Jack Kuenzle: Der Unangepasste

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Wer ist dieser Typ? Vor zwei Jahren schlägt ein spärlich bekleideter und auffällig unrasierter Typ den Bob Graham Rekord von Kilian Jornet. Jack Kuenzle macht seitdem nicht nur mit wahnsinnig schnellen FKT-Rekorden auf sich aufmerksam. Sondern auch mit seinem auffällig lockeren Mundwerk und seiner unerschrocken eigenwilligen Art den Sport Trailrunning zu leben.

„The Kids are alright“, schrieb niemand Geringeres als Anton Krupicka einst auf einem von ihm geteilten Instagram Beitrag. Auf dem Bild zu sehen: Ein hochgewachsener, leicht bekleideter Läufer, der über einen Haufen Steine rennt. Nur eine sehr kurze Splitshort bedeckt seine langen Beine, die ebenso wenig rasiert sind wie Brust und Bauch. Es ist Jack Kuenzle, der gerade dabei ist, den Rekord von Kilian Jornet auf der Bob Graham Round zu brechen. „Bitte wer?“ Als der US-Amerikaner im Sommer 2022 die legendärste Fastest Kown Time des Planeten fast 30 Minuten schneller absolviert als der erfolgreichste Trailrunner des Planeten, weiß erst mal keiner so genau, wer dieser Typ ohne Shirt und Sponsor eigentlich ist.

Jack Kuenzle

Jack Kuenzle auf dem Weg zur Bob Graham FKT © Steve Ashworth

Jack Kuenzle? Wer?

Auch mir war der Name Jack Kuenzle zu diesem Zeitpunkt kein Begriff. Natürlich suche ich Jack sogleich bei Instagram. Es gibt ein Profil mit dem Namen „jackkuenzle“. Auf dem Profilbild ist ein süßes Katzenbaby zu sehen und in der Bio steht „400K bei TikTok“ und „Top 0.3% bei OnlyFans“. Ich bin reichlich verwirrt. Doch als ich runterscrolle und Bilder vom Läufer Jack sehe, merke ich, dass ich hier richtig bin. Was ich noch merke: Der Typ ist anders. Anders als die meisten anderen Eliteathleten. 

Jack ist weder bei TikTok noch bei OnlyFans (zumindest ersteres haben wir überprüft). Eine Katze hat er auch nicht. Letzteres wäre wohl schwierig zu vereinen mit Jacks Vagabunden-Leben. Kuenzle lebt zumeist dort, wo sein nächstes Projekt stattfindet und arbeitet nebenbei als Coach – so viel, dass es gerade so für seinen minimalistischen Lebensstil reicht. Sein nächstes Projekt? In den seltensten Fällen ist das ein Rennen, sondern fast immer ein Fastest Known Time-Projekt. Wilde Runden und Routen in den Bergen, die Jack so schnell zu laufen versucht wie kein anderer. Manchmal hat er aber auch Ski unter den Füßen. Im Frühjahr 2022 stellt er eine neue Bestzeit für die Mount Hood-Traverse auf. Nur mit Unterwäsche und Skischuhen steht er auf zwei dünnen Latten und rast er über den 3425 Meter hohen schneebedeckten Vulkan im US-Bundesstaat Oregon. Ein Bild für die Götter.

„Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir tun alles, um nicht von der Gruppe zurückgewiesen zu werden. Aber Jack interessiert das nicht. Er missachtet jede Norm.“ Nicht ohne ein Schmunzeln verlässt diese Charakterstudie die Lippen von Anton Krupicka.

Jack Kuenzle

Jack bei seinem Mount Hood Ski-FKT © Wes Bochner

The Bob

Ein paar Monate nach besagtem Skirekord fliegt Jack nach England und kauft sich einen Van: sein zu Hause für die nächsten Monate. Er hat sich vorgenommen, den Rekord auf der Bob Graham Round zu brechen. Diesen hält zum damaligen Zeitpunkt niemand Geringerer als Kilian Jornet. Im Herbst 2018 tauchte der Wahl-Norweger zur Überraschung aller im Lake District auf und brach kurzerhand den 30 Jahre alten Rekord von Billy Bland, indem er den schnellsten Pacern der Region hinterherlief. So schnell wie er gekommen war, war er auch wieder weg. Jacks Herangehensweise ist anders. Mit nerdiger Akribie und außergewöhnlicher Hingabe scoutet er wochenlang Routen und Linien, läuft als Vorbereitung die Trantor Round in Schottland, stellt mithilfe der leidenschaftlichen und hilfsbereiten Briten ein Pacer-Team zusammen und überlegt sich eine perfekte Pacing-Strategie.

„Die meisten haben den Fehler gemacht und sich an den schnellen Anfangssplitzeiten von Billy Bland orientiert. Spätestens in Leg 4 sind sie dann explodiert. Ich war auf dem ersten Leg acht Minuten langsamer als Kilian“, berichtet der 29-jährige Kuenzle, der sich mit fast obsessiver Beharrlichkeit jedem kleinsten Detail widmet und wirklich nichts dem Zufall überlässt. Vor dem letzten Abschnitt der Bob, einer 8 Kilometer langen Asphaltpassage, tauscht er seine Trail-Schlappen gegen Carbon-Straßenschuhe. Jack Kunzle hat schon viele Routenrekorde gebrochen. Spätestens nachdem er nach 12 Stunden 23 Minuten und 34 Sekunden auf der Bob Graham Round die letzten Stufen der Moot Hall in Keswick hochsteigt, ist Jack Kuenzle aber der unangefochtene FKT- Champ. Angst, dass sich bald jemand anderes seinem Rekord widmen könnte, hat er aber keine: „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du eine Zeit aufstellt und niemand versucht sie zu schlagen. Das Beste, was passieren kann, ist, wenn ein Haufen Leute versuchen, deine Zeit zu knacken, alle einen großartigen Tag haben, aber niemand gut genug ist, sie zu schlagen.“

