Die Schöne oder das Biest: Die vielen Gesichter einer Hausstrecke

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Wir alle haben eine Hausstrecke. Manchmal schätzen wir das Vertraute, manchmal verfluchen wir das Immergleiche. Ein Nachdenken über eine ganz besondere Hassliebe.

Es gibt diese eine Stelle an der Isar, an der ich eigentlich immer stehen bleibe – egal auf welcher Uferseite ich mich gerade befinde. Ich halte kurz inne und schaue auf einen massigen Felsen, mitten im Fluss. Es wirkt fast so, als habe ihn da jemand einfach hineingesetzt. An der obersten Spitze befindet sich eine Figur, das Bild eines Mannes. Der Fels heißt Georgenstein. Und jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeikomme, frage ich mich, was es damit auf sich hat.

Foto: Salomon/margaux le map, Aufmacherfoto: UTMB

Aber erst einmal weg vom Isarufer und ins angrenzende München. Hier ist es mir schon oft passiert: Ich fahre mit meiner Familie irgendwo durch die Stadt und sage dann plötzlich und unkontrolliert etwas wie: „Hey Leute, wir sind hier übrigens gerade auf einer meiner Hausstrecken”. Am Anfang war die Reaktion eher Irritation oder verlegenes Schulterzucken und wenn ich Glück hatte, kam ein “ok, cool” zurück. Inzwischen lächeln die Kinder aber meistens nur noch verständnisvoll und tauschen wissende Blicke aus. In einer WhatsApp-Nachricht würden sie hierfür vermutlich das augenrollende Emoji verwenden.

Irgendwann hatte mich meine Tochter aber dann doch mal gefragt: “Was ist denn bitte eine Hausstrecke?“ Tja, was ist das eigentlich? Als Sprachwissenschaftler stelle ich fest, dass ich semantisch hier erstmal nicht weit komme. ‘Haus-Tür’ ist klar. ‘Lauf-Strecke’ auch. Aber ‘Haus-Strecke’? Und auch der Duden hilft nur mäßig, weil er viel zu kurz greift, wenn er definiert: “Strecke, auf der ein Sportler, eine Sportlerin ständig trainieren kann und die er/sie deshalb besonders gut kennt”.

EIne Hausstrecke hat viele Gesichter

Wenn ich den Begriff bei Google eingebe, kommt bei mir übrigens erstmal ganz viel über Motorräder. Warum eigentlich? Das bleibt wohl das Geheimnis des Algorithmus in Mountain View.

Natürlich muss ich keiner Läuferin und keinem Läufer erklären, was eine Hausstrecke grundsätzlich ist. Wir alle kennen den Begriff und führen ihn fest in unserem aktiven Wortschatz. Und dennoch fasziniert mich dieses Phänomen: “Hausstrecke”. Gibt es das in anderen Sportarten auch? Würde im Fußball oder Tennis jemand von “Hausplatz” sprechen? Oder beim Schwimmen jemand von “Hausbecken”?

Die Hausstrecke lässt sich nicht mit wenigen Worten erklären, kindgerecht vielleicht also gar nicht. Sie hat viele Gesichter und ist vom Charakter ähnlich einem sehr engen Freund oder einer Freundin, der man wirklich nahesteht. Eine Freundschaft ist etwas Besonderes, sie kann aber auch problematisch werden, wenn sie etwa Krisen und Zeiten der Distanz durchstehen muss.

Foto: Salomon

Und wenn wir schon beim Stilmittel der Personifikation angekommen sind, würde ich behaupten, die Hausstrecke ist die Schöne und das Biest in einem. Manchmal die eine, manchmal das andere und manchmal irgendetwas dazwischen.

Klar ist: Sie ist immer da. Mir gibt das Sicherheit. Ich weiß, woran ich bin, wenn ich meine Hausstrecke laufe. Ich kenne jede Stelle, weiß, wo es leicht und wo es schwer ist. Ich kann mit ihr (fahrt)spielen, oder es einfach laufen lassen. Ich kann ein hartes oder ein lockeres Training absolvieren, kann mich konzentrieren oder die Gedanken schweifen lassen. Mal geht es bergauf und mal bergab – wie im Leben eben, mit dem entscheidenden Unterschied, dass ich das Profil meiner Hausstrecke sehr genau kenne und mich dadurch auf das Auf und Ab einstellen kann.

