Gemeinsam über die Ziellinie? Fair oder feige?

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Beim Transvulcania finishten Dimitry Mityaev und Tom Evans gemeinsam auf Platz zwei. Das gemeinsame Zelebrieren des Zieleinlaufs ist bei der Elite im Ultratrailrunning nicht unüblich. Eine schlechte Entwicklung, die dem Leistungsgedanken widerspricht oder eine nette Geste, die unseren Sport besonders macht? Ein Pro und Contra.

Pro

Zweimal bin schon gemeinsam Hand in Hand mit einem Konkurrenten ins Ziel gelaufen. Beide Male hat es sich gut und richtig angefühlt. Im folgenden Text springe ich dafür in die Bresche, dass konkurrierende Männer (tatsächlich sind es oft Männer, die gemeinsam finishen) sich am Ende eines Wettkampfes an die Hände fassen und anlächeln. Arne Wolff, Trainer bei Two Peaks Endurance, sieht das grundsätzlich anders. Warum erklärt er euch gleich. Ich glaube mittlerweile seine Argumente zu kennen, schließlich wird Arne nicht müde, nach jedem erneuten Finishline-Flirt seine Missbilligung mit großem Unterhaltungswert kundzutun. Jedes Mal nehme ich dies amüsiert zur Kenntnis, kann einige seiner Argumente aber auch nachvollziehen. Zum Beispiel wenn es um die Verteidigung des Wettkampf-Ideals geht. Ein Wettstreit ist eben genau dies: Ein Streit, der nur einen Sieger oder eine Siegerin kennt. Verhöhnt also jeder, der zur Hand des Konkurrenten greift, diesen Wettkampfgedanken und gleichermaßen die Zuschauer, die eben jenen sportlichen Wettstreit bis zur letzten Sekunde gebucht haben?

" Und wenn schon. Trailrunning ist anders. Trailrunning soll und darf mehr sein als der reine Wettstreit. "

Benni Bublak erfreut sich an "Hand in Hand Finishs"

Und wenn schon. Trailrunning ist anders. Trailrunning soll und darf mehr sein als der reine Wettstreit. Insbesondere Ultratrailrunning ist vor allem ein Kampf gegen einen selbst. Gegen brennende Beine, gegen einbrechende Energiereserven und gegen den weich gekochten Willen. Und wenn, dann am Ende dieser langen Reise durch die Täler und Gipfel der eigenen Psyche und Physis zwei Athleten gleichstark erscheinen, sich unter Umständen sogar gegenseitig unterstützen in ihrem jeweiligen Kampf mit sich selbst, dann soll die anaerobe Kapazität, sprich der Sprint, über Sieg und Niederlage entscheiden? Nein, das bringen Trailrunner nicht übers Herz. Und das ist schön. Sportsgeist impliziert ja auch, den Konkurrenten zu respektieren und zu schätzen. Ich finde, das darf auch schon kurz vor der Ziellinie stattfinden.

Für das Trail Magazin habe ich mal ein Porträt über Anna Hahner und ihren Weg von der Straße auf den Trail geschrieben. Ich habe sie sinngemäß willkommen geheißen. Willkommen in einer Szene für die ein „Hand in Hand Finish“ (Anna finishte 2016 gemeinsam mit ihrer Schwester Lisa den olympischen Marathon Hand in Hand und erntete viel Kritik) Usus ist und kein Affront. Ich glaube, es wird nicht mehr die Trailrunningszene sein, die ich schätzen und lieben gelernt habe, wenn das gemeinsame Finish mal verschwinden sollte. Ich zumindest werde es wieder tun. Vielleicht sogar mit dir Arne?

