Backyard WM: Irre Leistungen im Hinterhof

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Laufen bis zum Umfallen. Last Man Standing. Irgendwo dazwischen lassen sich Backyard Ultras einordnen. Vor nicht mal einer Woche wurde in 63 Ländern rund um den Globus die Backyard Ultra World Team Championships ausgetragen. Das deutsche Rennen fand in Katzwang, einem Stadtteil von Nürnberg, statt. Wir waren live vor Ort und konnten viel über die Eigenheiten dieses speziellen Laufformats lernen.

Es ist kurz nach fünf Uhr morgens. Nebel hängt über dem Wiesengrund, es ist unangenehm nass-kalt, der Mond taucht die Landschaft in ein diffuses Licht. Stille. Unvermittelt tauchen aus der Nacht mehrere Lichtpunkte auf, tanzen über das Feld auf mich zu. Als sie näher kommen, erkenne ich drei Läufer, die mit ihren Stirnlampen den Pfad vor ihren Füßen ausleuchten. Ich höre ihr gleichmäßiges Atmen, die rhythmischen Schritte auf dem Schotter. Als sie an mir vorbeilaufen, feuere ich sie an. „Hopp, hopp, auf geht`s, weiter so!“, rufe ich und erschrecke selbst etwas darüber, wie laut meine Stimme plötzlich ist. Kurz zucken die Stirnlampen in meine Richtung, ehe sie sich erneut auf den Boden richten und die drei Läufer stumm an mir vorbeiziehen. Kurz darauf verschluckt der angrenzende Wald die Lichter. Hendrik Boury, Marco Möhler und Andrea Mehner sind die letzten drei Mitglieder des deutschen Teams, die noch im Rennen sind. 42 Stunden zuvor sind die 15 besten Backyard-Sportler Deutschlands, zwei Frauen und 13 Männer, in einen besonderen Wettbewerb gestartet: die Backyard Ultra World Team Championship.

© Andreas Regler

Eine Weltmeisterschaft im Team?

Die Idee eines Backyard-Rennens, die Gary Cantrell (vielen ist er wohl besser bekannt als Lazarus Lake, auf dessen Konto u.a. die legendären Barkley Marathons gehen), 2011 entwickelt hat, ist ebenso einfach wie knallhart: Man hat eine Stunde Zeit, um eine exakt 6706 Meter (oder 4,167 Meilen, was binnen 24 Stunden einer Distanz von 100 Meilen entspricht, daher die krummen Zahlen) lange Strecke zu laufen. Zur nächsten vollen Stunde muss man wieder im Startbereich, dem Corral, stehen und zu einer weiteren Runde aufbrechen. Wem das nicht gelingt, wer also entweder nicht rechtzeitig ankommt oder zu spät losläuft, der scheidet aus; DNF. Beendet ist ein Backyard-Rennen, sobald eine Läuferin oder ein Läufer in der vorgegebenen Zeit eine komplette Runde mehr als der oder die zuletzt ausgeschiedene Teilnehmende (der sog. Assist) absolviert hat. Gelingt das, hat man gewonnen. Ob man weiterlaufen könnte oder nicht, ist egal, der Wettkampf ist vorbei.

Seit 2020 wird alle zwei Jahre im Rahmen der Team-WM die beste Backyard-Nation gesucht (in den ungeraden Jahren kämpfen die Einzelstarter in den USA um den Titel).  Am 19. Oktober um Punkt 14 Uhr fiel in Bell Buckle/ Tennessee, wo das US-Team läuft, der Startschuss, der zugleich 63 Nationalmannschaften auf die Strecke ihres jeweiligen Landes schickte. Ein Team besteht aus maximal 15 Starterinnen und Startern, die sich in einem Zeitraum von zwei Jahren qualifizieren. Die WM-Wertung ist simpel: Jede gelaufene Runde bringt dem Land einen Punkt auf dem Score Board. Weltmeister darf sich am Ende also nicht unbedingt die Nationen nennen, die am weitesten bzw. längsten gelaufen ist, sondern jene, welche die meisten Punkte (und damit Runden, im Englischen auch als Yards oder Loops bezeichnet) gesammelt hat. Eine möglichst konstante Teamleistung kann ein Land somit deutlich weiter nach vorne bringen als zwei, drei Spitzenläufer im Team.

Matthias Völkel und Ulrich Trodler wärmen sich nach absolvierten 38 bzw 39 Runden am Feuer © Andreas Regler

Wie schafft man sowas?

