Mal unter uns: Du würdest doch auch nicht VOR dem Staffelfinale der Serie The White Lotus eine Freundin fragen, wer nun zum Mörder wird, um dich auf die letzte Episode vorzubereiten, oder? Und du würdest auch nicht VOR dem Verzehr deiner Lieblingsfamilienpizza eine kleine Pizza essen, damit du nochmal an den Geschmack erinnert wirst? SICHER NICHT!
Warum also – das frage ich dich, lieber Benni – sollte ich VOR meinem Traum, meinen ersten Hundertmeiler zu laufen, einen 100 Kilometer-Lauf bestreiten? Das macht ja gar keinen Sinn. Klar, zur Vorbereitung sei das vernünftig, wirst du argumentieren. Aber da kann ich gegenhalten, denn:
Zum einen wäre das so, als würdest du zur Vorbereitung auf einen 5 Kilometer-Run bei einem 100 Meter-Lauf mitmachen – das sind genauso unterschiedlich anzugehende Disziplinen wie 100K und 100M. Zum anderen ist es per se unvernünftig 100 Meilen zu laufen. Wir Ultratrailrunner sind keine Gesundheitssportler, was wir suchen, ist das Erlebnis.
Das Erlebnis wollen wir so intensiv wie möglich spüren, unverfälscht, roh und echt. Wir wollen uns während der langen Stunden auf den Trails in den Intensivierungsmodus des Daseins katapultieren, so wie es der Philosoph Wolfram Eilenberger (in anderem Zusammenhang) formulierte. Wie ginge das besser, als wenn wir uns auf die fantastisch intensiven Reise eines 100-Meilers trauen? Nirgends, richtig. Tja, und dieses erhöhende, lebensbereichernde und außeralltägliche Empfinden willst du nun schmälern, in seiner Intensität reduzieren, indem du schon zuvor einen 100 Kilometerlauf rennst? Schäm dich, Benni!
Was passiert ist Folgendes: Du spoilerst dich selbst. Du nimmst dir die Vorfreude und auch die Willenskraft, denn die ist uns Wettkampfläufern ja bekannterweise nicht unbegrenzt zugänglich, und du willst sie gierig anzapfen für was, einen Test-/Trainings-100K-Wettkampf? Du wirst sie noch brauchen für einen ersten 100 Meilen-Lauf. Also hier meine dringende Empfehlung: Lass die Finger von 100 K VOR 100 M!
Mir fallen noch viele weitere Punkte ein, aber ich glaube, ich habe meine Empörung ausreichend zum Ausdruck gebracht und um zu beweisen, dass ich es ernst meine, trete ich diesen Herbst bei einem 200-Meiler an, ohne je einen 100-Meiler gelaufen zu sein – ich lass mich doch nicht spoilern und werde sicherlich mit dem intensivsten Erlebnis beglückt werden.