„Trailrunning wäscht meine Gedanken frei“ – Unterwegs mit dem Running Club Ukrainotschka

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Alles Laufbar-Autorin Juliane Bruneß hat sich für einen Tag einem Laufclub für ukrainische Geflüchtete angeschlossen. Nadija, die Initiatorin des Vereins spricht nicht gern über den Krieg, lieber läuft sie auf Trails.

Da, wo sie normalerweise laufen, herrscht Krieg. Da, wo sie heute laufen, finden sich Reste einer durchzechten Partynacht, inmitten der Studentenstadt Freiburg.

„Achtung, Scherben!“, ruft Nadiya, die der sechsköpfigen Gruppe vorantrabt. Ihre Trailrunningschuhe überwinden die grünglitzernden, rasierklingenscharfen Hindernisse mit einer Leichtigkeit, die auch die nächsten Kilometer anhält. Auf dem Vorfuß landend, joggt sie federnd über Stufen, Wurzeln oder eben kleinere Scherbenhaufen. Die beiden Vitaliis, Lilia, Günter und Zahar machen es ihr nach, letzterer mit einem extra hohen Jump, spielerisch, wie beim Hürdenlauf. Der gute Grip seiner Laufschuhe verspricht Halt auf dem sandigen Schlossbergplatz. Der Turnbeutel, dessen Schnüre seinen Oberkörper umwinden, ist weniger sprungfest. Das Konstrukt dient ihm als Trailrunningrucksack. Zahar muss die Schnüre mit beiden Händen fixieren, zumindest beim Springen. Beim Joggen hält das Provisorium.

Der Duft von warmen Brötchen begleitet die Gruppe noch 100 Höhenmeter über die langsam erwachende Altstadt hinaus, in den Schwarzwald hinein. Es ist nicht nur das angestrahlte Freiburger Münster, das die Szenerie wie den optimalen Instagram-Spot wirken lässt. Es sind nicht nur die weichen Farbtöne lila, blau, orange, nicht das laue Lüftchen, das Vogelgezwitscher, der Bäckereiduft. Vielleicht ist es die ausgelassene Stimmung. Jedenfalls ist es der krasse Kontrast zu den zerbombten Bildern aus der kriegsgebeutelten Ukraine, aus der alle aus der Gruppe kommen.

Nadija hat in Freiburg eine Laufverein für ukrainische Geflüchtete gegründet.

Nadiya ist eine athletische Frau, ihr hellblondes Haar trägt sie einseitig nach hinten geflochten. Ihr Deutsch wirkt oft förmlich. Fast jeden Satz, den sie sagt, könnte man so drucken.

„Ich bitte euch, diese Haftungserklärung zu unterzeichnen“ sagte sie auf Deutsch wie Ukrainisch, kurz zuvor ernst wie förmlich beim Treffpunkt, dem Mountainshop Freiburg. Und mit einem verschmitzt hochgezogenen Mundwinkel ergänzend: „Ich weiß, das ist jetzt sehr Deutsch.“ Das mit der Haftungserklärung ist einer der Punkte, den man bei der Weiterbildung zur Vereinsmanagerin lernt, die die 44-jährige Ukrainerin gerade macht. Sie hatte zum Sunrise Trailrun am Schlossberg eingeladen und dafür soll alles korrekt sein, sprachlich wie rechtlich.

Es ist sechs Uhr an einem dieser Aprilmorgen, der auch mit einem Sommertag verwechselt werden könnte. Nadiya lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Der Mountainshop ist ihr Arbeitsplatz. Der Schwarzwald, sagt sie, sei nicht Heimat, aber Zweitheimat geworden und: „Draußen zu sein bedeutet für mich Freiheit.“

Alle dürfen mitmachen, auch russische Läufer

Auch auf die Frage, was den von ihr gegründeten Verein Running Club Ukrainotschka e.V. auszeichne, antwortet sie druckreif: „Wir sind ein Deutsch-Ukrainischer Sportverein, der den Sport fördert und die Flüchtlinge unterstützt. Wir bieten gute Integrations-Möglichkeiten durch die gemischte Lauftreffs, gemeinsame Wanderungen, Radtouren und weitere sportliche Aktivitäten. Außerdem unterstützen wir ökosoziale Projekte in Freiburg und Umgebung.“ So ist es auch tatsächlich auf der Webseite zu lesen.

