David Roche: Mit High Carb und radikaler Liebe zum Western States-Sieg?

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David Roche ist derzeit vielleicht die schillerndste Figur im Ultratrailrunning. Mit radikaler Transparenz und humoristischem Charme lässt uns der erfolgreiche Trainer an seinem Wissen und Leben teilhaben. Der ehemalige Anwalt will den Western States gewinnen und vertraut dabei auf Excel-Tabellen, Kohlenhydrate, Backpulver sowie Verletzlichkeit und Liebe.

Ich will am Start der Läufer mit der schnellsten Zeit über eine Meile sein und mir während des Rennens so viele Kohlenhydrate reinhauen, wie niemand anderes.“
Das selbsternannte Erfolgsrezept von David Roche für den Western States, das älteste 100-Meilen-Rennen unseres Sports, klingt unkonventionell. Unkonventionell? Ich bin mir noch nicht sicher, ob es dieses Wort ist, welches den 36-jährigen US-Amerikaner hinreichend beschreibt. Was definitiv richtig ist: Der Leadville-Sieger bricht mit den klassischen Stereotypen, die Ultratrailrunner in der letzten Dekade auszeichneten. Er hat weder Bart noch lange Haare wie Timothy Olson, er ist keine Bergziege wie Kilian Jornet, er spult keine endlosen 100-Meilen-Trainingswochen ab wie Jim Walmsley oder Scott Jurek. Jeder der Genannten war beim Western States schon erfolgreich. David Roche will es ihnen gleichtun – und setzt doch auf gänzlich andere Tugenden und Methoden.

© Cody Bare

High Carb und Spreadsheets

David Roche ist kein überaus erfahrener Ultraläufer. Ganz und gar nicht. Er finishte bisher erst zwei 100-Meiler. Einer dieser Läufe aber beeindruckte nachhaltig. Beim legendären Leadville Trail 100 brach er letztes Jahr den 19 Jahre alten Streckenrekord von Matt Carpenter. Ihr erinnert euch: Das war dieser Typ, dem eine VOmax von 95 nachgesagt wird und dessen Rekorde über Jahrzehnte nicht gebrochen wurden (erst 2023 brach Rémi Bonnet den 20 Jahre alten Rekord beim Pikes Peak Ascent). David Roche hat keine VOmax von 95, wie er selbst eingesteht:
Matt Carpenter ist besser als ich in allen messbaren Fitness-Metriken, wie VOmax und Laktatschwelle. Eine außergewöhnlich hohe Kohlenhydrataufnahme ermöglicht es mir dennoch, mich in Relation zu meinem geringeren Fitnesslevel härter zu pushen als er.“
High Carb ist eines der Lieblingswörter von David Roche. Hill-Sprints, Bicarb, Heat-Suit, Spreadsheet und Ankle-Weights zählen ebenfalls dazu.
„Schuhe an und raus?“ – mit dieser puristischen, vor allem von Anton Krupicka stark verkörperten Grundeinstellung des Ultrarunning-Sports, hat der erfolgreiche Trainer (Roche trainiert unter anderem Profi-Athletinnen wie Claire Gallagher, Grayson Murphy und Allie Ostrander) nichts am Hut. David ist ein Zahlen- und Ausrüstungs-Nerd, jemand, der Wissen aufsaugt wie ein Schwamm und keine Scheu hat, neue Trainingsmethoden an sich selbst auszuprobieren.
Was David Roche aber wirklich einzigartig macht im Vergleich zu anderen Profisportlern, ist seine uneingeschränkte Transparenz. Während zum Beispiel im Profiradsport aus Angst um den Wettbewerbsvorteil der Umhang des Schweigens um neue Erkenntnisse gelegt wird, teilt und erklärt David Roche in seinem Podcast Some Work, All Play, den er zusammen mit seiner Frau betreibt, seine komplette Trainingsphilosophie. Und nicht nur das: Tatsächlich erfährt man im Podcast wirklich alles über das Privat- und Trainingsleben des Sportler-Ehepaares. Unter anderem auch, warum er sich bei seinem Leadville-Rekord den Penis wundlief.
Meghan und David Roche leben in Boulder und haben zwei Kinder. Beide sind wortgewandt, schlagfertig und eben unglaublich offen – was es zu einem großen Spaß macht, ihnen zuzuhören.

