Wenn Tempo Leben rettet – Alltag eines Trailrunners bei der Bergwacht

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Simon ist Trailrunner aus Leidenschaft und arbeitet im Schichtdienst in einem Krankenhaus. Zusätzlich engagiert er sich ehrenamtlich als Bergretter bei der Bergwacht Grainau. Spätestens seit der ARD-Serie „In höchster Not“ steht die Bergwacht wieder vermehrt im Rampenlicht. Simon war ebenfalls Teil der Serie. Wir besuchten ihn in Grainau, um herauszufinden, wie es sich anfühlt, im Einsatz gefilmt zu werden, und wie sich Trailrunning und Bergrettung miteinander vereinbaren lassen.

Manches fällt einem leichter, wenn man jung ist. Zum Beispiel, nachts aus dem Italienurlaub heimzukehren, nach nur einer Stunde Schlaf aufzustehen und um 3:54 Uhr mit zwei Freunden auf die Zugspitze zu laufen: einen anspruchsvollen Klettersteig hoch und einen nicht minder anspruchsvollen Klettersteig wieder herunter. Nach etwa sechs Stunden und 20 Kilometern mit 2200 Höhenmetern ist Simon zurück im Tal. Zum Glück hat er heute frei. Es besteht also keine Gefahr, dass ein Alarm eingeht und er im Zweifelsfall umkehren und ein paar zusätzliche Höhenmeter zum Einsatzort zurücklegen muss. Könnte passieren, alles schon vorgekommen. Simon Preibisch ist Bergretter bei der Bergwacht Grainau und begeisterter Trailrunner. Uns interessiert, wie beides zusammenhängt und ob seine Trailrunning-Fähigkeiten im Einsatz im Zweifelsfall Leben retten können. Dazu haben wir uns mit dem jungen Läufer im Bergwachthaus in Grainau verabredet. Eine Runde auf den Trails stand natürlich auch auf dem Programm.

Simon Preibisch Porträt. Alle Fotos: Christian Bruneß

Auf dem in die Jahre gekommenen Klingelschild im Parkweg 5 in Grainau steht handschriftlich schlicht „Bergwacht“. Das Schild wirkt wie eine reine Formalie, denn der gleichlautende, große, gemalte Schriftzug auf der Hausfassade ist bereits aus großer Entfernung zu sehen. Das Haus selbst ist, wie viele Häuser in Grainau, typisch bayerisch, wie ein Haus nur bayerisch sein kann. Der Holzbalkon ist mit Holzschnitzereien und prall gefüllten, knallig-bunten Blumenkästen geschmückt. Simon ist Grainauer durch und durch. Das Zugspitzdorf, nur wenige Autominuten südlich von Garmisch-Partenkirchen gelegen, zählt gerade einmal 3.564 Einwohner. Simon kennt viele davon beim Namen. Wenn er durch die Gassen des beliebten Ausflugsorts geht, grüßt er ständig Passanten. Seinen Namen kennen die meisten hier sowieso. Spätestens seit der Ausstrahlung der ARD-Doku-Serie „In höchster Not“ hat der 21-Jährige, der wie 21 aussieht, aber von der Persönlichkeit deutlich reifer wirkt, nicht nur im Ort, sondern über die Grenzen des Werdenfelser Landes hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt. Die TV-Produktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat die Grainauer Bergwacht neben anderen Bergwachten im deutschen Alpenraum für die Serie über mehrere Monate begleitet – ein echter Publikumserfolg! Der Sender spricht von einem seiner erfolgreichsten Dokus. Rund 4 Millionen Menschen haben die Serie bereits gesehen, und weitere Staffeln sollen folgen.

Hier wohnt die Bergwacht.

