Zum Finish gezwungen: Die 120 km-Tortur beim Julian Alps Trail Run

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Es ist ein typischer DNF-Tag. Für unseren Autor Christian Bruneß geht nicht viel beim Julian Alps Trail Run in Slowenien. Er geht während des Rennens mehrere Male K.O. und finisht dennoch. 12.000 Zeichen die uns sehr bildhaft mitnehmen auf 120 Kilometer Grenzerfahrung.

„Ich möchte aussteigen“, sage ich dem ersten Freiwilligen, den ich mit meinen müden Augen außerhalb einer malerisch gelegenen Berghütte, die als Verpflegungsstation dient, zu Gesicht bekomme. „I want to quit“, wiederhole ich. Dieses Mal etwas bestimmter und in einer Sprache, die er auch verstehen kann. Der slowenische Freiwillige, ein älterer Herr, groß gewachsen, grauer Schnurrbart, Hirtenhut, schaut mich fragend an. So als ob er nicht wüsste, dass dies Kilometer 88 eines Ultra Trails ist und es Trailrunner geben soll, die daran zu denken wagen, nicht die kompletten 120 Kilometer zu Ende zu laufen. „Quit? Not here. In Dovje“, antwortet er mir schließlich. „In Dovje? Where is Dovje?“, frage ich zurück. „Next aid station. 15 Kilometres“, antwortet der ältere Herr.

Mein Fokus verlässt den Augenkontakt meines Gegenübers, schweift nach rechts, dorthin, wo der Trail weitergehen wird. Ich sehe kleine Figuren in der Ferne. Es wird plötzlich ganz still. Ich spüre, wie ich zusammensacken möchte, einfach umfallen, innerlich implodieren. Meine Vorfreude auf den Moment des Aussteigens, das DNF, die Erlösung: zerplatzt. Ich bin verdammt dazu weiterzumachen. Wie in einem Albtraum, aus den man nicht aufwachen kann. Bin ich ein Darsteller in der Horrorfilmreihe „Nightmare on Elm Street“, in dem den bemitleidenswerten Hauptcharakteren genau das passiert? Der Freiwillige scheint mich zu beobachten, so als ob noch etwas offengeblieben wäre, als gäbe es noch wichtige, bislang unverrichtete Dinge zu erledigen. Er durchbricht das Schweigen mit einer ernst gemeinten Frage, die gleichzeitig vor Galgenhumor strotzt und die aus einem einzigen Wort besteht. Einem Wort, dessen Verwendung in dieser Situation bereits signalisiert, dass es hier nichts zu diskutieren gibt. „Cola?“

Der Start des Rennens in Radovljica. Foto: Sportograf

14 Stunden vorher stehe ich in einem kleinen Ort namens Radovljica. Wir befinden uns im Norden Sloweniens, nahe der österreichischen Grenze. Die Dunkelheit ist eingebrochen, die große Uhr des beleuchteten Kirchturms zeigt, dass es kurz nach 9 Uhr abends ist. Eine in Tracht gekleidete Kapelle spielt volkstümliche Musik. In einer halben Stunde werden sich rund 400 Trailrunner inklusive mir auf den Weg machen. Ich höre in mich hinein. Na, hast du Lust, frage ich mich selbst. Wenn ich etwas spüre, dann ist es eine Aversion. Ich will mich nicht anstrengen, nicht kämpfen, nicht leiden müssen. Die letzten Wochen und Monate waren in vielerlei Hinsicht zu viel für mich. Ich fühle mich schon vor dem ersten Laufschritt wie ein angeschlagener Boxer in Runde 11. Der nunmehr bedrohlich nahekommende Startschuss wird der Klang der Ringglocke zur finalen Runde 12 sein. Ding ding ding! Fight! Die Frage ist nur: Wird es ein K. O. oder eine Niederlage nach Punkten?