David Roche auf der Strecke und im Ziel des Leadville 100. Schaut auf die Hose des Streckenrekordhalters :) © Cody Bare

Postersprüche und Insta-Kacheln

Fast alle Sätze, die David auf sämtlichen Kanälen (Twitter, Insta, YouTube, Spotify, Strava – Roche ist überall) von sich gibt, meist mit schneller, sich überschlagender Stimme, könnte man auf ein Poster drucken. Oder auf eine Insta-Kachel kopieren. Ein paar Beispiele gefällig?

„Ich hab niemals daran geglaubt, dass ich den Leadville-Streckenrekord brechen kann. Ich hatte nur diese Excel-Tabelle, auf der all diese Zahlen standen, die mir sagten, dass es möglich ist.“

Das Spreadsheet – die Excel-Tabelle – ist ein immer wiederkehrendes Requisit im Kosmos des David Roche. Der Athlet ohne Sponsor wird nicht müde zu erklären, dass er eigentlich kein großes intrinsisches Selbstbewusstsein hat. Für den Wissenschaftler sind es die Zahlen auf einem weißen Blatt Papier, die ihm Vertrauen geben. Bei seinem Leadville-Rekord hatte ihm seine Pacing-Tabelle eine Zielzeit von 15:27:00 prognostiziert. Letztendlich lief er: 15:26:34!

 „Ich glaube, ich habe gezeigt, dass wir härter pushen können, als viele denken – länger, als viele denken – und mit weniger Training, als viele denken.“

Roche ist kein Trainingsweltmeister, wenn es um Laufumfang geht. Mehr als 100 Kilometer pro Woche läuft Roche eigentlich nie. Stattdessen setzt der ehemalige Football-Spieler auf Speed. Nicht, dass er die Wichtigkeit des Grundlagentrainings kleinreden würde. Roche ist besessen von Zone-2-Training. Allerdings glaubt er, dass seine Vorteile als ehemaliger Footballspieler in seiner Geschwindigkeit liegen: Je höher sein Top-End-Speed, desto höher auch der für 100-Meiler so wichtige Zone-2-Speed.
„Der, der am Start des Western States die beste Zeit über eine Meile vorweisen kann, hat die besten Chancen, die Welt zu schockieren.“ Auch dieses Insta-Kachel-Zitat schlägt in dieselbe Kerbe.

„Beim GI-Training ist mein Ziel, das Gefühl des Aufgeblähtseins zu provozieren. Studien beweisen, dass man nicht nur seine Kohlenhydrattransporter trainieren kann, mehr Substrate aufzunehmen, sondern auch den Magen, mehr Flüssigkeit zu vertragen. Ganz entscheidend dafür: Man muss gut rülpsen können.“

Die Wörter „rülpsen“, „furzen“ und „kotzen“ fallen im Some Work, All Play-Podcast fast in Dauerschleife. Das hat einerseits eine unterhaltende Funktion, aber auch eine wissenschaftliche:In einem YouTube-Video kippt Roche nach einem 3-Minuten-Intervall zwei Flaschen Kohlenhydratdrink in sich hinein. Der Western States-Aspirant ist wie besessen vom High-Carb-Ansatz.
„High Carb ist die erheblichste Leistungsrevolution, die wir jemals im Ausdauersport erleben werden. Jeder Rekord, der länger als drei Jahre Bestand hatte, wird fallen,“ postuliert der 37-Jährige.
Sein einziger Sponsor – passenderweise: der Sportnahrungshändler The Feed.

