Grenzenlos – gehen Ultratrailläufer zu weit?

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Körperliche Grenzen zu überschreiten ist die alltägliche Realität im Ultratrailsport. Aber wie weit sollte man gehen? Sind es diese Geschichten von körperlichen Grenzüberschreitungen, die unseren Sport erst ausmachen? Oder sind die Sportler, welche gesundheitlichen Risiken billigend in Kauf nehmen, die falschen Vorbilder? Ein Pro und Contra!

In einem YouTube-Video zur Western-States-Vorbereitung von Hans Troyer kann man den jungen Nachwuchsathleten dabei beobachten, wie er sich regelrecht ins Krankenhaus läuft. Beim Black Canyon platzt Hans nach 60 von 100 Kilometern – aber er pusht weiter Richtung Ziel, obwohl seine Nieren kollabieren. Nach dem Lauf muss er zwölf Tage im Krankenhaus behandelt werden. Die Diagnose: schwere Rhabdomyolyse – ein Zustand, bei dem der Körper beginnt, seine eigenen Muskelzellen abzubauen, wobei das freigesetzte Muskeleiweiß ungefiltert ins Blut gelangt und die Nieren massiv belastet. Ist Hans zu weit gegangen?

Im Film The Kid wird dieser Krankenhausaufenthalt kaum kritisch reflektiert. Stattdessen wird er als Nachweis dafür inszeniert, wie sehr Hans in der Lage ist, körperliche Grenzen zu verschieben.Das Beispiel von Hans Troyer mag zu den extremeren Fällen gehören. Doch es steht nicht allein.
Immer wieder pushen Ultraläuferinnen und -läufer in Wettkampfsituationen weiter – und ignorieren dabei auch ernsthafte Warnzeichen ihres Körpers.

Kilian Jornet etwa finishte einst den Hardrock 100 mit ausgekugelter Schulter.
Katharina Hartmuth beendete erst kürzlich dasselbe Rennen, obwohl sie am Ende fast ihr gesamtes Sehvermögen verlor – eine reversible Symptomatik, die sie kannte, aber bewusst in Kauf nahm.
Ida-Sophie Hegemann lief beim ZUT 100 etliche Kilometer mit einer Blasenentzündung, bis ihr Körper schließlich kollabierte und sie das Rennen abbrechen musste.

Laufen gilt als Gesundheitssport. Gilt das auch für das Ultralaufen? Gehen Ultraläuferinnen und -läufer zu weit, wenn sie die Grenzen ihres eigenen Körpers bewusst ignorieren? Sind sie möglicherweise keine guten Vorbilder, wenn es um ein gesundes Körperbewusstsein geht?

Ein Pro und Contra.

Ultratrailrunning ist die pure Grenzüberschreitung!

Juliane versteht Ultratrailrunning als Eskapade © Rene Clausnitzer

Juliane Bruneß

Ob Hans, Ida, Katharina, Kilian zu weit gehen? Ich verstehe die Frage nicht. Meine These lautet: ALLE, die in Ultratrail-Finishlisten auftauchen, gehen zu weit. Das liegt doch in der Natur der Sache. Auch du, lieber UTMB-Finisher Benni, gehst zu weit.

Und das ist ok so: Sich abschießen, tief gehen, alles geben und zwar im wahrsten Sinne „alles“, einschließlich der eigenen Gesundheit – das ist unserem liebsten Sport, dem Ultratrailrunning, immanent. Ultras zu laufen ist genau das: Krass, extrem, eine andauernde Eskapade. Das Risiko, bei einem Downhill zu stürzen, sich nach dem Konsum von zig Gels den Magen zu verderben, so stark zu dehydrieren, dass man ein Krankenhaus von Innen sehen muss, ist alles andere als unrealistisch, oder? Wenn du das nicht zumindest potentiell einpreist, dann betreibst du diesen toughen Sport naiv.

Das romantisierte Bild des Ultratrailläufers, der durch schöne Berglandschaften hüpft, lächelnd, ohne blutende Knie und schmerzfrei – ist pure Illusion. Stell dich mal in den Finishbereich des UTMB, zu der Zeit, zu der der größte Pulk an Laufenden finisht – Man könnte meinen, man befinde sich in einem Krankenlager. Fast niemand sucht nicht die Sanis auf! Fehlende Fußnägel, Platz- und Schürfwunden, Dehydration, Übelkeit, Kreislaufkollaps etc. pp. – Das sind keine Ausnahmen, sondern ist zuhauf zu beobachten. Und? Niemanden der Zuschauenden verwundert das. Das ist ganz normale Ultratrail-Szenerie. Es gehört zum Ultralaufen dazu. Ja, vielleicht finden Laufende wie Zuschauende genau das so geil an unserem Sport: Uns, die toughen Berg- und Kilometerbezwinger hält nicht einmal eine ausgekugelte Schulter davon ab, weiterzurennen. Kilian hat unfassbar viel Applaus für sein Finish mit Armbandage beim Hardrock 100 bekommen. Wir wollen doch genau das sehen, dass Ultraläufer zu weit gehen. Wir sprechen solchen Läufern einen Legendenstatus zu. Und auch wir selbst wollen diese unkaputtbaren Helden darstellen, oder? Blut, Schweiß und Knochenbrüche – Dahinter steckt immer eine gute Anekdote, die von der Ultra-Community gierig aufgenommen, verbreitet und gefeiert wird.