Die beiden Autoren Benni Bublak und Arne Christian Wolff am Berg (plus Alles Laufbar-Autor Christian Bruneß, rechts)

Contra

Im Leistungssport gehört Gewinnen und Verlieren immer dazu. Die meisten von uns lernen schnell, dass sie nicht zu den Siegern und Siegerinnen gehören. Unsere Motivation ist vielfältig, aber das Podest gehört selten zu unseren erreichbaren Zielen. Beim Transvulcania können persönliche Ziele das Überwinden der Distanz oder Höhenmeter sein, das Durchkommen bei schweren Bedingungen oder das Erleben einer außergewöhnlichen Landschaft. Die wenigsten verfolgen das Ziel, zu den besten Athleten des Tages zu gehören. Will man den Transvulcania gewinnen, muss man aber zur absoluten Spitze des Trailsports gehören.

Zu dieser Spitze gehören auch Dimitry Mityaev und Tom Evans. Sie sind es gewohnt zu siegen. Doch beim Transvulcania laufen sie plötzlich mit vielen weiteren starken Konkurrenten, und diesen Faktor können sie nicht beeinflussen. Aus Verzweiflung ergreifen sie die Hand des Mitstreiters, um ja nicht der Verlierer zu sein. Und so kommt es, wie es kommen muss: Zwei ebenbürtige Läufer laufen beim Transvulcania gemeinsam Hand in Hand über die Ziellinie, abgesprochen wenige Kilometer vor dem Ziel. Die Zuschauermenge ist emotional gerührt.

" Im TV läuft statt Fußball die Zusammenfassung zweier Helden, die gemeinsam und doch getrennt über einen Vulkan rennen. Einer von beiden wird jedoch enttäuscht ins Bett gehen ... "

Arne Christian Wolff findet ein Wettstreit darf erst an der Ziellinie enden und keinen Meter davor.

Aber es hätte auch anders laufen können. Ein Gedankenspiel: Der Gewinner Jonathan Albon überquert nach 07:03 Stunden die Ziellinie. Die Liveübertragung fängt die Bilder des Siegers nur kurz ein, denn hinter Jonathan entbrennt ein legendärer Zweikampf: Tom Evans liegt wenige Schritte vor seinem Teamkollegen Dimitry Mityaev. Dieser zieht plötzlich an und setzt sich an die Spitze. Tom Evans hält erbittert dagegen. Es entsteht auf den letzten Metern ein unglaublicher Schlagabtausch. Die Zuschauer sind völlig in Ekstase! Die zum Abklatschen hingehaltenen Hände der Fans werden völlig ignoriert. Jeder versucht, die letzte Energiereserve zu mobilisieren, sie haben nur den Blick für die Ziellinie – das Ende des wirklichen Leidens, nicht drei Kilometer vor dem Ziel. Und dann ist alles vorbei! Um einen halben Schritt hat einer der beiden das Nachsehen. Die Teamkollegen fallen sich in die Arme, um gemeinsam zu lachen oder zu weinen. Was für ehrliche Emotionen! Niemand wird sich an diesem Tag an den Sieger Jonathan Albon erinnern. Denn das Finale um den zweiten und dritten Platz wird in die Geschichte des Trailsports eingehen. In den sozialen Medien wird das Video millionenfach angeschaut. Im TV läuft statt Fußball die Zusammenfassung zweier Helden, die gemeinsam und doch getrennt über einen Vulkan rennen. Einer von beiden wird jedoch enttäuscht ins Bett gehen, aber am nächsten Tag wieder voller Motivation aufstehen und noch ehrgeiziger trainieren, denn der nächste Transvulcania kommt bestimmt.

Leider bleibt der letzte Absatz eine Fiktion. In der Realität ergreifen zwei unglaubliche Sportler sich bei den Händen und laufen gemeinsam über die Ziellinie. Die Emotionen sind gespielt und gekünstelt. Sie berauben sich persönlich und den Zuschauern der wirklich ehrlichen Emotionen ums Gewinnen und Verlieren. Training ist der tägliche Kampf gegen sich selbst, aber am Wettkampftag für wenige Stunden auch mal gegen Konkurrenten, Kollegen und Freunde.

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