Es warten 120 Kilometer und 5000 Höhenmeter. Das Cold Weather-Kit wurde aktiviert. Die Veranstalter rechnen mit 0 °C in der Nacht. „Don’t be suprised if it starts to rain“, wird uns über einen Lautsprecher mitgeteilt. Ich nehme die Ansagen stoisch, fast apathisch hin. Juliane sagt mir am Telefon, dass ich einfach mal loslaufen soll. „Komm erst mal rein, du hast am Anfang ja nie Lust“, beruhigt sie mich. Und dann geht es los.

Durch die Nacht. Foto: Sportograf

Die Nacht. Im Grunde genommen mag ich es in der Nacht zu laufen. Geheimnisvoll und etwas unheimlich zwar, aber auch friedlich und sanft. Tatsächlich: Ich komme rein. Die ersten 10-20 km rolle ich vor mich hin, fokussiert und pingelig darauf bedacht, locker zu laufen. Ich achte auf die Verpflegung, trinke genug, vermeide Fehler. Es keimt Hoffnung in mir auf: Vielleicht ist es ja doch möglich, einen langen Ultra-Trail ohne Quälerei ins Ziel zu bringen, wenn allein die Ausführung mit Köpfchen vonstattengeht, man seine „Erfahrung spielen lässt“?

Ich komme voran. Es sind mittlerweile 40 spektakulär unspektakuläre, über durch Wälder und Ortschaften führende Schotterwege vergangen. Es ist laufbar, sehr laufbar. Ich denke zwischenzeitlich, dass der Rennsteiglauf in Thüringen mehr Trailanteil hat, als die Wege beim Julian Alps. Aber just in den Momenten werden doch immer wieder kurze Singletrailpassagen eingestreut und ich verwerfe den Vergleich wieder. Ich mache unerzwungen Plätze gut. Ist dies hier vielleicht doch einer dieser unverhofft perfekten Tage, an denen sich alles leicht anfühlt?

Müde am Morgen. Foto: Sportograf

Irgendwann nach der Marathonmarke kommt der Kipppunkt. Ein mir bekannt vorkommendes Schwächegefühl, ein absinkender Puls, einsetzendes Frieren, düstere Gedanken. Wie bei der Klimakatastrophe setzt ein Kipppunkt eine nicht mehr aufhaltbare Kettenreaktion in Gang. Eine Krise löst immer weitere Krisen aus, die sich gegenseitig verstärken und, na ja, wie soll ich es vorsichtig formulieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit die apokalyptische Vollkatastrophe zur Folge haben werden. Ich kenne diesen Prozess aus anderen langen Wettkämpfen. Ich habe ihn häufig ausgehalten, weniger häufig habe ich das Handtuch geworfen. Wie werde ich heute damit umgehen?

Ich nehme noch mehr Tempo raus und richte meine volle Konzentration auf die große Verpflegungsstation in Žirovnica bei Kilometer 55. Dort soll es warmes Essen geben. Außerdem habe ich dort eine Dropbag mit Ersatzkleidung und reichlich Verpflegung platziert. Der helle Mond erleuchtet die schneebedeckten Berggipfel oberhalb des Tals. Der Gedanke, in der schwereren zweiten Hälfe auf 2000 Meter aufsteigen zu müssen, dort oben in die Kälte, nagt an mir. Soll ich bei der Hälfte einfach aussteigen? 55 Kilometer sind doch auch schon was. Immerhin hätte ich es probiert. Der Gedanke an ein frühzeitiges DNF ist verlockend.

Foto: Sportograf

In der Turnhalle der VP in Žirovnica wird mir meine Dropbag angereicht. Ich setze mich auf eine der Turnmatten. Mechanisch beginne ich damit, Dinge zu erledigen, die man gewohnheitsmäßig in einer VP erledigen würde. Währenddessen grübele ich. Rausgehen? Weitermachen? Da hinten, der Typ steigt aus. Aber die Läuferin hier, die sieht zwar müde aus, aber sie läuft weiter. Ich verbringe 25 Minuten in dieser VP, ziehe mich um, esse Suppe, gehe auf Toilette, trinke Kaffee. Es geht mir etwas besser.