Anfang 2022, kurz nach Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, entwickelte sich auf Nadiyas Initiative aus einem Lauftreff von drei Ukrainerinnen eine Bewegung, der sich immer mehr Läufer anschließen, die davon durch Hörensagen erfahren. „Ich wollte unbedingt meine Landsleute unterstützen“, sagt sie. Sie engagiert sich als Lauftrainerin, 2022 unterstützte sie dann aber auch bei der Wohnungssuche, half, sprachliche Barrieren abzubauen, Anträge auszufüllen. Sie ist der festen Überzeugung, dass Trailrunning in schweren Zeiten mental hilft. Insbesondere wegen der Naturnähe. Alle dürfen mitmachen. Seit Oktober 2022 ist der Running Club Ukrainotschka ein eingetragener Verein mit 54 Mitgliedern, darunter nicht nur Läufer aus der Ukraine. Auch eine Läuferin aus Russland hat sich der Gruppe angeschlossen.

" Draußen zu sein bedeutet für mich Freiheit. "

Nadija

Prestigeträchtige Rennnamen wie Rennsteig, Zugspitz und Eiger Ultratrail, Matterhorn Ultraks oder der Wildstrubel by UTMB belegen ihre Erfahrung als Ultratrailläuferin. In der Ukraine lief sie auch schon einen Ultratrail, den Chornohora Sky Marathon. Das war 2018, vier Jahre vor dem Krieg. Ob Halbmarathon oder 100 Meilen – Hauptsache Laufen, am liebsten naturnah auf unbefestigtem Untergrund. Irgendwann möchte sie das größte Trailevent der Welt, den UTMB in Chamonix, laufen.

Über den Krieg wird nicht gesprochen

„Alle anhalten!“, abrupt stoppen alle Sohlenpaare, die inzwischen fein verwurzelten Untergrund fassen. Zeitgleich verstummt das Getrippel und überlässt die Geräuschkulisse dem lauten Schreien der zahlreichen Amseln und den tiefen Atemzügen der Trailrunner. Irgendwo rumpelt eine Straßenbahn oder ist es die Müllabfuhr? Das sind ferne, urbane Geräusche, die bestätigen: Hier hat alles seine Ordnung, alles ist gut, hier sind wir sicher.

Näher klingt Lilias Keuchen, die die Pace der Gruppe nicht halten kann und im inzwischen steilen Anstieg ein paar Meter zurückgefallen war. Nadiya hat das natürlich im Blick und reagiert. Der Stopp wird für Aufnahmen genutzt. Die Ausbeute, Smartphone-Fotos, -Videos und eine komplette Aufzeichnung des Laufs, wird man später auf Instagram und YouTube finden können. Vitalii hat eine GoPro auf dem Schirm seiner Cap befestigt, er will den Sunrise Trailrun nicht nur fragmentarisch festhalten. Auf Ukrainisch wird gescherzt. Irgendwer lacht immer.

Hier, auf dem Trail, scheint der Krieg besonders weit weg. Dass sich Nadiya abseits der Trails intensiv mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine beschäftigt, könnte hier keiner ahnen, hier scheint alles leicht und lustig. Ihre Familie, Freundinnen und Verwandte leben in der Ukraine und möchten nicht flüchten. Beziehungsweise könnten sie das auch gar nicht. Aus finanziellen Gründen und weil es einfach zu gefährlich wäre, ins Kriegsgebiet zu reisen oder heraus. So können Nadiyas zwei Kinder ihre Großeltern erst einmal nicht wiedersehen. Nachfragen dazu werden freundlich, aber kategorisch blockiert.

„Über den Krieg reden wir beim Laufen nie. Wir konzentrieren uns auf die gemeinsame Leidenschaft fürs Laufen auf Trails wie für die Natur. Der Verein soll eine Oase darstellen, um vom Krieg wegzukommen und etwas Schönes zu erleben“, stellt Nadiya, wieder sehr förmlich, klar und weiter, etwas weniger geschliffen und in gedämpfter Tonlage: „Weißt du, Trailrunning ist für mich wie eine Waschmaschine. Es wäscht die Gedanken frei.“ Lilia hat aufgeschlossen und um auch ihr eine Verschnaufpause zu gönnen, deutet Guide Nadiya auf die inzwischen unter uns liegende Stadt, der rot lackierte Fingernagel des Zeigefingers weist neben das Freiburger Münster: „Hier unten ist der Stadtgarten, hier trainieren wir gerne, da kann man auch gutes Treppentraining machen. Da hinten ist der Kaiserstuhl“, sie wendet den Kopf wieder in Richtung Schwarzwald: „Und jetzt, jetzt laufen da hoch, zum Sonnenaufgang.“ Aus dem ungeflochtenen Teil ihrer Frisur haben sich blonde Strähnen befreit, die frei im Wind wehen.