Willst du Gesundheitssport treiben? Dann geh halt drei Mal die Woche eine halbe Stunde lang locker joggen. Kann man auch machen. Wir Ultraläufer haben uns aber dazu entschieden zu eskalieren, qua Distanz und Dauer auf den Trails Grenzen zu überschreiten und uns abzuschießen. Lasst uns zu weit gehen, hundert Kilometer oder auch hundert Meilen und roughe Geschichten schreiben. Willkommen im Ultratrailrunning, wo man immer zu weit geht, wortwörtlich wie im übertragenden Sinne.

Laufen als Grenzüberschreitung? Nein, wir brauchen auch im Ultratrail gesündere Narrative!

Benni will auch bei ganz langen Distanzen die Kontrolle © Adrian Niski

Benni Bublak

Lächelnd, ohne blutende Knie und schmerzfrei durch malerische Berglandschaften hüpfen, ist  die pure Illusion? Was ist das für eine Vorstellung vom Trailrunning? Du, liebe Juliane, sagst: Das sei eine romantisierte Sichtweise? Ich sage: Dieses romantisierte Ideal unseres Sports ist mein Lebenstraum. Einmal im Leben möchte ich einen alpinen Hundertmeiler finishen, ohne vorher in alle Einzelteile zerfallen zu sein. Logisch: Schmerzen sind part of the game bei solch einer Distanz. Aber mein Ziel ist ein folgendes: Ich möchte völlig leer und kaputt im Ziel ankommen – aber bis zum letzten Meter das Gefühl gehabt haben, ich war der Dirigent in diesem hundert Meilen langen Orchester. Wenn der UTMB eine Schostakowitsch-Sinfonie ist, dann darf dem ersten Geiger nach dem Schlusstakt der Bogen aus den müden Händen fallen. Aber bis dahin war jede Note an ihrem vorgesehenen Platz. Der Traum vom perfekten Rennen? Unfassbar schwierig, wenn es um alpine Hundertmeiler geht – aber möglich.

Wäre das nicht das gesündere Narrativ unseres Sports? Das Streben danach, eine schier unfassbare Distanz zu Fuß zurückzulegen – aber in Würde und ohne unkontrollierbaren körperlichen Zerfall. Das Streben nach Kontrolle. Stattdessen feiern wir die Grenzüberschreitung. Noch in Jahrzehnten werden wir davon erzählen, wie Kilian 2017 den Hardrock finishte – in der linken Hand ein übrig gebliebener Stock, der rechte Arm einbandagiert, weil ihm zuvor mehrfach die Schulter rausgesprungen war. Wahrscheinlich wird sich kaum noch jemand an das Jahr 2014 erinnern. Das Jahr, in dem Kilian erstmals den Streckenrekord lief und ein nahezu perfektes Rennen nach 22 Stunden und 41 Minuten mit einem Kuss auf den legendären Stein beendete. Nein – es ist der Sieg mit der ausgekugelten Schulter, der in Erinnerung bleiben wird. Obwohl Kilian in diesem Jahr fast zwei Stunden langsamer war als drei Jahre zuvor. Wir lieben das Drama. Wir lieben die „Herr der Ringe“-Szene, in der Boromir – schon drei Pfeile in der Brust steckend – einen Ork nach dem anderen erledigt, um die Hobbits zu beschützen. Ich verstehe das.

Aber das eine ist vergängliche Unterhaltung – und das andere der Umgang mit unserem Körper, von dem wir nur einen haben. Nun mag es vielleicht noch einen Unterschied machen, ob man sich mit drei Pfeilen in der Brust einer Übermacht von Orks entgegenstellt oder einen Hunderter mit geschädigter Nierenfunktion zu Ende läuft – gesund aber ist beides nicht. Und vor allem: nicht notwendig. Was soll dieser falsche Heldenstolz? Ein Rennen, das man in Rivalität zum eigenen Körper zu Ende bringt, wird niemals ein gutes Ergebnis liefern. Ja, man hat gefinisht, seinen Dickkopf durchgesetzt. Aber zu welchem Preis? Zwölf Tage im Krankenhaus, wie Hans Troyer? Das war sicher kein Spaß – aber wahrscheinlich eine geile Story, die sich gut verkaufen lässt. Dafür hat es sich dann eher „gelohnt“. Aber sollen das die Geschichten sein, die das Narrativ unseres Sports prägen? Ich weiß nicht.

Lasst uns lieber die Geschichte von Ludo erzählen. Wer mit fast 50 Jahren den Hardrock gewinnt und dabei auch noch das Gefühl vermittelt, als hätte er alles im Griff – als wäre es das Natürlichste der Welt, an einem Tag 100 Meilen durch die San-Juan-Berge zu laufen –, der muss 49 Jahre lang ziemlich sorgsam mit seinem Körper umgegangen sein.

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