Adrian Niski: Mein Lauf durch Deutschland – und was ich dabei über die Deutschen gelernt habe

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Vierzehn Tage, 650 Kilometer, unzählige Menschen und deren Geschichten. Unter dem Motto „Was uns verbindet“ wollte ich Begegnungen mit echten Menschen haben – und nebenbei Deutschland von Nord nach Süd durchlaufen. Ich bin in Hamburg mit vielen Fragen im Gepäck gestartet. Mit welchen Antworten ich zwei Wochen später in München angekommen bin, lest ihr hier.

Ich laufe durch das wunderschöne Thüringen, dem Stadtrand entgegen. Die Zivilisation rückt näher, und mit ihr auch die nächste Pause am Bordstein vor einem Supermarkt. Wer denkt, das sei eine Qual, irrt sich – für mich ist es genau das, was ich liebe. Die kurze Rast, das Beobachten der vorbeiziehenden Menschen, das Gefühl, für einen Moment stillzustehen, bevor es weitergeht.

Kurz bevor ich den Supermarkt im Ortskern erreiche, bleibe ich vor einer offenen Garage stehen. Ein älterer Mann sitzt auf einem Plastikstuhl, das eingefallene Gesicht von Rauch umhüllt. An der Wand hängt ein Plakat der AfD, darauf Alice Weidel. Die Szene fesselt mich. Wer ist dieser Mann? Was denkt er? Ich spreche ihn an: „Was verbindet uns hier in Deutschland?“ Er schaut mich an, zögert, nimmt die Zigarette aus dem Mund. „Hier kennt jeder jeden. Ich habe meinen Schrebergarten. So wie es ist, ist es gut.“

Ich erzähle ihm von meiner Reise. Er hört zu, skeptisch, fast ungläubig, doch er lässt mich ziehen. Ein paar Minuten später rollt sein Auto an mir vorbei, er hält an, kurbelt das Fenster herunter, greift auf den Beifahrersitz und hält mir eine massive Wurst hin. „Hier, für unterwegs. Hol dir noch ein Brötchen.“ Er lacht, ich nehme die Wurst entgegen. Ein Moment, der bleibt.

Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet hier, an diesem unscheinbaren Ort, eine so herzliche Begegnung haben würde? Gerade mit jemandem, dessen politische Ansichten so weit von meinen entfernt sind. Doch genau solche Momente suche ich. Weil sie authentisch sind. Weil sie mir zeigen, dass Begegnungen jenseits von Parolen und Schlagzeilen stattfinden. Mensch zu Mensch.

Adrians Silhouette vor einem Windrad

Als ich den Wahlkampf in Deutschland verfolgte, war ich fassungslos, wie die verschiedenen Lager aufeinander losgingen. Vielleicht liegt es an meiner Grundhaltung, mit jedem klarkommen zu wollen, aber der Ton, die Aggressionen – es war kaum auszuhalten. Ich selbst habe kein starkes Heimatgefühl. Meine Eltern sind Migranten, meine Frau ist Österreicherin. Und doch bin ich in Deutschland aufgewachsen, hier geprägt und sozialisiert worden.

So entstand die Idee: einmal zu Fuß durch Deutschland. Nicht, um Rekorde zu brechen oder einem festgelegten Wanderweg zu folgen, sondern um frei und offen mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Das Land, das ich kenne, aber nie wirklich als Heimat empfunden habe, wollte ich auf neue Weise entdecken.

Am 18. März ging es los. Hamburg war der Startpunkt, München das Ziel. Ich zog durch die Lüneburger Heide, passierte den NATO-Truppenübungsplatz, die ehemalige innerdeutsche Grenze. Ohne Support, nur mit einem Rucksack, Schlafsack, Kamera und ein paar Kleidungsstücken. Trotz des frühen Frühlings blieb das Wetter zwei Wochen lang trocken. Mein Plan: Jeden Tag fünf bis zehn Menschen ansprechen und sie fragen: „Was verbindet uns in Deutschland?“

Eine Auswahl der Begegnungen:

Eine Auswahl der Begegnungen von unterwegs (Fotos: Adrian Niski)

Nicht jeder wollte reden. Manche winkten nur ab, andere sahen mich misstrauisch an. Doch oft genug blieb ich lange am Wegesrand stehen, sprach mit Fremden, tauchte ein in ihre Lebenswelten. Ich wollte verstehen, was dieses Land zusammenhält, wollte Brücken schlagen – und dabei Spenden sammeln für Organisationen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.