" Weißt du, Trailrunning ist für mich wie eine Waschmaschine. Es wäscht die Gedanken frei. "

Nadija spricht auf dem Trail nicht gern über den Krieg in der Ukraine

Laufen als trotziges "Jetzt erst recht"

Laufen, wenn ansonsten vieles oder alles sinnlos scheint, Laufen als ein trotziges „Jetzt erst recht“ – dafür gibt es auch ein Beispiel aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine. Im Oktober 2022 liefen laut The New York Times 15 Ukrainer und Ukrainerinnen bei der „Big Dog’s Backyard Ultra Satellite Team-Weltmeisterschaft“ mit. Das Konzept dieses Mannschafts-Wettkampfs sieht vor, dass innerhalb einer Stunde eine 6,67 Kilometer-Runde absolviert wird. Jedes der 37 teilnehmenden Länder stellte je ein Team mit 15 Läufern. Immer wieder wird diese Runde abgelaufen. Wie oft? So oft es eben geht. Ein für Außenstehende scheinbar sinnloses Unterfangen. Und dennoch starteten diese 15 Menschen. In der Ukraine, wo der Krieg schon seit 230 Tagen tobte. Ein Teilnehmer berichtet, dass er die Information, dass in seinem Land Krieg herrscht, nicht verarbeiten konnte. Also ging er trainieren. Je mehr es schmerzte, desto mehr wollte er laufen. So wie die 14 anderen. Laufen unter Luftschutzsirenen. Zum Gedanken sortieren. Oder, wie Nadiya es vielleicht ausdrücken würde: Um die Gedanken frei zu waschen. Mit Trailrunning.

Unter dem Motto, jetzt erst recht zu laufen und durch das Laufen ein Zeichen zu setzen, konnten sich beim in der Ukraine stattfindenden Kiew Marathon über 10.000 Teilnehmende einigen: Beim „Unbroken Marathon 2024“ liefen Militärangehörige, Veteranen in der Rehabilitation sowie Hobbyläufer, am 963. Tag des Krieges. Die letzte Finisherin soll laut Veranstaltungsbericht gesagt haben: „Ich laufe für die Ukraine.“

Eine zuverlässige Waschmaschine

Um 35 Meter erweitert der Schlossbergturm die Kuppe des Salzbüchsles, wie die Freiburger die Anhöhe nennen. 200 Höhenmeter über der Stadt erstreckt sich der Blick über weich dahinfließende Täler, Weinberge, gesunde Mischwälder. Am Himmel ein rosa Band, das den baldigen Sonnenaufgang ankündigt. Günter googelt: „Noch 20 Minuten.“ In der exponierten Lage auf dem Turm bläst ein kalter Wind. Zahar öffnet seinen Turnbeutel und zieht eine Jacke hervor, um sie Lilia anzubieten. Vitalii hüpft herum und wackelt am Turmgeländer, zum Aufwärmen. Der Turm schwingt unter Vitaliies Geruckel und im Wind. Alle lachen. Alle sind in Bewegung. Bis sich die Sonne über die Baumwipfel arbeitet. Auf einmal stehen alle still. Nur Zeigefinger oder Daumen bewegen sich auf Smartphones. Der Moment muss festgehalten werden. Kaum ist die Sonne im Ganzen zu sehen, machen sich alle Schuhpaare auf den Weg nach unten. Aufwärmen, laufen, toben. Im Downhill verabschiedet sich Nadyia, um „laufen zu lassen“. Sie scheint alles loszulassen, zum Beispiel die Angst, zu stürzen, und bügelt über die die verwurzelten Pfade hinweg.

In der Stadt wartet das nächste Telefonat mit ihrer Mutter, die in der Ukraine ausharrt. Und ihre zwei Kinder, die Nadyia alleine großzieht. Das nächste Nachrichtenchecken. Es wartet auch der nächste Sunrise Trailrun, der nächste Downhill, die nächste Waschmaschine für freie Gedanken.

„Was die Zukunft betrifft“, so Nadiya nach dem Downhill, mit nach hinten gezogenen Schultern und sehr aufrechter Haltung, „bleibt die Situation für die meisten ungewiss. Viele haben sich inzwischen gut integriert, gehen einer festen Arbeit nach. Andere wiederum sehnen sich danach, nach dem Krieg in ihre Heimat zurückzukehren.“

Die grünglitzernden, rasierklingenscharfen Scherben liegen Stunden später noch immer an ihrem Platz. Aber mit einem großen Satz mit den Trailrunningschuhen gelingt es, sie zu überwinden.

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