Als jemand, der Routinen liebt, hilft mir die Hausstrecke, wenn ich mich mal nicht entscheiden kann, wo, wie und ob ich laufen soll. Die Hausstrecke geht immer irgendwie. Da gibt es keine Ausreden, da bleibt keine Zeit für Grundsatzfragen und spontane morgendliche Sinnkrisen.

" Es ist das ewige Lied der Krisen, die man durchlaufen muss, um einen Ausweg zu finden aus der dann doch nur scheinbaren Sinnlosigkeit des eigenen läuferischen Betreibens. Auch dafür ist die Hausstrecke gut und bietet Übersetzungshilfe für das Leben abseits des Laufsports. "

Ludwig Reicherstorfer

Die Hausstrecke ist dabei nicht nur zu Hause, sondern auch Heimat. Auf meinen Hausstrecken liegen oftmals Orte, die mit vielen Erinnerungen verbunden sind, etwa der Olympiapark in München, der Flaucher an der Isar oder das Vereinsgelände eines großen international erfolgreichen Münchner Fußballvereins, auf dessen Rasen ich vor einer Ewigkeit immer wieder auf Autogrammjagd gegangen bin und damals noch nicht ahnen konnte, dass ich einmal nicht auf dem Platz, sondern regelmäßig um den Platz herum laufen würde.

Auf der Hausstrecke findet man immer wieder zu sich, kann Gedanken in die Vergangenheit, in die Gegenwart oder in die Zukunft gehen lassen. Ich treffe übrigens keine wichtige Entscheidung, ohne vorher “darüber laufen gewesen zu sein”. Der beste Ort dafür: die Hausstrecke.

Und doch, bei aller Verbunden- und Geborgenheit, kann es manchmal mühsam werden. Dann wird die Routine zum quälenden Pflichtprogramm, zur Sisyphos-Arbeit. Man läuft, verrichtet seine Arbeit in Anstrengung und Monotonie nur äußerst widerwillig, kämpft sich in die Erschöpfung und weiß doch nicht so recht, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel. Man kennt alles schon zu genau, man empfindet keine Abwechslung mehr und man weiß, was noch alles kommt, wie weit der Weg noch ist. Der Meilenstein der Route wird dann zum Grabstein der eigenen Motivation. Routine wandelt sich von Aufgehobenheit zu Ausweglosigkeit, das Laufen vom Rennen zum Sich-Verrennen.

Aber ist Sisyphos in der griechischen Mythologie nur derjenige, der immer wieder diesen Stein den Berg hochrollen muss? Der seine Aufgabe nie beenden kann, weil sie unerfüllbar ist? Ist er nicht auch jemand, der durch List dem Tod entkommen ist? Sogar mehrmals? Es ist das ewige Lied der Krisen, die man durchlaufen muss, um einen Ausweg zu finden aus der dann doch nur scheinbaren Sinnlosigkeit des eigenen läuferischen Betreibens. Auch dafür ist die Hausstrecke gut und bietet Übersetzungshilfe für das Leben abseits des Laufsports.

Foto: Salomon

Apropos Berg. Gerade für Trailrunner gibt es mindestens noch den großen Bruder der Hausstrecke, der einen ganz eigenen Charakter pflegt: der Hausberg. Er macht es uns nur selten einfach und verwehrt sich uns sogar hin und wieder komplett. Er ist vom Wesen deutlich komplizierter und selbstbewusster. Im Winter etwa, wenn er sich unter eine Schneedecke begibt und uns das Signal: Heute bitte nicht. Oder wenn das Wetter so schlecht ist, dass man besser die Füße von der Strecke lässt. Dann ist der Hausberg tatsächlich auch mal nicht laufbar und man muss wissen, wann man die besondere Beziehung nicht überstrapazieren darf.

Dann ist es gut, wenn man noch die eine oder andere Alternative hat: zum Beispiel eine Hausstrecke. Weil die schließlich immer da ist. So wie der Georgenstein. Inzwischen habe ich übrigens nachgesehen: Einst, Anfang des 19. Jahrhunderts, ist der Flößer Georg Müller mit seinem Floß dagegen gekracht. Der Fels stellte damals ein gefährliches Hindernis dar. Als Dank für seine Rettung ließ der Flößer ein gut sichtbares Heiligenbild des St. Georg auf dem Felsblock anbringen. Und ich denke mir nun jedes Mal: Wie gut, wenn man einen echten Schutzpatron an seiner Strecke hat.

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