Vielleicht muss es einfach nur hell werden? Ein neuer Tag bringt ganz bestimmt auch neue Energie mit sich, oder? Ehe ich mich versehe, verlasse ich die Turnhalle und begebe mich erneut in die kalte Nacht. Es ist 5 Uhr morgens. Juliane sagt mir per Sprachnachricht, dass der Sonnenaufgang um 6:50 Uhr erwartet wird. Keine zwei Stunden mehr. Mit diesem kleinen Zwischenziel im Blick schleppe ich mich voran.

" Ultralaufen ist eine Konfrontationstherapie, eine Körper-und-Geist-Inventur und eine allumfassende Bilanzierung der energetischen und emotionalen Ein- und Ausgaben. "

Christian Bruneß

In einem Ultra kriegt man nichts geschenkt. Gar nichts. Jede kleine Schwäche, sei es physisch oder psychisch, wird im Laufe des Rennens offengelegt. Ultralaufen ist eine Konfrontationstherapie, eine Körper-und-Geist-Inventur und eine allumfassende Bilanzierung der energetischen und emotionalen Ein- und Ausgaben. Ich merke: Es war ein Fehler weiterzumachen. Umkehren? Nein, dafür bin ich zu weit weg. Mein Puls bleibt im Keller. Wenn ich versuche zu traben, wird mir schwindelig. Wenn ich wandere, wird mir kalt. Ich fühle mich immer erschöpfter, schwerfälliger, müder. Es wird zwar langsam heller, aber es ändert nichts: Der Ofen ist aus und jeder Versuch der Neuentfachung ist ein schnell verglimmendes Strohfeuer.

Die VP bei Kilometer 88. Foto: Sportograf

Die nächste VP erreiche bei Kilometer 69. Ich bin mittlerweile weit oberhalb des Tals. Nicht mehr weit, denke ich, dann erreiche ich das Filetstück der ganzen Strecke. Einen Abschnitt, den ich in einem Youtube-Video gesehen habe. Kilometerlang läuft man den Grat eines mit grasbewachsenen, links und rechts nur sanft abfallenden Bergs entlang, umrahmt von einem wundervollen und einzigartigem Bergpanorama. Ich komme zwar nur langsam voran und fühle mich unheimlich entkräftet, aber irgendwie, na ja, soll ich mir das absolute Highlight wirklich entgehen lassen? Bin ich die ganze Nacht durchgelaufen, nur um kurz vor dem Teil, dessen Gehalt an Grandiosität schlichtweg als Trailporn bezeichnet werden muss, aufzugeben? Bin ich wirklich so tief gesunken? Nein, bis zur nächsten VP noch, sage ich mir. Jetzt noch ein bisschen die Aussicht genießen und dann genüsslich in ein Shuttle steigen und ab zurück ins Hotel. Fantastisch.

Ein kurzer technischer Abschnitt. Foto: Sportograf

Verdammter Idiot, denke ich. Ich meine mich selbst. Schon wieder habe ich den Punkt verpasst, das Rennen zu verlassen. Ich stecke inmitten eines Anstiegs, dessen Steigung um die 40 % betragen muss. Ein rumänischer Läufer vor mir stöhnt. Ein englisches Schimpfwort mit dem Anfangsbuchstaben F bricht aus mir heraus. Er stöhnt erneut. Wieder rufe ich etwas auf Englisch mit erhöhtem Fäkalsprachengehalt. Und so stöhnen und fluchen wir uns gemeinsam den Berg hinauf. Ein Läufer aus Slowenien gesellt sich dazu. Er erklärt mir, dass der schöne Grasgrat, den ich bei YouTube gesehen habe, dieses Jahr nicht Teil der Strecke ist. Zu vereist sei es dort oben. Wir laufen einen Alternativberg. Zwar nicht ganz so pittoresk, aber trotzdem „pretty nice“, sagt er. Wie jetzt? Nur ganz nett? Aber ich wollte doch den ultimativen Trail der Träume sehen, denke ich zerknirscht, während es immer weiter bergauf geht.

