Pro und Contra: Machen uns Gier und Geltungssucht zu besseren Läufern?

Kein Bock zu lesen? Lass dir diesen Artikel einfach vorlesen. Jetzt Mitglied werden und Vorlesefunktion freischalten.
In einem Interview mit der Wochenzeitung die Zeit postuliert die Moralethikerin, Philosophin und Ultraläuferin Sabrina Little die These, dass Sportler von performance-enhancing vices, also leistungssteigernden Lastern, profitieren. Unsere Autorin Juliane findet das schlüssig und meint das Gier und Geltungssucht schneller machen. Benni hält dagegen.

PRO

Kompromisslos, unerbittlich, gierig, missgünstig, rücksichtslos. Was wir im Freundeskreis als schlechte Charaktereigenschaften verurteilen, feiern wir im Leistungssport: Denn all die im Sozialen negativ konnotierten Eigenschaften wirken stark erfolgsfördernd. Im Sport findet man nur andere Worte für vermeintlich asoziales Verhalten: Statt von Rücksichtslosigkeit zu sprechen, lobpreisen wir auf einmal den Fokus eines Sportlers, Unnachgiebigkeit wird zu Durchhaltevermögen, Geltungssucht und Gier zu Ehrgeiz.

Hier findet ein moralisches Reframing statt, in der Wortwahl wie in der Bewertung, das schlechte Charaktereigenschaften im sportlichen Kontext rechtfertigt, oder? Schauen wir genauer auf unser Verhalten als Trailrunner.

Für unser ausdauerndes Hobby gibt es in unserer Leistungsgesellschaft Respekt und zwar nicht nur in Form von Kudos in der Strava-Bubble. Diese Lobpreisungen machen mindestens unterbewusst etwas mit uns. Sie bedeuten kulturelles Kapital, so können wir uns von Nicht- oder Wenigläufern positiv abgrenzen. Davon wollen wir MEHR. Gierig legen wir immer neues Holz in die Glut der begrenzt glimmenden Güter Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Sind wir mal ehrlich: Warum sonst teilt man jeden Erfolg direkt über Strava, Instagram, LinkedIn, in Gesprächen und auf Facebook? Wer von euch hat schon einmal einen 100er gefinisht und NIEMANDEM davon erzählt? Ich jedenfalls nicht. Danke für die zahlreichen Kudos und Likes by the way.

" Wer von euch hat schon einmal einen 100er gefinisht und NIEMANDEM davon erzählt? Ich jedenfalls nicht. "

Juliane Bruneß

Was die Bewunderer nicht sehen, sind die moralischen Kosten, die das Training wie die Wettkämpfe verursachen und wer sie trägt: Die beste Freundin vertrösten oder den Kindergeburtstag am Sonntag ausfallen lassen, weil „Hallo?! Sunday is Long Run Day!?“ Nichts Ungewöhnliches für Ultratrainierende.

Naja, es weiß (bei mir zumindest) niemand, dass 85 Prozent des sogenannten „Trailrunningmarathons“ gewandert wird, ewig an den VPs verharrt und kurz vor dem Cut Off über breite Forstwege gekrebst wird, damit ich später stolz über alle Social Media-Accounts verkünden kann: 3. Platz AK W30 (Dritte von drei und auch nur bei den Frauen und auch nur in der Altersklasse W30, aber auch das wird nie jemand erfahren).

Ehrlich wäre es auf die Frage, warum man eigentlich so gerne Ultratrailrunning macht, zu antworten: „Auch für die Aufmerksamkeit, genauso wie für die Anerkennung und weil ich das Bild von mir mag, das andere von mir haben, wenn ich mich zu der coolen Ultratrail-Community zähle. Und wegen der Natur auch ein bisschen.“

Moral-Expertin Sabrina Little sagt übrigens, sie laufe jetzt, statt wie früher viele 100-Meilen-Rennen, kürzere Strecken, denn sie wolle die nächsten Jahrzehnte noch mit ihren Töchtern rumrennen könne. Das ist ein sehr konsequenter Weg aus der moralischen Bredouille heraus. Ein Weg, der für die wenigsten (gierigen) Ultraläufer da draußen (mich eingeschlossen) passen dürfte. Sorry, Sabrina!