Langsam gehe ich durch die Dunkelheit zurück zum Basecamp, das auf dem Vereinsgelände des TSV Katzwang 05 aufgebaut ist. Auch dort, am Stadtrand von Nürnberg, ist es ruhig. Jetzt, am frühen Morgen, ist wenig los. In der Mitte des Camps sitzen trotzdem ein paar Menschen um eine Feuerschale zusammen und wärmen sich. Auch Matthias Völkel und Ulrich Trodler sind da. Eingehüllt in Decken und Jacken versuchen sie zur Ruhe zu kommen, bevor sie sich endgültig zum Schlafen hinlegen. Sie massieren ihre Beine, essen noch eine Kleinigkeit und unterhalten sich leise. Nach 38 bzw. 39 Runden mussten sie das Rennen beenden. Ich setze mich zu ihnen. Höre ihren Geschichten von früheren Veranstaltungen und den Erlebnissen der vergangenen Stunden zu. Immer wieder gehen mir dabei dieselben Gedanken durch den Kopf: Wie schafft man sowas? Und warum tut man sich diese Strapazen an?

" Um beim Backyard in der Spitze mitlaufen zu können, muss man ein sehr guter, das heißt auch schneller, Läufer sein. "

Hendrik Boury

Versuchen wir es zunächst mit dem Wie. Klar, das Abspulen unzähliger Kilometer, die Masse davon im ruhigen Grundlagentempo, ist ein essentieller Baustein jeder Backyard-Vorbereitung. Aber das gilt – wenn auch in anderen Relationen – ebenso für Marathonläufe und Ultratrails. Dass die Ausdauerleistungsfähigkeit ein wichtiger Baustein ist, bestätigt mir Hendrik Boury: „Um in der Spitze mitlaufen zu können, musst du ein sehr guter Läufer sein. Da führt kein Weg dran vorbei. Man muss in der Lage sein, auch mal schnellere Runden einzubauen, um Zeit zum Schlafen zu haben. Und die Muskulatur muss ausreichend stark sein, um sich sehr schnell zu erholen und Runde für Runde, Tag für Tag Leistung abzugeben.“ Aber Fitness allein kann es auch nicht sein.

Sieger des Backyard in Katzwang: Hendrik Boury mit 49 yards © Andreas Regler

Wovon hängt Erfolg bei einem Backyard ab?

Schnelligkeit ist es sicher nicht. Das Tempo wiederum kann sehr wohl ein entscheidender Faktor sein. Wobei es da kein richtig oder falsch gibt. Jeder Läufer muss letztlich sein individuell bestes Tempo finden, muss die optimale Balance zwischen Belastung und Erholung finden. Laufen, Pausieren, Laufen, Pausieren, das ist der Rhythmus des Spiels. Die meisten Teilnehmenden versuchen auf jeden Fall, ihre Loops möglichst konstant und gleichmäßig zu laufen. Doch wie sieht es mit dem Tempo aus, lento oder presto? Da gibt es ganz unterschiedliche Wettkampfstrategien. Im deutschen Backyard-Team zeigt sich das z.B., wenn man Jonathan Gakstatter und Claudia Müller vergleicht. Beide mussten das Rennen nach 35 Runden aufgeben. Doch während Gakstatter für seine Runden meist zwischen 44 und 46 Minuten benötigte, ließ sich Müller wesentlich mehr Zeit und lief ganz bewusst Rundenzeiten von 56 oder 57 Minuten. Was sind die Konsequenzen?

Je langsamer gelaufen wird, desto geringer ist in der Regel auch der Energieverbrauch. Gleichzeitig steht allerdings auch deutlich weniger Zeit zur Verfügung, um vor der nächsten Runde zu essen, zu trinken, Sachen zu wechseln oder sich auszuruhen. Wer demgegenüber schneller läuft, hat zwar zum einen mehr Pausenzeit, zum anderen wird er aber wahrscheinlich einen deutlich höheren Energieaufwand haben sowie schneller ermüden. Noch einen Effekt hat die Wahl des Tempos: die time on feet und damit die Belastung für den Körper ist eine ganz andere. Auch das wird beim Blick auf die Gesamtlaufzeit von Jonathan Gakstatter bzw. Claudia Müller eindrucksvoll deutlich. Jonathan war für seine 35 absolvierten Runden 27:28:24 unterwegs. Claudia (33:25:49) benötigte für dieselbe Rundenzahl fast sechs Stunden mehr! Außerdem macht es einen Unterschied – nicht zuletzt mit Blick auf die Muskulatur –, ob ich andauernd laufe oder einen Mix aus Laufen und Gehen anwende. Viele entscheiden sich für letzteres. Einen anderen Ansatz wählte hingegen Jannik Giesen. Er läuft gar nicht, sondern praktiziert konsequent Speedhiking. Auch damit ist er in einem Backyard-Rennen konkurrenzfähig.