Ich fange an, vereinzelte Pausen einzulegen. An einem Stein, der die richtige Größe und eine einladende Sitzfläche hat, komme ich nur noch schwerlich vorbei. Oben angekommen, habe ich keinen Sinn mehr für die Ästhetik der umliegenden Gebirgslandschaft. Ich kann nur noch an Kilometer 88 denken. Die nächste VP. Dann endlich werde ich es gutseinlassen. Eine gute Anzahl an Kilometern für mein DNF. Ein amtlicher Ultra. Da kann niemand was sagen.

Die letzten Kilometer. Foto: Sportograf

„Cola?“ Ich wache aus meiner spontan eingesetzten Trance auf. Ich erinnere mich. Eben habe ich den Freiwilligen mit dem grauen Schnurrbart und dem Hirtenhut gesagt, dass ich aussteigen wolle und er hatte mir gesagt, ich müsse noch 15 Kilometer weiterlaufen. Was dann folgt, ist das, was der Ultraläufer Michael Arnstein einmal als die Endphasen des Ultralaufens definiert hat. Die emotionale Phase: Ich laufe nicht mehr mit meiner Ausdauer oder meinen Muskeln, nein, ich laufe auf und mit Emotionen. Der „Beast-Mode“ ist eingeschaltet. Ich grunze und schnaufe mich durch die nächsten Kilometer, mache Pause, wenn ich muss, und bemitleide mich er- und ausgiebig.

Die darauffolgende Phase ist die spirituelle Phase. Diese tritt ein, als ich auf eine leicht abfallende Forststraße stoße und anfange zu laufen. Ich kann kaum fassen, dass ich laufe, erst 50, dann 100 Meter und schließlich minutenlang. Ich merke, wie sich mein Körper dagegen wert, wie mein Kreislauf rebelliert, wie alles in mir Stopp schreit. Doch ich laufe diesen Downhill einfach hinab. Ich laufe und fühle, dass ich weinen muss. Ich schneide schmerzverzerrte Grimassen. Ich bin von allen guten Geistern verlassen, aber von Dämonen besessen. Die spirituelle Phase halt.

" Mein Läufer-Über-Ich sagt mir: Bei 100 von 120 Kilometern steigt man nicht mehr aus, insofern man vorankommt. "

Christian Bruneß

Als ich die 100 km-Marke überschreite, nehme ich davon Notiz und beschließe, dass ich den Punkt zum Aussteigen verpasst habe und nun finishen muss. Mein Läufer-Über-Ich sagt mir: Bei 100 von 120 Kilometern steigt man nicht mehr aus, insofern man vorankommt. Zum Finish gezwungen, könnte die Überschrift für den Race Report heißen, denke ich, und marschiere weiter. Die letzten 20 km sind schmerzhaft, endlos, nervenaufreibend, brutal. Lange Geraden auf Asphalt, immer wieder kleine Anstiege, technische Downhills. Das Ziel will nicht näher kommen. Und doch, schließlich laufe ich an meiner Unterkunft vorbei und weiß: Jetzt sind es nur noch 900 Meter. Das K. O. in Runde 12 ist ausgeblieben. Ich gebe mir Mühe, auf den letzten Meter zu lächeln, überquere die Ziellinie und lege mich irgendwo auf den Boden.

Der Zieleinlauf. Foto: Sportograf

Das Finish eines Ultra Trails hat einen Wert für sich, habe ich einmal gesagt. Ob das stimmt? Ich weiß es nicht. Ist das stumpfe Aushalten und Ertragen eine Leistung? Darf ich stolz auf mich sein? Ultra Trails werfen oftmals mehr Fragen auf, als dass sie Antworten liefern. Der Julian Alps hat jedenfalls mit mir gesprochen. Er hat gesagt: Quit? Not here.

In der Folge 82 von „Vom Laufen“ sprechen Christian und Juliane ausführlich über dieses Rennen.

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