CONTRA

Liebe Juliane, du bist dieses Jahr im Juni als zweite Frau beim Zugspitz Ultratrail ins Ziel gelaufen. Dass deine größten Antreiber für diese bemerkenswerte Leistung Gier und Geltungssucht waren, kann ich dir genauso wenig abnehmen, wie deine Behauptung, das Rennen fast nur im Wanderschritt absolviert zu haben.

Jede(r) von uns, die schon einmal einen alpinen Hunderter liefen und dafür trainierten wissen, wieviel Aufwand, wieviel Hingabe für das Finish eines solchen Rennens vonnöten sind: Training – hunderte Stunden am Berg. Rausgehen – auch bei Schnee, Regen und Wind. Verzicht – auf Alkohol und ausschweifende Abende. Ganz ehrlich, mir fallen tausend einfachere Möglichkeiten ein, mein Bedürfnis nach Geltung und Glanz zu befriedigen. Wozu den Umweg nehmen über ein schmerzhaftes Ultratrail-Märtyrium? Was uns Trailrunner antreibt, ist nicht das Laster. Im Gegenteil. Ja, es geht tatsächlich nicht kleiner: Es ist die Liebe!

Die Liebe zu Natur und Berg. Die Liebe zum stundenlangen Draußen-Sein. Die Liebe zum Grenzen-Ausloten. Die Liebe zum spaßigen Springen zwischen Gestein und Geäst. Zugestanden: Es ist mitunter eine recht einsame Liebe. Aber Liebe bleibt Liebe. Ob nun zwischen Menschlein und Menschlein oder zwischen Wurzeltrail und Waldläufer.

" Was uns Trailrunner antreibt, ist nicht das Laster. Im Gegenteil. Ja, es geht tatsächlich nicht kleiner: Es ist die Liebe! "

Benni Bublak

Natürlich ist da was dran: Wer wirklich schnell laufen will, muss zwangsläufig eine gewisse Kompromisslosigkeit an den Tag legen. Muss die ein oder andere soziale Interaktion beschleunigten Berganläufen hintenanstellen. Ja, liebe Juliane, Ehrgeiz und Durchhaltewillen beweisen. Aber kommt Ehrgeiz wirklich von Geltungssucht und Durchhaltewillen zwangsläufig von Unnachgiebigkeit? Ich weiß nicht. Ich denke an den größten Sportler unseres Sports. An den Gesichtsausdruck von Kilian Jornet kurz nach einem seiner vielen Siegesläufe. Das zögerliche Lächeln, die zurückhaltenden Augen, welche wortlos, aber unmissverständlich ausdrücken wie unangenehm dem Ausnahme-Athleten der zügellose Zuschauer-Zuspruch zu sein scheint. Unnachgiebige Geltungssucht sieht anders aus. Ja ich bin mir fast sicher: Kilian würde bei Sierre Zinal keine Sekunde langsamer laufen, wenn im Ziel Stille statt Standing Ovations und Siegerpokal auf ihn warten würde. Was für uns ambitionierte Trailrunner, und Kilian insbesondere, aber wirklich unabkömmlich ist, ist die Konkurrenz, welche uns antreibt. Es ist viel mehr das Spiel selbst, als die Trophäe, die uns anspornt. Spaß am Spiel statt Gier und Geltung.

Ach ja, eines muss ich abschließend auch noch konstatieren: Wer einen großen Teil seiner Lebenszeit auf Forstwegen rumkrebst sowie Anstiege hoch wandert und sich dennoch für einen großartigen Trailrunner hält, hat nicht nur diesen wunderbar facettenreichen Sport verstanden, sondern auch schon ziemlich viel richtig gemacht im Leben.

Warum Kilian Jornet mein Lieblingstrailrunner ist

Warum ich nur einen einzigen Vorsatz für das Laufjahr 2025 habe