Die Distanzen waren mit durchschnittlich 50 Tageskilometern zwar lang, aber so gewählt, dass sie mich nicht an meine Grenzen brachten und ich noch genügend Zeit für Erholung sowie den Fokus des Projekts – das Ansprechen der Menschen – hatte. Doch das bedeutete nicht, dass es immer leicht war. Mit Gepäck auf dem Rücken, aufgescheuerten Stellen und gelegentlich langen Strecken bis zur nächsten Versorgungsmöglichkeit wurde mir bewusst, dass diese Reise nicht nur eine mentale, sondern auch eine physische Herausforderung war. Immer wieder gab es Momente, in denen ich anhalten musste, um mich neu zu sammeln um weiterzulaufen. Wenn man am Main-Donau-Kanal entlangläuft und vor sich gefühlt 20 Kilometer der noch bevorstehenden Strecke sieht, wird es nicht leichter. Glücklicherweise hielt mein Körper bis auf meine Wade durch. Ab dem neunten Tag machte sie zunehmend Probleme: Nach längeren Rastpausen wurde sie so verhärtet, dass das erneute Loslaufen zur echten Herausforderung wurde. Massagen, warmes Wasser und Dehnen halfen kaum. Mit viel Geduld und Willen ging es aber dennoch vorwärts.

Fußpflege gehört bei einem solchen Laufprojekt dazu

Je weiter ich lief, desto klarer wurde mir: Es gibt nicht die eine Antwort. Deutschland ist riesig, die Regionen und Geschichten sind es auch. Ein Beispiel: die ehemalige innerdeutsche Grenze. Ich spürte, wie sehr sich viele Menschen im Osten noch immer vom Westen unverstanden fühlen. Das Misstrauen ist greifbar. Wenn man nicht direkt mit diesen Geschichten konfrontiert wird, bleibt vieles abstrakt. Aber ich erlebte auch Vertrautes. Als ich Bamberg erreichte, eine Stadt, in der ich sechs Jahre lebte, fühlte sich die Reise auf einmal anders an.

Durch Zufall fiel mein Besuch mit dem Literaturfestival zusammen. Dort traf ich Svenja Flaßpöhler, eine prominente deutsche Philosophin, und stellte ihr meine Frage. Ihre Antwort war klar: „Definitiv der Streit!“ Streit als Verbindung? Erst später denke ich darüber nach, dass sie vielleicht recht haben könnte. Deutschland ist ein Land der Debatten. Ein Land, in dem man sich reibt, sich herausfordert, sich auseinandersetzt. Und vielleicht ist genau das die Brücke zwischen den vielen Gegensätzen.

Weiter im Süden des Landes traf ich immer wieder auf bekannte Gesichter und Regionen in denen ich schon mal unterwegs war, oder sogar schon lebte. Ich merkte, wie schwer es mir fiel, weiterhin fremde Menschen anzusprechen. Ich rutschte zurück in meine Bubble, genoss es, vertraute Gespräche zu führen, statt mich immer wieder aus meiner Komfortzone zu wagen. Irgendwann fühlte es sich an, als würde ich heimlaufen.

Da meine Wade leider nicht lockerer wurde, entschloss ich mich schließlich, die letzten beiden Etappen etwas zu verkürzen, um keine ernsthafte Verletzung zu riskieren. Trotz allem war ich erneut erstaunt, was der eigene Körper leisten kann, wenn er über Jahre hinweg auf solche Vorhaben vorbereitet wird – ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten.

Adrian Niski glücklich im Ziel in München

Nach 650 Kilometern und vierzehn Tagen erreichte ich am 31.03. München. Mein Freund Markus begleitete mich auf den letzten Metern mit dem Mountainbike. Der Zieleinlauf am Marienplatz? Unspektakulär. Touristen, Hektik, Lärm. Ein Foto, ein Weizen im Andechs – das war’s.

Jetzt, ein paar Tage später, versuche ich noch, alles zu verarbeiten. Habe ich die Antwort auf meine Frage gefunden? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht bin ich sogar weiter davon entfernt als je zuvor. Vielleicht ist es keine klare Erkenntnis, sondern nur ein Gefühl. Oder ein Moment – wie die Wurst aus dem Autofenster.

Aber eines ist mir klar geworden: Am Ende sind wir uns näher, als wir denken.

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