Die Wege unter unseren Füßen – Jeder Trail hat eine Geschichte

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Wir laufen Kilometer um Kilometer, erklimmen Berge und erobern die Trails unserer Umgebung. Doch wer hat diese Wege ursprünglich angelegt und zu welchem Zweck? Hinter jedem Trail verbirgt sich eine Geschichte. Einige davon hat unser Autor Tobias entdeckt.

Auf den ersten Blick ist der Forstenrieder Park im Münchner Süden ein eher langweiliges Waldgebiet: eine Monokultur von Fichten, durchzogen von einem Gitter aus »Geräumten«, kilometerlangen Forstweg-Geraden – der Albtraum eines jeden Trailläufers.

Bei näherem Hinsehen kann man dort kleinere Wege entdecken, die sich durch das Raster der Geräumten schlängeln. Einer davon führt in sanften Schwüngen vom Hochufer der Isar in Richtung Westen. Kaum jemand biegt auf ihn ab, nur ab und zu eine Reiterin oder ein Reiter, selten Läuferinnen oder Läufer. Manche Abschnitte sind fast zugewachsen.

Vor zweitausend Jahren war das anders. Damals war dieser unscheinbare Pfad eine der wichtigsten Verkehrsachsen nördlich der Alpen: die Via Julia. Boten des römischen Kaisers ritten eilig in Richtung Augusta Vindelicum, der damaligen Provinzhauptstadt, die heute Augsburg heißt. Handwerker schlurften an den mannshohen Meilensteinen vorbei. Legionäre marschierten über den feinen Kies. Ochsen zogen die schwer beladenen Karren der Kaufleute. Staatsbeamte fuhren in gefederten und gepolsterten Reisewagen.

Wer sich dieses Treiben vorstellt, während er über die uralte Trasse der Via Julia trabt, dem verfliegt die Langeweile. Vielleicht fällt einem noch ein, dass viele Jahrhunderte nach den Römern die Wittelsbacher, das alte Adelsgeschlecht, im Forstenrieder Park einst ihre Treibjagden veranstalteten. Der letzte König aus dem Haus Wittelsbach, Ludwig III., erlegte dort der Überlieferung nach am 7. November 1918, dem Tag vor seiner Absetzung durch die Revolutionäre, noch einen Hirschen. Es war seine letzte königliche Tat. Anschließend packte er seine Zigarrenkiste ein und floh im Schutz der Nacht in einem Automobil, von dem die königlichen Insignien entfernt worden waren, in ein Versteck auf dem Land. Noch heute kann man im Forstenrieder Park mit etwas Glück einem Hirschen begegnen. Einem König allerdings nicht mehr.

Alle Fotos: La Sportiva

Solche Geschichten erwecken die Wege, auf die wir heute unsere Laufschuhe setzen, zum Leben. Einst gingen dort Pilger auf ihren wunden Füßen. Schmuggler schleppten Alkohol und Tabak über die Berge, immer auf der Hut vor den Zollbeamten, die dort Streife gingen.

Über eine Schotterstraße, die sich aus dem Tauferer Ahrntal in Südtirol hoch ins Bergdorf Tesselberg windet, ratterten im Jahr 1964 italienische Carabinieri mit einem Panzer. Sie waren auf der vergeblichen Jagd nach den »Puschtra Buam«, die sich gegen die Eingliederung ihrer Heimat in den italienischen Staat wehrten. Die Puschtra Buam jedoch hatten sich auf der anderen Talseite in einer Hütte versteckt, die nur über einen aberwitzig steilen Steig erreichbar war – zu steil für die Carabinieri. Es ist ein großartiger Steig, und noch eindrucksvoller, wenn man seine Geschichte kennt.

Woher kommt dieser Weg? Diese Frage ist fast immer spannend. Manche Wege verraten es mit ihren Namen. Einer der steilsten Trails, die ich kenne, heißt »Schulweg«, er brachte früher die Kinder von Südtiroler Bergbauern möglichst schnell in die Dorfschule hinunter.

Buchstäblich Geschichte gemacht hat der »Franzosensteig«, ein ruppiger Schmuggler- und Jägerpfad bei Mittenwald. Er führt von bayerischem Boden über einen Sattel im östlichen Ausläufer des Wettersteingebirges ins Tiroler Hochtal Leutasch. Im Winter 1805 stiegen die napoleonischen Truppen, geführt von einem ortskundigen bayerischen Jäger, dort hinüber – daher der Name des Steigs. Mehrere tausend Franzosen, einer nach dem anderen, schlichen über den verschneiten Steig. So umgingen sie die Tiroler Verteidiger in der Leutascher Schanze und fielen ihnen in den Rücken. Nach wenigen Stunden kapitulierten die Verteidiger. Ein paar Tage später fiel auch Innsbruck. Ganz Tirol, inklusive Gardasee, kam zu Bayern. Die bis heute spürbare Verstimmung zwischen Bayern und Tirolern hängt auch mit dem Franzosensteig zusammen.