David Roche bei seiner Lieblingsbeschäftigung: Carbs schlucken! © Cody Bare

„Wir haben uns geöffnet – und festgestellt, dass auf der anderen Seite der Verletzlichkeit die Liebe wartet.“

Klingt schnulzig? Es ist nicht das einzige Zitat von David Roche, das man ohne Sorge auf einen dieser Abreißkalender drucken könnte. Einige Monate vor seinem phänomenalen Leadville-Erfolg hatte Roche einen schweren Fahrradunfall, bei dem er – angefahren von einem Auto – 30 Meter weit durch die Luft gegen einen Zaun geschleudert wurde. Roche selbst wird nicht müde, dieses Erlebnis als Erweckungsmoment zu beschreiben, der ihm die Liebe zum Leben erkennen ließ.
Tatsächlich hat Roche stets eine unfassbar positive Ausstrahlung. Das Wort „Liebe“ und die motivierenden Feel-Good-Sinnsprüche werden in seinen Podcasts und Videos so inflationär benutzt, dass man sich manchmal wie in einem dieser Selfcare-Seminare wähnt – wären dem nicht die Abhandlungen über magenverträgliches Rülpsen, Bicarb-Timing und Laufbänder mit 20% Steigung vorangestellt.

„Der Pain Cave hat nichts mit Schmerzen wie bei einem Schädeltrauma oder gebrochenen Knochen zu tun. Es geht darum, die körperliche Fassade des Alltags abzulegen und deine Muskeln und Sehnen der Welt zu zeigen.“

David Roche greift in diesem, erneut etwas abstrakten, Zitat den von Courtney Dauwalter geprägten Begriff des „Pain Caves“ auf. Der Läufer aus Boulder ist überzeugt davon, dass er den Streckenrekord in Leadville nur brechen konnte, weil er ohne Furcht lief, bereit, sich allem zu stellen, was ein Ultratrail ihm abverlangt.
Der Pain Cave ist für Roche ein Ort maximaler Offenheit. Diese radikale Verletzlichkeit prägt auch seinen öffentlichen Auftritt. Dass er dafür Gegenwind bekommt, erwähnt er oft – und wirkt dabei fast noch entschlossener.

„Bei Ultratrails sind wir noch lange nicht an den Grenzen der menschlichen Physiologie angekommen.“

Ich war lange skeptisch gegenüber dieser Theorie. Kann es wirklich sein, dass wir in Zukunft endlos Athleten sehen, die Kilians Rekorde brechen? Je länger ich David Roche zuhöre, desto überzeugter bin ich ebenfalls von dieser Position. Wahrscheinlich wird es in 100 Jahren kaum einen Menschen geben, der mit dem Wissen des Jahres 2025 schneller hätte laufen können als Kilian.
Andersherum würde Kilian mit dem Wissen von 2050 wohl selbst jeden einzelnen seiner Rekorde pulverisieren.
Übrigens: Natürlich ist Kilian auch das große Idol von David Roche.

Cool ist anders

Hört man David Roche zu, kann es passieren, dass man sich in einem nerdigen Monolog darüber wiederfindet, ob er seine Bicarb-Kapseln lieber zwei oder drei Stunden vor dem Rennen einwirft – nur um ihn zwei Minuten später dabei zu beobachten, wie er auf dem Berg einen Stein in Herzform aufhebt und über Liebe, Freude und Vulnerabilität philosophiert.
Vielleicht ist es diese Mischung aus Stephen Hawking und Celine Dion, die David Roche so interessant macht.
Mit Sicherheit ist es seine schamlose Transparenz. Und wahrscheinlich auch sein Sinn für Humor und der Fakt, dass er sich selbst nicht sonderlich ernst nimmt:
In Zeiten, in denen Wörter wie Brand Identity und Brand Design Konjunktur haben, trägt David stets diesen Dinosaurier, der einen Berg auf dem Rücken trägt, auf seinem T-Shirt – das Logo seines Podcasts. Dazu trägt er diese grüne Hose, die ihm eigentlich viel zu groß ist. Das Mikro ist an die Seitenpaneele seiner Cap geklemmt. Es sieht aus, als wäre ihm gerade ein Zwerghamster aus dem Ohr gekrabbelt. Cool ist anders.

