den Social-Media-Kanälen zu sehen gewesen. Spätestens am Abend wären die ersten Fotos und Videos auf unseren Smartphones gewesen. Humboldt konnte erst Jahre nach der Besteigung die Menschen mit seinen Erzählungen begeistern. Er ließ die Menschen mit fesselnden Erzählungen und Zeichnungen an seinen Abenteuern und seinen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen teilhaben. Dieses Storytelling beherrschte Humboldt. Er brauchte keinen Contentmanager, wie ihn so manche TrailläuferInnen heutzutage haben.

Alexander von Humboldt am Chimborazo. Gemälde von Friedrich Georg Weitsch. Foto: Public Domain

Bewegung in der Natur

Natürlich laufen die Jornets, Hegemanns und Dauwalters primär nicht in den Bergen, um andere Menschen zu begeistern oder um ihren Social-Media-Account mit Content füllen zu können. Alle haben eine intrinsische Motivation. Alle haben offensichtlich Spaß an dem, was sie tun. Denselben Spaß, den jeder von uns hat, wenn er oder sie in den Bergen, im Wald oder vielleicht auch nur im Stadtpark auf den Trails unterwegs ist. Mittlerweile ist es wissenschaftlich gesichert, dass das Bewegen in der Natur unzählige positive Auswirkungen auf die Psyche und den Körper des Menschen hat.

Doch vor mehr als 200 Jahren war dem nicht so. Die Begeisterung für die Natur sollte sich erst Jahrzehnte später entwickeln, die Begeisterung für das Laufen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Humboldt aber wusste sehr wohl, warum er so gerne in der Natur war und seinen Körper immer wieder an sein Limit brachte. Und er teilte dieses Wissen mit anderen Menschen.

Humboldt entdeckte das Runner’s High

So schilderte Humboldt, dass ihn große körperliche Anstrengungen aufheiterten und die Natur „den wilden Drang in ihm besänftigen“ würde. Für Humboldt war Natur vor allem Wildnis. Werden wir durch körperliche Anstrengung nicht ebenfalls erheitert? Besänftigen wir durch das Laufen nicht irgendeinen wilden Drang in uns?

Heutzutage wird dieser wahrscheinlich durch unseren bewegungsarmen und stressigen Alltag unterdrückt, der uns oftmals an den Schreibtisch fesselt. Erst durch das Laufen können wir dem natürlichen Bewegungsdrang nachgeben und zu uns selbst finden. Dass dies mitunter in der Natur am einfachsten funktioniert, haben wir Trailläufer für uns erkannt. Denn die Naturerfahrung lässt den Menschen spüren, woher er kommt, dass er Teil dieser Natur ist und nicht nur irgendein Gefangener des Alltags. Humboldts Empfindung, durch körperliche Anstrengung erheitert zu werden, könnte man heutzutage mit dem viel zitierten „Runner’s High“ gleichsetzen oder einfach auch nur mit der Floskel „Freude an Bewegung“. Ohne diese Freude an der Bewegung hätte der deutsche Gelehrte seine fast sechs Jahre andauernde Expedition wohl kaum unternommen.

Alexander von Humboldt, Selbstportrait in Paris (1814). Foto: Public Domain

Der Etappenläufer Humboldt

Im Endeffekt hatte Humboldt an einem mehrwöchigen Ultra-Trailrennen teilgenommen, das ihn durch Wüstenregionen und zu den höchsten Andengipfeln geführt hatte. So hatte er z. B. im Sommer und Herbst 1800 in knapp fünf Monaten 2.775 Kilometer (teilweise zu Fuß, teilweise mit dem Boot) zurückgelegt. Dabei musste er sich im Dschungel, im Gebirge und in Wüsten orientieren, seinen Proviant für mehrere Wochen transportieren und wusste tagsüber oftmals nicht, wo und wie er übernachten sollte. Ganz zu schweigen von den Krankheiten, den wilden Tieren und den hygienischen Bedingungen, denen die Expeditionsteilnehmer ausgesetzt waren.

Hier gab es keine Kontrollpunkte, an denen man sich zwischendurch verpflegen hätte können. Es gab nicht wie bei beim Transalpine Run festgelegte Unterkünfte oder wie bei anderen Etappenrennen Kleidertransporte. Er konnte auch nicht im Vorfeld jemanden anrufen oder Verpflegung irgendwo deponieren. Er hatte keine Supporterteams, die ihm Gels, Riegel oder Flasks reichen konnten. Es konnte mehrere Tage dauern, bis sie wieder auf ein Dorf oder eine Mission trafen, bis dahin waren Humboldt und seine Gefährten auf sich alleine gestellt.

Humboldt liebte die Gipfel

Am meisten Spaß bereitete ihm die Besteigung von Bergen und Vulkanen. Dabei ging es ihm nicht nur um die körperlichen Herausforderungen oder die Aussicht auf neues Wissen. Berge bezauberten Humboldt, so zumindest die Biografin Andrea Wulf. „Da war noch ein eher metaphysischer Aspekt. Jedes Mal, wenn er auf einem Gipfel oder einem hohen Bergkamm stand, war er so hingerissen von dem Ausblick, dass seine Fantasie ihn noch höher hinauftrug.“ „Sie linderten“, so sagte er, „die tiefen Wunden, die die reine Vernunft manchmal schlug.“ In diesen Worten wird sich sehr wahrscheinlich der ein oder andere Trailläufer wiederfinden.

" Würde Humboldt heute leben, er wäre ein Trailläufer. "

Markus Brennauer

Berge als Flucht vor dem Alltag

Mit den tiefen Wunden, die die reine Vernunft schlugen, meinte er wohl die von außen auferlegten Konventionen, denen sich auch ein Freigeist wie Humboldt teilweise beugen musste. So hatte er z. B. trotz seines anfänglich riesigen Vermögens, das ihm seine verstorbene Mutter hinterlassen hatte, im Laufe seines Lebens die eine oder andere Stelle annehmen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen (Deutsch-Französischer Krieg,…) zwangen ihn außerdem oftmals zu Planänderungen, vor allem was seine Expeditionen in fremde Länder anbelangte.

Diese reinen Vernunftentscheidungen kennen wir alle. Wie gerne würden wir vielleicht an einem herrlichen Sommermorgen lieber in die Berge fahren als zu unserem Schreibtisch im Mehrraum-Büro. Doch unser Gewissen, geleitet von Vernunft und gewissermaßen von den gesellschaftlichen Verpflichtungen dazu gezwungen, lässt uns an der Kreuzung in Richtung Arbeit abbiegen, anstatt den Blinker in Richtung Berge zu setzen. Wenn das liebe Geld nicht wäre, würden wahrscheinlich viele von uns sofort auf Teilzeit umstellen und der Sehnsucht nach den Bergen und der Natur folgen. Für Humboldt bedeuteten Berge Freiheit, viele Trailläufer empfinden wahrscheinlich ebenso.

Würde Humboldt heute leben, er wäre ein Trailläufer. Er würde seinen Bewegungsdrang in den Bergen ausleben. Ob er eigene Projekte durchziehen oder sich mit anderen in Wettkämpfen messen würde, wäre reine Spekulation. Sicher ist nur eins: Humboldt war seiner Zeit voraus. Er hatte als einer der Ersten erkannt, dass der Mensch sich in der Natur selbst finden kann. Natur, Bewegung, eine Aufgabe und Menschen um sich herum. Mehr braucht es nicht, um Mensch zu sein.

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