Einen Franzosensteig gibt es auch im Antholzer Tal in Südtirol. Sein Name stammt aus der derselben Zeit, hat aber ganz andere Gründe. Die einheimischen Frauen und Mädchen nutzten den abseits der Talstraße gelegenen Pfad, um Begegnungen mit den Soldaten der französischen und bayerischen Besatzungstruppen zu vermeiden. Er ist also eher ein Anti-Franzosensteig.

" Bei manchen Wegen kann man ihre Herkunft beim Laufen spüren. "

Bei manchen Wegen kann man ihre Herkunft beim Laufen spüren. Alte Eisenbahntrassen haben eine möglichst sanfte, ausgeglichene Steigung von höchstens drei Prozent und nehmen dafür auch lange Umwege in Kauf. Waalwege und Levadas folgen dem Fluss des Wassers in Kanälen und Leitungen. Jägersteige sind steil und direkt. Die alten Zustiege zu Almen und Bergbauernhöfen sind oft so angelegt, dass sie nicht von Lawinen, Muren oder Windbruch verlegt werden. Daher bleiben sie oft auch bei schlechten Bedingungen laufbar. Auf manchen Römerstraßen, zum Beispiel am Fernpass, sind heute noch die Karrenspuren zu sehen, die sich im Laufe von Jahrhunderten in den Fels eingegraben haben.

Eine Sonderstellung kommt den Wegen zu, die die bayerischen Könige im Gebirge bauen ließen. Am Königsstand bei Garmisch zum Beispiel, am Herzogstand über dem Walchensee, an der Soiernspitze im Karwendel und in den Gegenden um die Schlösser Linderhof und Neuschwanstein. Könige wanderten nicht, schon gar nicht rannten sie. Sie ritten. Da Pferde es nicht allzu steil mögen, sind diese Wege mit behutsamer Steigung angelegt – was auch heutige Trailläufer zu schätzen wissen. Wer es steiler mag, kann an der Soiernspitze den »Lakaiensteig« nehmen, auf dem einst die Diener des Königs zu Fuß vorauseilten.

" Der »Märchenkönig« Ludwig II. nutzte sie auch für einsame Ausritte in die dramatische Szenerie der Berge, manchmal sogar nachts, wie in einer Oper seines Lieblingskomponisten Richard Wagner – oder wie bei einem Ultratrail. "

Die königlichen Reitwege dienten oft der Jagd. Der »Märchenkönig« Ludwig II. nutzte sie auch für einsame Ausritte in die dramatische Szenerie der Berge, manchmal sogar nachts, wie in einer Oper seines Lieblingskomponisten Richard Wagner – oder wie bei einem Ultratrail. Wie ein Trailläufer liebte Ludwig II. auch die Süßigkeiten. Da er aber nicht lief, nahm er zu – bis er nicht mehr reiten konnte. Seine Diener mussten ihn auf die Berge tragen. Auf die Schöttelkarspitze führt ein gewundener Steig, über den Ludwig II. einst in einer Sänfte schwebte, um in einem Pavillon das prächtige Gipfelpanorama zu genießen. Der Anstieg ist auch ohne übergewichtigen König auf den Schultern hart genug.

Eine persönliche Geschichte verbindet mich mit dem Pfad über das Trainsjoch bei Bayrischzell, das ohnehin ein toller Laufberg ist. Heute ist dort nur noch an alten Markierungssteinen erkennbar, dass der Pfad genau an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland verläuft. In einer anderen Zeit, vor einigen Jahrzehnten, arbeitete mein Onkel Helmut dort als Zollbeamter. An einem Dezembertag kurz vor meiner Geburt patrouillierte er auf dem Grenzpfad über das Trainsjoch. Er geriet in die Abenddämmerung – das war gefährlich damals, ohne Stirnlampe mit LED und Akku. Um der Dunkelheit zu entkommen, nahm er eine Abkürzung hinab in einen steilen Graben, brach durch ein Schneebrett über einem Felskamin und starb an einem Schädelbasisbruch. Ich konnte ihn nicht kennenlernen, aber wenn ich am Trainsjoch unterwegs bin, bin ich auch mit ihm unterwegs.

Wer mit Legionären, Schmugglern und Königen läuft, hat keine Langeweile. Kennt ihr noch spannende Geschichten zu den Trails, auf denen ihr lauft? Schreibt sie in die Kommentare.

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