Die Backyard Rekordliste
1Merijn Geerts (BEL)110 yards
1Ivo Steyaert (BEL)110 yards
1Frank Gielen (BEL)110 yards
4Harvey Lewis (USA)108 yards
20Megan Eckert (USA– beste Frau)87 yards
32Hendrik Boury (GER - bester Deutscher)82 yards

Zwischen dem Laufen

Die Zeit auf der Strecke ist jedoch nur ein Puzzleteil. Mindestens ebenso wichtig ist die Zeit zwischen dem Loop-Ende und dem nächsten Start. Diese wenigen Minuten gilt es bestmöglich zu nutzen. Und spätestens jetzt kommen die Crews der Läuferinnen und Läufer ins Spiel. Sie dürfen die Aktiven zwar nicht auf der Strecke, sehr wohl aber im Camp unterstützen. Sie bereiten die Verpflegung für unterwegs oder die Pause vor, legen Wechselkleidung oder neue Schuhe zurecht, behalten die Zeit im Blick und wecken den Sportler rechtzeitig, falls der doch einmal einen Powernap braucht. Steven Hentschel, der bei der Team-WM Norman Mascher-Aspensjö, dem Deutschen Meister im 24-Stunden-Lauf, zur Seite steht, hatte es mir tags zuvor so erklärt: „Man muss dafür sorgen, dass der Läufer nichts anderes tun muss, als zu laufen. Um alles andere kümmere ich mich.“ Da helfe es natürlich, wenn sich Helfer und Athleten gut kennen.

„Am Anfang“, erzählt Steven, „sagt Norman mir noch, was er braucht oder will. Aber irgendwann, vor allem hinten raus, hört das auf. Dann bestimme ich das alleine. Denn oft kommt der Punkt, da will man von sich aus einfach nichts mehr essen oder trinken.“ Nimm deine Stirnlampe mit! Brauchst du neue Socken? Hast du deinen Transponder nach dem Schuhwechsel dabei? Solche banalen Dinge können über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Auch Hendrik Boury, dem genau solch ein vergessener Chip bei der Einzel-WM 2023 zum Verhängnis wurde, sieht das ähnlich. „Vor allem ab der zweiten Nacht ist das Vertrauen in die Crew essentiell. Ich muss ihnen blind vertrauen können, sie sind dann mein zweites Gehirn, sie denken für mich.“

Zwischen den Runden © Andreas Regler

Der Kopf

Darüber hinaus ist zudem das Mindset bzw. die mentale Stärke ein zentraler Faktor. Einerseits bringt es das Format mit sich. Runde für Runde geht es auf derselben Strecke dahin. Monotonie pur, Abwechslung Fehlanzeige. Ein Backyard ist außerdem prinzipiell open end. Je nach Teilnehmerfeld kann er schnell beendet sein oder mehrere Tage dauern. Diese Ungewissheit liegt nicht jedem. Andererseits braucht es auch während des Rennens Nehmerqualitäten. Stehe ich immer wieder auf und stelle mich Stunde für Stunde an die Startlinie, obwohl mir alles wehtut und jede Faser nach Schlaf und Erholung schreit? Oder bleibe ich einfach sitzen? Kann ich körperliche Tiefpunkte überwinden, langsamere Runden wegstecken, zähe Phasen ertragen? Oder wirft mich das derart aus der Bahn, dass nichts mehr geht? Wenn eine Ultradistanz schon Höhen und Tiefen hat, wie mental resilient und stark muss erst ein Backyarder sein, der zwei oder drei Tage läuft? Noch dazu ohne zu wissen, wann es überhaupt vorbei ist?

