Muss man einmal im Leben einen 100er gelaufen sein?

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Die 100 Kilometer sind das Sehnsuchtsziel fast aller Trailrunner. Aber muss man diese ungeheuerliche Distanz wirklich einmal im Leben absolviert haben, um sich als Pfad-Liebhaber so richtig vollkommen zu fühlen? Ein Für und Wider.

Pro:

Ja, muss man. Zumindest dann, wenn gesundheitlich nichts dagegen spricht und man angemessen trainiert hat. Abgesehen von dieser Einschränkung sage ich: Einmal dreistellig muss das Ziel eines jeden Trailrunners und einer jeden Trailrunnerin sein. Egal, wie viele Anläufe es braucht. Egal, wie lange es dauert, ins Ziel zu kommen. Es muss kein Streckenrekord gelaufen werden. Es muss keine Topplatzierung erreicht werden. Es muss auch kein Schönheitspreis gewonnen werden. Worum es geht, ist sich einer Herausforderung zu stellen, von der man vorher nicht weiß, ob man sie schaffen wird. Ein 100er, zumindest in unserem Sprachraum sind damit 100 Kilometer gemeint, ist eine kaum begreifbare Distanz. Wer kann sich vorstellen, die Entfernung von Hamburg nach Bremen oder von Nürnberg nach Würzburg, für die man mit dem Auto ohne Stau bereits eine Stunde benötigt, zu Fuß zurückzulegen? Und das auf Trails mit Hügeln und Bergen dazwischen? Bei Wind und Wetter und durch die Nacht?

" Einmal dreistellig muss das Ziel eines jeden Trailrunners sein. Egal, wie lange es dauert ins Ziel zu kommen. "

Christian Bruneß

Es geht um das Gefühl der Demut und Verletzlichkeit. Es geht um das Zulassen von Ängsten und der Möglichkeit, vor den Augen anderer Menschen zu scheitern. Wer sich trotz der Gefahr, es nicht zu schaffen, an die Startlinie stellt und den potenziellen Gesichtsverlust in Kauf nimmt, ja sogar zu begrüßen lernt, wird als gestärkter Charakter nach Hause fahren. Frei nach dem Bonmot des früheren Fußball-Torhüters Richard Golz: „Ich habe nie an unserer Chancenlosigkeit gezweifelt.“ Mit einem Lächeln ins Ungewisse laufen. Die unausweichlichen Strapazen und Schmerzen einpreisen. Zugegeben, auch kürzere Ultradistanzen können einem Grenzen aufzeigen und Lektionen erteilen. Aber erst wenn es absurd-lang wird, wird es so richtig interessant. Nur der vollendete Lauf eines langen Ultras ab 100 Kilometern kann die Erkenntnis liefern, dass das Unmögliche manchmal eben doch möglich sein kann. Also: Wagt es! Es lohnt sich.

Contra:

Fußballer- Bonmots? Kann ich auch. „Mailand oder Madrid. Hauptsache Italien.“ Soll Andi „Heulsuse“ Möller mal gesagt haben. „Zegama oder ZUT. Hauptsache 100 Kilometer.“ Könnte die auf unseren Sport gemünzte Entsprechung lauten und wäre in etwa genau so geistreich.
Sich einer fast nicht möglich erscheinenden Herausforderung stellen? Ich bin dabei! Eine unvorstellbar lange Distanz zu Fuß zurücklegen? Ich bin dabei! Sich in eine Situation manövrieren, welche die Eventualität von Scheitern und Verletzlichkeit bewusst mit einbezieht? Ich bin dabei! Raus bin ich, wenn wir meinen, eine starre und unbewegliche Zahl an diese laufende Suche nach Grenzbereichen heften zu müssen. Zu individuell sind die persönlichen Korrelate dieser Grenzbereiche und zu vielfältig ist unser Sport.

" Hat man nach 93 Kilometern ein Bergmassiv umrundet, sollte man sich nicht weitere sieben Kilometer auf die Suche nach neurotischer Vollkommenheit begeben. "

Benni Bublak

Bloß weil ein am Ende des 18. Jahrhundert willkürlich festgelegtes Längenmaß seine Dreistelligkeit erreicht, soll diese Distanz nun über Sinn und Unsinn des ausschweifenden Geländelaufs entscheiden? In einem Sport, dessen Reize sich vor allem in Geologie und Landschaft manifestieren, ist diese starre Beharrung auf eine Distanz sowieso überholt. Wenn man nach 93 Kilometern ein Bergmassiv komplett umrundet oder einen Landstrich komplett durchquert hat, darf man sich zufrieden und glücklich dem Finisherglück widmen und sollte sich nicht weitere sieben Kilometer auf die Suche nach neurotischer Vollkommenheit begeben. Läuft man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, offenbart sich die komplette Absurdität: Dort, wo das imperiale statt das metrische System gilt, muss man für dieselbe vermeintliche Befriedigung satte 60 Kilometer mehr abreißen. Und überhaupt: Wenn schon Zahlenfixierung: Warum dann Distanz und nicht Zeit? Ein Sub-Vier-Stunden Finish bei Sierre-Zinal kann mitunter noch Sinn-stiftender sein. Oder eine Podiumsplatzierung beim Heimspiel– dem lokalen Wald-Trail. Aber natürlich DÜRFEN es auch 100 Kilometer sein. Aber MÜSSEN? Einmal im Leben? Nö.

10K Bestzeit-Trainingsplan (Trailfunk Folge 34)

Beliana Hilbert – vom Kettenrauchen in Kiel zum Berglaufen in Bayern