Der klassische „Simon-Einsatz“

Wir betreten die neu angebaute Garage der Bergwacht. Hier sind die Spuren des Filmteams noch deutlich zu erkennen. Auf einem Tisch liegen kleine, schwarze Actioncams, eine große Systemkamera, Mikrofone und jede Menge Kabel und Akkus. „Durch die Serie können wir nur profitieren. Wir haben jetzt viele Interessierte, die Bergretter werden wollen, eigentlich mehr als wir ausbilden können.“ Die Ausbildung ist langwierig und anspruchsvoll – sie dauert bis zu drei Jahre, vorausgesetzt alle Prüfungen werden beim ersten Mal bestanden. „Do war scho Zug drauf“, erinnert sich Simon und verfällt dabei in einen leichten Dialekt, der aber auch für Nicht-Bayern gut verständlich ist. „Es gibt nicht den reinen Sommerbergwachtler oder Winterbergwachtler. Bei uns muss man beides machen. Beides wird geprüft.“

Viele scheitern, geben auf oder überlegen es sich anders. Nicht Simon. Er ist seit zwei Jahren dabei. Sein Beruf als „Pflegefachmann Intensiv“ im Klinikum Garmisch-Partenkirchen und sein großes Hobby Trailrunning kommen ihm dabei zugute. Warum? „Vor allem natürlich wegen der Fitness.“ Wenn ein Einsatz einen schnellen Bergwachtler zu Fuß benötigt, dann ist das ein klassischer „Simon-Einsatz“. Jeder hat seine Stärken und Schwächen und wird dementsprechend eingesetzt. Dieses Jahr absolvierte er den Luftretter-Kurs und ist jetzt auch bei Hubschrauber-Einsätzen dabei. Das macht Sinn – eine terrestrische bzw. bodengebundene Rettung im Zugspitzgebiet wäre schlicht zu zeitaufwendig.

" Ich dachte mir: Straße laufen kann jeder, wir haben hier die Berge vor der Tür, da geht nur Trailrunning. "

Simon Preibisch

Die Themen Lebensrettung, Ehrenamt und Vereinswesen spielten in Simons Leben schon früh eine große Rolle. Mit fünf Jahren meldet er sich bei der Wasserwacht an – anfangs nur zum Spaß am Schwimmen mit seinen Freunden, dann als Bereitschaft und als Teil der Sanitätskolonne. „Ich war eigentlich überall dabei, nur nicht bei der Feuerwehr.“ Vor acht Jahren begann er mit dem Laufen, dann kam das Klettern dazu. Ein Nachbar war Einsatzleiter bei der Bergwacht. So kam eins zum anderen. Woher kommt diese Begeisterung? „Meiner Mutter war es schon immer wichtig, dass ich viel an der frischen Luft bin. Ich bin ein Wald- und Wiesenkind.“ Zum Trailrunning kam der gesprächige Grainauer durch den Zugspitz Ultratrail (ZUT). Als er 12, 13 war, befanden sich Start und Ziel des Wettkampfs hier in Grainau. „Ich habe gesehen, wie die Leute völlig fertig und voller Dreck den Jägersteig runterkamen. Die Emotionen waren krass. Meine Freunde und ich saßen die ganze Zeit an der Strecke und feuerten die Läufer an. Wir schliefen die ganze Nacht nicht, so wie die Läufer auch.“ Letztlich war es dann nur eine Frage der Zeit, bis er selbst mit dem Trailrunning begann. „Ich dachte mir: Straße laufen kann jeder, wir haben hier die Berge vor der Tür, da geht nur Trailrunning.“ Mittlerweile ist der ehemalige Zuschauer selbst dreimal am Start des ZUT gewesen. Die 70-km-Distanz, der Leutasch-Trail, ist seine bisher längste gelaufene Strecke („Da bin ich komplett eingegangen in der Hitze“).

Simon zeigt uns einen Teil der Kletterausrüstung.

Man weiß nie, was passiert

Zwischen dem ZUT und Simon herrscht eine enge Verbindung. Bei der diesjährigen Ausgabe übernahm Simon die Rolle des Vorläufers für den letzten Abschnitt des ZUT100, der neuen 100-Meilen-Distanz. Ein Vorläufer prüft ein letztes Mal, ob alle Markierungen korrekt angebracht sind – Meter für Meter. Keine Aufgabe für Untrainierte. Im Ziel angekommen fährt er kurz nach Hause, nur um kurz darauf mit dem Hubschrauber zu einem Einsatz an der Zugspitze zu fliegen. „Du weißt einfach nie, was passiert. Es kann ein brutaler Einsatz von jetzt auf gleich reinkommen, und an anderen Tagen passiert einfach gar nichts.“ Plötzlich piept seine Uhr. Was ist los? Wird er gebraucht? Ein Einsatz? „Na, WhatsApp“, winkt er lässig ab.

