Mit Steven und Anna mache ich mich um sechs Uhr früh auf den ersten Tagesabschnitt von Tag zwei. Während wir in den malerischen Sonnenaufgang laufen, erzählt mir Anna von ihrem Redakteursjob im Berliner Springer-Verlag. Die Mutter eines vierjährigen Sohnes ist Genussläuferin und Fan unseres Vom Laufen Podcasts. Ihr gefällt der etwas andere, weniger leistungsfokussierte Zugang, den Juliane und Christian in diesem Format aufs Laufen werfen. Sie hatte großen Respekt vor der 16 Kilometer langen Morgenetappe, aber der Sonnenaufgang trägt sie bis nach Pfronten, dem ersten Übergabepunkt des Tages.
Übergabe zwei findet vor besonders beeindruckender Kulisse statt. Zwischen Touristenmassen aus aller Welt platzieren wir uns direkt vor Schloss Neuschwanstein in Hohenschwangau. Ein älterer Herr aus Pennsylvania will wissen, was wir da treiben. Wir versuchen es ihm zu erklären, aber ich glaube nicht, dass er es versteht. Er sei auch mal einen Marathon gelaufen, antwortet er platt. Nachdem wir hoch zum Schloss auf breiten Asphaltstraßen liefen, begleitet von elektromotorisierten Pferdekutschen, eröffnet sich auf dem folgenden Abschnitt das komplette Kontrastprogramm für unsere fünf Läufer. Es ist der mit knapp 40 Kilometern und über 2500 Höhenmetern längste Abschnitt der ganzen Woche. Doch damit nicht genug: Das Ammergebirge ist wild, der Hochplattengrat ausgesetzt und unlaufbar. Isa, Benni, Birger, Simon und Elias kommen nur langsam voran. Irgendwann beschließen sie, sich zu trennen und schicken die Schnellen, Simon und Elias, voran. Der Rest der Gruppe entspannt bei Sonnenschein am Forggensee, realisiert aber irgendwann mit Blick auf den Live-Verfolgungstrack, dass das heute ein sehr langer Tag wird. Schließlich steht noch eine Übergabe und ein letzter Tagesabschnitt aus.
Wir diskutieren die Optionen: Den letzten Abschnitt schon starten ohne richtige Übergabe? Ihn ganz auslassen? Oder auf den folgenden Morgen verschieben, was den Folgetag verlängern würde? Es ist die erste richtige Belastungsprobe für unsere Gruppe. Vielleicht aber auch nur für mich. Als Organisator will ich natürlich, dass alles nach Plan läuft. Im Nachhinein aber kann man sagen, dass es genau diese Abweichungen vom Plan, diese ungescripteten Abenteuer waren, die unserer Unternehmung die nötige Würze verliehen und uns enger zusammenschweißten.
Isa, Benni und Birger sitzen inzwischen auf der offenen Pritsche des Forstmobils von Roman, einem Forstarbeiter, der sie netterweise vom Berg hinunterfährt. Ihren Anruf, wir mögen sie doch bitte abholen, können wir vor euphorischem Gelächter kaum verstehen. Simon und Elias folgen weiter dem Track und kämpfen sich über das verblockte Ammergebirge. Elias ist jung und bis in die Haarspitzen motiviert. Der Hamburger lief am Wochenende zuvor schon einen mehrtägigen Wettkampf im Schwarzwald. Im September lief er den Transalpine Run. Bei Crossing Bavaria läuft er jeden Tag mindestens zwei Tagesetappen, meist die längsten und höhenmeterreichsten.
Inzwischen wird es dunkel. Wir gehen ihnen mit Stirnlampen entgegen und treffen Simon und Elias wohlbehalten, aber erschöpft am August-Schuster-Haus. Um 21 Uhr sitzen schließlich alle in den Wohnmobilen. Christian und Juliane bringen Pizzen vorbei, die wir eigentlich bei ihnen zu Hause in Oberau essen wollten. Wir tauschen das Erlebte aus – die Stimmung ist prächtig. Was ein Tag!