Wie – im positiven Sinne – mächtig der mentale Faktor sein kann, konnte man beim deutschen Rennen in Katzwang erleben. Speedhiker Jannik Giesen war von einem Infekt geschwächt in den Wettkampf gestartet. „Mein Rennen war eigentlich nach 15, 16 Runden gelaufen“, erzählt er. „Alles war anstrengend, eine unglaubliche Quälerei. Aber ich wollte nicht als Erster aussteigen und damit ein Riesenloch in die Teamstatistik reißen.“ Also schleppt er sich weiter. „Ich dachte: Schlimmer kann es nicht werden, also kann ich es auch mit Würde ertragen.“ Er macht weiter. Tatsächlich stabilisiert sich der Puls, er mobilisiert die letzten Reserven. Nach 24 Runden (eigentlich beginnen hier Rennen für ihn erst, immerhin reiste er mit einer Vorleistung von 48 Runden an) steigt er als erster Deutscher aus. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich unter diesen Umständen so weit komme. Es ist schon erstaunlich, was der Kopf mit deinem Körper machen kann.“ Auch laut Hendrik Boury, der in Katzwang sein mittlerweile achtes Backyard-Rennen gelaufen ist, spielt das Mentale eine große Rolle: „Selbst ein talentierter Läufer wird ohne die richtige Motivation, Taktik, Geduld und positive Verbissenheit nicht über 48 Stunden kommen. Auf diesem Level benötigt es eine starke Kombination von körperlicher als auch mentaler Leistungsfähigkeit.“

" Dort treffen sich der langsamste und der schnellste Läufer. Das entspannt die Atmosphäre, denn es geht eben nicht um Schnelligkeit, sondern um die Gemeinschaft "

Stefan Miyagi

Das Warum?

Damit zur letzten Frage: Warum tut sich jemand so etwas an? Natürlich hat da jeder ganz eigene Beweggründe. Doch wenn man sich mit den Leuten unterhält, hört man immer wieder zwei Dinge. Das eine ist die Suche nach den eigenen Grenzen. „Mich reizt dieses leicht Verrückte. Da geht es nicht um Speed, sondern darum möglichst weit zu kommen und Dinge auch einmal auszuhalten. Man muss das richtige Mindset haben und wissen, wie man Tiefs überwindet“, verdeutlicht Giesen seine Faszination für dieses Rennformat.

Das andere ist das besondere Flair, die Gemeinschaft bei solchen Veranstaltungen. Hendrik Boury reizt die Tatsache, „mit allen Athleten aus dem Feld zu laufen, zu quatschen, von ihnen zu lernen, sich gegenseitig zu unterstützen. Man kann sich jede Runde neue Mitläufer suchen. Stefan Miyagi sieht das ganz ähnlich: „Dort treffen sich der langsamste und der schnellste Läufer. Das entspannt die Atmosphäre, denn es geht eben nicht um Schnelligkeit, sondern um die Gemeinschaft.“

Apropos Gemeinschaft: Beim Backyard ist man als Läufer immer auf andere angewiesen. Das beste Beispiel dafür waren Hendrik Boury und Marco Möhler, die letztendlich den Sieg unter sich ausmachten. „Ich wollte definitiv gewinnen, um mir das Ticket für die Einzel-WM [das pro Land jeweils der Sieger erhält, AR] zu sichern“, berichtet Hendrik Boury. „Ich fühlte mich gut und hätte noch deutlich weiter laufen können. Marco wusste das, sein Ziel war es die 200 Meilen-Schallmauer zu durchbrechen. Also haben wir uns zusammengetan und uns gegenseitig geholfen, unsere Ziele zu erreichen. Das war ein cooles Erlebnis, als Duett die Runden zu drehen.“ Und eine Win-Win-Situation. Möhler schaffte eine neue persönliche Bestleistung und Boury sicherte sich mit 49 Runden den Sieg im deutschen Rennen. Das deutsche Team konnte sich damit gegenüber 2022 um 58 Runden verbessern und landete in der Endabrechnung auf Rang 16.

gemeinschafliches Runden-Drehen © Andreas Regler

Ein neuer Weltrekord

Was für schier unglaubliche Leistungen möglich sind, zeigten allerdings die Belgier, die von Anfang an als einer der Favoriten gehandelt wurden. Die Zahlen sind verrückt: 50 Runden lang blieben alle 15 Starter im Rennen, ehe der erste Belgier die Segel strich. Nach 96 Stunden waren sie immer noch zu viert unterwegs. Am Ende sollte es bis zur 110. Runde (das sind 4 Tage und 14 Stunden oder 737,66 km!) dauern, bis Merijn Geerts, Ivo Steyaert und Frank Gielen gemeinsam aufhörten. Damit verbesserten sie zwar den bisherigen Weltrekord um zwei Runden. Offiziell gewonnen hat allerdings keiner von ihnen. Denn nur wer eine Runde mehr läuft als der Rest, darf sich Sieger nennen. Backyards sind eben speziell. Nichtsdestotrotz musste selbst Backyard-Erfinder Lazarus Lake anerkennen: „This was the “team“ championships, and it was their team that won (in dominating fashion)“. Sie sind als Team gelaufen und haben es als Team zu Ende gebracht. Mit sagenhaften 1147 Runden holt Belgien souverän den WM-Titel.

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