Wenn man Simon zuhört, wird einem fast etwas schwindelig. Woher nimmt der Bursche bloß die ganze Energie? Hat der Junge überhaupt noch Freizeit? Tatsächlich ist Simon frisch verliebt und in einer Beziehung. Viel will er nicht verraten, aber die Serie war wohl nicht ganz unschuldig am Zustandekommen des Liebesglücks. Der Trailrunner mit den kurz geschnittenen blonden Haaren betont – jetzt wirkt er wieder deutlich älter als Anfang 20 –, dass es für die Partner von Bergwachtlern, die ja in der Regel alle auch noch berufstätig sind, nicht leicht ist. Das habe er gleich zu Anfang kommunizieren müssen: Wenn die Pflicht ruft, gibt es kein Wenn und Aber. Das ist für eine Beziehung eine echte Herausforderung. „Wenn die andere Seite damit nicht klarkommt, kann es nicht funktionieren.“ Im Prinzip will und muss er (fast) allzeit bereit sein. Die Wegstrecke von der Wohnung zur Bergwacht beträgt weniger als einen Kilometer. Wenn es schnell gehen muss, ist Simon mit dem Rad in wenigen Minuten da.

Kurze Pause an der Neuneralm oberhalb Grainaus.

Viele seiner Freundschaften pflegt er mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Aber nicht nur. Auch in der seit rund zwei Jahren aktiven Garmischer Trailcrew „Nomads“ ist der großgewachsene Simon aktiv. Wenn jemand aus der Crew Fragen zu den aktuellen Bedingungen an der Zugspitze hat, ist Simon oftmals die erste Auskunftsquelle. Die Gruppe ist mittlerweile so groß, dass es im Zweifelsfall immer jemanden gibt, der oder die Lust auf einen Lauf hat. Die Flexibilität kommt ihm entgegen, denn ein verbindlicher Trainingsplan passt nicht zu seinen oft unvorhersehbaren Tagesrhythmen. Wenn der Ehrenamtler Dienst hat, muss er einsatzbereit sein. Dann geht er meistens gleich früh morgens um 5 Uhr laufen. Kurze Nachfrage: Schläfst du auch mal? Mit wenig Schlaf kommt er gut zurecht. Letzte Nacht waren es immerhin 5 Stunden.

Die Leichenbergesäcke liegen im Regal

Wir betreten den Hauptmaterialraum. Links und rechts stehen Regale voller gut sortiertem Material. Jedes Equipment hat seinen Platz. Wer erst suchen muss, verliert im Zweifelsfall lebenswichtige Minuten. Hier gibt es Kletterzubehör, Karabiner, Seile in unterschiedlichen Längen und Stärken, Bergesäcke, Rettungswinden für die Luftrettung, einen Rettungsschlitten (auch Akja genannt), eine Gebirgstrage. Und dann, fast geht der Satz in der Aufzählung und Beschreibung des Materials unter: „Hier haben wir die Leichenbergesäcke.“ Das Thema Tod ist für die Männer und Frauen der Bergwacht ein ständiger Begleiter. Auch er musste schon Tote bergen. Letztes Jahr waren es in drei Wochen fünf Leichenfunde, die die Bergwacht Grainau bergen musste. „Am Ende kann es auch immer einen selbst erwischen. Das Risiko muss dir bewusst sein. Selbst wenn wir als Retter noch so vorsichtig und erfahren sind, kann immer was passieren.“

Blick von einem Trail der ZUT-Strecke hinab nach Grainau.

Wir gehen eine Treppe runter. An den Wänden hängen Bilder von gemeinsamen Ausflügen und Bergbesteigungen. Wir sehen fast ausschließlich Männer. Bergwachten sind vielerorts, vielleicht besonders hier im konservativen Oberbayern, größtenteils eine reine Männerdomäne. Mit Ausnahmen. In Grainau gibt es seit einem Jahr eine fertig ausgebildete Bergwachtlerin – in der Bergwachtwelt eine kleine Revolution. In manchen Orten der Region gibt es bis heute keine Frau. Offiziell, weil sich niemand bewirbt. Dabei gab es, so erfährt man unter Eingeweihten, in Wirklichkeit einige, die es versucht haben.

