Trailrunning-Integrität: Ein Rennen kritisieren und trotzdem anmelden. Ein Widerspruch? Pro und Contra

Die Übernahme des Zugspitz Ultratrail durch den UTMB erzeugte in der Trailrunningszene enorme Resonanz. Positive, aber auch viel Negative. Ein spannender Aspekt: Wie konsequent sollte man eine kritische Haltung auch in seine eigene Konsumentscheidung übersetzen: „by UTMB“ laufen oder nicht? Zwei Meinungen!

Benni: Aus Haltung muss nicht Boykott folgen: UTMB laufen und UTMB kritisieren ist vereinbar

„Wenn’s dir nicht gefällt, lauf halt woanders.“ Dieses Argument, so oder ähnlich formuliert, höre ich ständig und kann es gleichzeitig nicht mehr hören. Wenn man etwas kritisiert, lautet der erste Reflex immer, dass man doch bitte als Erstes seine individuelle Konsumentscheidung überdenken solle. Dir liegt das Klima am Herzen? Dann hör halt auf zu fliegen. Der Plastikmüll im Meer bereitet dir Sorgen? Kauf einen Mehrweg-Kaffeebecher. Dein Lieblingsrennen ist zu teuer und verändert sich? Melde dich nicht mehr an! Alles andere wäre Doppelmoral. Aber kommen wir damit der Lösung unserer Probleme wirklich näher?

Die Idee des Boykotts bzw. persönlichen Verzichts soll zwei Funktionen erfüllen: Wenn nur genügend mitmachen, entsteht ein nachfrageseitiges Marktsignal, welches wirtschaftlichen Druck erzeugen soll. Zweitens – und so ehrlich sollte man sein – wollen wir unser Gewissen beruhigen: Wir stehen mit unserer Konsumentscheidung auf der moralisch richtigen Seite. Beides kann ich nachvollziehen. Beides hat folgenden Haken: Wir individualisieren das Problem – sowohl auf der Gefühls- als auch auf der Handlungsebene. Der Ölkonzern BP investierte in den frühen 2000er-Jahren hunderte Millionen US-Dollar in eine Werbekampagne, welche den ökologischen Fußabdruck in der Bevölkerung popularisieren sollte. Mit dem Ziel, das Problem auf die Konsumentenseite zu schieben. Der Erfolg dieser Maßnahme war durchschlagend. Wie lange berechneten wir unseren individuellen Fußabdruck und meinten damit, die Welt zu retten? Selbst Kilian tat dies vor einigen Jahren öffentlich. Man konnte auf seiner Homepage nachlesen, wie viel CO₂ er jährlich verbraucht. Inzwischen hat er zum Glück damit aufgehört.

Mir fällt kein einziges ernsthaftes Problem dieser Welt ein, das dadurch gelöst wurde, dass man auf Konsumentenseite die Nachfrage reduzierte. Mal ganz ehrlich: Meint ihr, es hätte irgendeinen Effekt, wenn ihr euch nicht mehr zum ZUT anmeldet? Eben! „Aber man kann doch nicht auf der einen Seite meckern und dann doch teilnehmen. Das ist ja Höchstverrat an der eigenen Trailrunner-Integrität“, mögen einige entgegnen. Dahinter steckt ein sehr nachvollziehbarer Wunsch: Die eigenen Handlungen sollen den ethischen Überzeugungen und Haltungen entsprechen. Hey, wer will das nicht? Aber ist das wirklich durchhaltbar? Sind wir als Individuen wirklich so frei und eigenständig, wie wir glauben, oder sind wir am Ende auch nur kleine Rädchen im Rattern eines größeren Getriebes? Hat der Profiathlet wirklich die Wahl, oder muss er da laufen, wo die größte Bühne aufgemacht wird? Auch wir Amateure sind davon nicht frei. Natürlich wollen auch wir gesehen werden – mal ganz abgesehen davon, dass es in Deutschland eben nur eine Zugspitze und in Frankreich nur einen Mont Blanc gibt. Anstatt anzuerkennen, dass wir uns unmöglich frei machen können von solchen Zwängen und Umständen, tappen wir wieder in die Falle, die uns unsere hyperindividualisierte Gesellschaft stellt. Statt gesellschaftlich und gemeinsam zu überlegen, wie man als Interessenverband, Gruppe oder eben Laufgemeinschaft ein Problem adressiert, zeigen wir mit dem Finger auf das Individuum: Erst musst DU richtig handeln, dann darfst du sprechen!