Wieviel Gels hat Roche während Youtube-Videos schon runtergeschlungen? Wer hat mitgezählt?

Verändert das exponentiell wachsende Wissen unseren Sport?

Wenn ich David Roche lausche, wie er mit sich überschlagender Stimme voller Begeisterung und Enthusiasmus über Heat-, Zone-2- und GI-Training spricht, bin ich elektrisiert – und desillusioniert zugleich. Einerseits ist da der Wissenschaftler in mir, der voller Wissbegier jedes einzelne Wort aufsaugt. Ich bin beeindruckt davon, wie viele Stellschrauben es gibt, um aus unserem Körper wirklich das Maximum herauszukitzeln – und welche immensen Wissensfortschritte in den letzten Jahren gemacht wurden. Die massenhaft purzelnden Rekorde der jüngsten Vergangenheit zeugen davon.
Wohl bei keinem anderen Text, den ich jemals schrieb, bin ich so lang und so tief in das Recherche-Rabbit-Hole versunken. Es ist einfach zu spannend, was David Roche in seinen diversen Publikationen so von sich gibt.
Andererseits bin ich ein wenig traurig, dass keine dieser Methoden zu der Art und Weise passt, wie ich den Sport Trailrunning auslebe. Als Trail-Hedonist feiere ich den Long Run in den Bergen – das pure Element unseres Sports. Ich habe keine Lust, in einem Heat-Suit zu laufen, ich will nicht ständig darüber nachdenken, welche Mittelchen und Pülverchen ich als Nächstes einwerfe, ich meide das Laufband – und mir graust die Vorstellung, bei jedem Lauf Unmengen an Zucker in meinen Körper zu pressen. Allerdings wird mir immer mehr bewusst: Wer im Jahr 2025 den Western States gewinnen will, muss all diese Pfeile im Köcher haben. Wird es David Roche sein? Natürlich hat Roche auch für seine Siegeszeit eine Zahl parat. Er schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass er als Erster in Auburn einläuft auf 1%. Beim Leadville hatte Roche wenig Konkurrenz. Er lief gegen sein eigenes Spreadsheet. Beim Western States stehen die besten Ultraläufer der Welt am Start. Eine der wenigen unberechenbaren Variablen in seiner Tabelle.

Meghan und David Roche sind beide Leistungssportler und auf dem Trail sowie im Alltag ein eingespieltes Team. Sie betreiben zusammen den Podcast "All Work, Some Play". © Cody Bare

David Roche ist ein einzigartiger Typ. Einer, der unser bisheriges Selbstverständnis herausfordert. Einer, der wie kaum ein anderer ein neues Zeitalter im Trailrunningsport verkörpert. Oder wie der ehemalige Jurist mit dem Hang zum Pathos es selbst ausdrücken würde:
„Wir stehen derzeit an der vordersten Front der menschlichen Physiologie – alles verändert sich in einem Tempo, wie wir es noch nie zuvor erlebt haben. Was vor drei Jahren noch Stand der Dinge war, ist Lichtjahre entfernt von dem, wo wir heute stehen. Dieses exponentielle Wachstum mitzuerleben, Teil davon zu sein – und dieses Wissen weiterzugeben – das ist mein Platz. Es geht nicht darum, Anwalt zu sein. Es geht nicht darum, Rennen zu gewinnen. Es geht darum, zu sagen: Wenn ich das schaffen kann, dann kannst du auch das Undenkbare schaffen. Aber wirf ein wenig Backsoda ein, bevor du losläufst.“

© Cody Bare

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