Im Keller befindet sich ein mit Matten ausgelegter Boulderraum. Daneben eine Art Vorratskeller. Einige Flaschen hochprozentiger Spirituosen zeugen von geselligem Beisammensein. Im nächsten Raum stehen die persönlichen Schränke der Bergwachtler. Simons Spind ist gar nicht so unaufgeräumt wie angekündigt. Zwei Rucksäcke, zwei Paar Schuhe, lange Kleidung, die blau-rote Bergwachtjacke und ein paar Gel-Packungen. „Die sind vermutlich schon abgelaufen, aber mei, schlecht werden sie ja nicht“, lacht er. Im Einsatz gibt er den oftmals geschwächten Patienten gerne mal eins davon ab. „Hilft besser als Traubenzucker.“

An einem der Dorfbrunnen in Grainau.

Trailrunning am Berg als Sicherheitsrisiko?

Trailrunner sind oftmals mit minimaler Ausrüstung unterwegs – nach dem Prinzip „leicht ist schnell“. Eine Tatsache, die zu Kritik und Anfeindungen führen kann. Zu riskant sei das Laufen am Berg und dann noch „in diesen Turnschuhen“, heißt es dann gerne. Wie sieht Simon das? Immerhin kennt er beide Seiten: Er ist begeisterter Trailrunner einerseits und auf Sicherheit und Vorsicht bedachter Bergretter andererseits. „Ausreichend Trinken und ein Erste-Hilfe-Set sollte man im alpinen Gelände schon immer dabei haben. Am Ende muss es jeder für sich selbst wissen. Letztens meinte jemand zu mir: „Die Bergwacht wird euch schon noch holen.‘ Gut, dass ich weiß, wer gerade Dienst hat“, habe ich geantwortet.“ Nicht nur die Ausrüstung, sondern auch seine Schlagfertigkeit nimmt Simon mit an den Berg.

Auf unserem gemeinsamen Lauf, direkt am Eingang der Höllentalklamm, seiner Hausrunde oberhalb Grainaus, sprechen wir noch einmal über die Serie. Es hat Spaß gemacht. „Klar, am Anfang mussten wir uns alle an die Kameras gewöhnen, aber dann war es so, als wären sie gar nicht da.“ Die vielen Pressetermine aber könnten langsam etwas abnehmen. Alle seien sie gekommen, vom „ZDF-Frühstücksfernsehen“ bis zur „Sendung mit der Maus“. Ja, er hat ein paar Instagram-Follower dazugewonnen, aber es geht bei der Bergwacht nicht um Prestige, Ruhm, Anerkennung. Es geht um Menschen. Um die Retter und die zu Rettenden. Wir passieren ein gelbes Wanderschild und biegen talwärts ab. Grainau 10 Minuten. Eine kleine Erfrischung muss sein. „Hoi, a Tasse Kaffee und oan Spezi, bitte.“ Man kennt sich. Simon lässt sich auf eine schattige Holzbank fallen. Wir sitzen nicht in einem angesagten Café, von denen es hier nicht viele gibt, sondern im bodenständigen Imbiss der Minigolfanlage am Kurpark. Heute drückt wieder die Hitze. Es erinnert an den Zugspitz Ultratrail vor etwas mehr als einer Woche, dessen Strecke wir eben für ein paar Kilometer abgelaufen sind. Die gesprühten roten Markierungspunkte am Boden waren noch gut zu erkennen, obwohl sie schon zügig verblassen und bald verschwinden werden. Der Lauf, der Simon zum Trailrunner gemacht hat: um den höchsten Berg Deutschlands herum. Die Zugspitze – sein Trailrevier und sein Einsatzgebiet.

Wer die Bergwacht finanziell unterstützen möchte, tut das am Besten mit einer Spende an die Stiftung Bergwacht. Die Stiftung Bergwacht steht hinter der Bergwacht Bayern und stellt sicher, dass ausreichend Mittel für die Bergrettung, den Natur- und Katastrophenschutz in unwegsamem Gelände vorhanden sind. Dabei steht im Vordergrund, die Organisation professionell auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten.

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