Ein Rennen und seine Preispolitik oder sonstiges zu kritisieren und am Ende dennoch an der Startlinie zu stehen, ist Doppelmoral? Ja, vielleicht. Aber ist der Vorwurf der Doppelmoral nicht selbst eine Nebelkerze, die sich – anstatt sich dem Problem selbst zu widmen – nur wieder dem falschen Adressaten zuwendet? Nämlich dem Individuum! Lasst uns streiten, lasst uns diskutieren! Individuelle Perspektiven sind gut und wichtig, Lösungen allerdings wird man nur als Gemeinschaft finden.

Starterbeutel beim ausverkauften ZUT © Andi Frank

Christian: Die Änderung des individuellem Konsumverhaltens sollte am Anfang stehen

Ich bin kein Freund davon, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Ebenso stört mich – wie auch meinen Kollegen – die Abwälzung sämtlicher Probleme der Welt auf das Individuum. Natürlich müssen sehr viel größere Hebel in Bewegung gesetzt werden, wenn man etwa die Unternehmenspolitik von Ironman oder dem UTMB beeinflussen möchte. Aber den Einzelnen komplett aus der Gleichung herausnehmen? Die kleinen Handlungs- und Entscheidungsspielräume im Konsumverhalten eines Menschen gänzlich als sinn- und folgenlos zu deklarieren? Das empfinde ich einerseits als zu pessimistisch und andererseits – in einer Konsumgesellschaft wie der unseren – schlicht als falsch.

Ändert die einzelne Entscheidung etwas? Nein. Aber aus einer einzelnen, symbolischen Entscheidung kann etwas entstehen: zum Beispiel eine Gruppe oder ein „Interessenverband“. Protest braucht Symbole und Vorbilder. Symbole wirken nur, wenn sie Strahlkraft entfalten und andere inspirieren. Nun kann man vermeintlich rational in Kosten-Nutzen-Manier erklären, dass es etwa nichts bringe, pflanzliche Produkte zu kaufen, wenn man die Massentierhaltung abschaffen möchte, weil … es ja ohnehin kaum etwas bewirke. Aber es trotzdem zu tun, ist ein (größtenteils) symbolischer Akt der Hoffnung – eine Stimme für eine andere Welt. Oder wäre es völlig in Ordnung, weiterhin Billig-Hackfleisch zu kaufen?

Übertragen auf den ZUT: Wer ein echtes Problem mit Ironman und UTMB hat, sollte woanders laufen. Darüber sollte er oder sie sprechen – und vielleicht schließen sich andere an, und schwuppdiwupps hat man eine Gruppe oder eine Gemeinschaft, lieber Benni. Am Anfang steht der einzelne Akt des Verzichts.

Veranstaltungsfirmen, Großkonzerne, Regierungen – sie alle bestehen am Ende aus Menschen, die tagtäglich Entscheidungen treffen. Manche Entscheidungen mancher Menschen haben größere Folgen für die Allgemeinheit, die meisten Entscheidungen der meisten Menschen hingegen verschwindend geringe. Aber ist das eine Entschuldigung dafür, wider besseren Wissens und entgegen der eigenen Überzeugung zu handeln – dort, wo es doch relativ einfach wäre? Etwa im Supermarkt oder bei der Entscheidung, an welchem Trailrun ich nächsten Sommer teilnehmen möchte? Das ist weder ethisch noch philosophisch (siehe Kategorischer Imperativ von Immanuel Kant) oder politisch eine sinnvolle Haltung. Es ist eine bequeme Passivität, die Verantwortung von sich schiebt. Denn mal ehrlich: Wie viele Menschen haben die Zeit, eine Bürgerinitiative, einen Verein oder eine Partei zu gründen? Eben.

In der englischen Sprache gibt es das Sprichwort „Put your money where your mouth is“. Grob übersetzt: Lass deinen Worten Taten folgen. Und wörtlich verstanden könnte es heißen: Lass deinen Überzeugungen – wenn möglich – entsprechende Konsumentscheidungen folgen. Alles andere sind Lippenbekenntnisse von bloßen Ankündigungsprotestlern, die keine praktischen Konsequenzen aus ihren ach so klugen Erkenntnissen ziehen.

Übrigens: Was ist schlimm daran, wenn Menschen versuchen, ihre Ideen durch entsprechende Handlungen zu untermauern – auch, um ihr Gewissen zu beruhigen? Ist ein möglichst ruhiges Gewissen nicht ein Schlüssel zu einem guten Leben? Ich jedenfalls kann alle Trailrunner verstehen, die sich nun ein anderes Rennen als den ZUT suchen, auch wenn ich selbst in dieser Frage ambivalent bleibe. Aber eines ist sicher: Das Gewicht einer Doppelmoral wäre mir ein zu schwerer Rucksack, um ihn bei einem Trailrennen zu tragen.

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