" „Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir tun alles, um nicht von der Gruppe zurückgewiesen zu werden. Aber Jack interessiert das nicht. Er missachtet jede Norm.“ "

Anton Krupicka

Keine Sponsoren, keine Rennen

Trotz medienwirksamer Rekorde von Kilian Jornet, Jasmin Paris, Anton Palzer und Co., sind Fastest Known Times noch immer ein schrulliges Nischenformat. „Du wirst nicht bezahlt, es gibt keinen Preis und keine Urkunde. Alles was du bekommst, ist dein Name auf einem Message-Board. Wenn du das machst, machst du es für sich selbst“, konstatierte eine amerikanische Athletin schon vor vielen Jahren. Warum also läuft ein Typ, der offensichtlich die Fähigkeiten hat, die ganz Großen dieses Sports zu schlagen keine Rennen? Warum hat er keinen Sponsor?

„Rennen zu laufen ist immer mit Einschränkungen verbunden. Du hast nicht viele Möglichkeiten, kreativ zu sein“, sagt Jack einerseits, um an anderer Stelle zu konstatieren: „Events und Outdoor Sport im Allgemeinen sind sehr kommerziell geworden. Ich beobachte, wie Menschen sich zu diesen Plätzchenausstechform-Persönlichkeiten entwickeln und nur noch das sagen, was der Sponsor hören will. Ich will das nicht.“ Wenn Jack diese Worte ausspricht, kann man sich kaum vorstellen, dass er nur acht Tage nach seinem Universitätsabschluss bei den Navy Seals, der für Disziplin und Härte bekannten Spezialeinheit der US-Marine, anheuerte. Nach einiger Zeit merkt er zwar, dass Autoritäten und unhinterfragter Gehorsam nicht zu seinen größten Tugenden gehören, die fordernden physischen und psychologischen Trainingsinstruktionen bei den Seals sind aber genau das, wonach Jack suchte: „Über Alex Honnold sagen sie, es sei irgendwas kaputt mit seinem Gehirn, weil er keine Angst spüre. Ich habe mich manchmal gefragt, ob mit meinem Gehirn ebenfalls was nicht stimmt, das mich physische Strapazen anders spüren lässt.“

Da ist allerdings noch ein anderer Grund für Kuenzles spartanischen Lebensstil und seine Sponsoren-Aversion. Der Sohn eines Marine-Soldaten wuchs in einer der wohlhabendsten Gegenden in Connecticut auf, ging auf eine private Highschool, um letztendlich in Yale zu graduieren. „Das Bewusstsein über die Menge an Privilegien, die ich genoss, sitzt schuldbewusst in mir“, sagt er. „Vielleicht will ich deswegen keinen Sponsor, weil es sich wie ein weiterer Vorteil anfühlen würde.“

© Instagram Jack Kuenzle

Startnummer und T-Shirt-Pflicht

Kürzlich hatte ich das seltene Privileg, an der gleichen Startlinie zu stehen wie Jack Kuenzle. Nach seinem Speed-Rekord auf den Mont Blanc (er schlägt den Ski-Rekord, verpasst Kilians Lauf-Rekord aber knapp) hat sich Jack ausnahmsweise für ein Rennen angemeldet. Bei der Trofeo Kima war der Schnäuzer-tragende Läufer gezwungen, mit T-Shirt zu laufen. Selbst ein Singlet war verboten. Es muss ein ganz besonderes Rennen sein, für welches sich ein Jack Kuenzle sowohl Startnummer als auch T-Shirt an den Körper heftet. Tatsächlich ist die Trofeo Kima mehr Abenteuer als Rennen. Mehr „Steine-Hüpfen“ und „Klettern“ als Laufen. Jack lieferte sich einen erbitterten Fight mit Finlay Wild. Mit dem Schotten ist Jack befreundet, seitdem sie sich in den schottischen Fells die FKT-Zeiten streitig machten. Bei der Trofeo Kima hat Finlay am Ende knapp die Nase vorn. Beide bleiben aber unter dem alten Streckenrekord von Kilian Jornet. Ein weiteres Mal, dass Jack schneller ist als der katalanische Überläufer.

1,5 Stunden später als die beiden komme ich ins Ziel. Als ich mir ein paar Tage darauf in Finlays Podcast anhöre, mit welcher nerdigen Akribie und mit welchem Enthusiasmus sich Jack auf dieses Rennen vorbereitete, fühle ich mich wie ein lausiger Amateur. Ich bin ein wenig neidisch auf diesen Typen. Auf seine kompromisslos leidenschaftliche Art, den Sport zu betreiben und seine unbeeindruckt selbstbewusste Attitüde sich jeder Konvention entgegenzustellen.

Jack trinkt ein Bier nach seinem Bob Graham Round Rekord © Steve Ashworth

Auf die Frage, warum Anton Krupicka Jack Kuenzle mit eingangs zitierten anerkennenden Worten beschmücken würde, sagt der erwachsen gewordene Tony, der einst selbst das Stereotyp des unangepassten Outdoor-Nomaden verkörperte: „Dieser Sport braucht Persönlichkeit. Jack hat eine starke Meinung und keine Angst, diese zu äußern. Er ist in seinen 20ern und über-enthusiastisch in dem, was er tut. Es ist cool zu beobachten, wie jemand gegen den Strom schwimmt und sich nicht um Konventionen schert.“

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