Wenn ich darauf hinweise, dass die Zahlen nicht hergeben, dass Frauen per se die besseren Ultrarunner sind, dann ernte ich oft den Einwand: Damit wertest Du diese exzellenten Leistungen der Frauen ab.
Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall.
Ich bin der Ansicht, dass die Leistungen von Frauen viel eher abgewertet werden, wenn wir so tun, als existiere kein Gender Performance Gap im Ultrarunning. Dadurch verschieben wir quasi die Schwelle, ab der die Leistung einer Läuferin Beachtung findet – und zwar nach oben. Auf diese Weise schmälern wir die Leistung von Frauen, die zwar herausragende Leistungen erbringen, aber nicht den Gesamtsieg erringen – was bei weit über 90% aller Rennen nun einmal der Normalfall ist: Im vergangenen Jahr gab es national wie international lediglich zwei prominente Rennen, bei denen einer Frau der Gesamtsieg gelang: Ashley Paulsons Triumph beim Badwater Ultramarathon und Line Caliskaners Sieg beim Berliner Mauerweglauf.
Und noch ein zweiter Punkt verdient Beachtung: Wenn man annimmt, dass der Gender Performance Gap auf Ultradistanzen nicht existiert, verkennt man die Realität und die Herausforderungen, denen Spitzenläuferinnen gegenüberstehen. Fast alle Trail- und Ultrarunning-Veranstaltungen sind gemischte Rennen. Aufgrund des Leistungsunterschieds wird die Spitze des Frauenrennens oft vom Vorderfeld der Männer ‚geschluckt‘. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, können Fehlentscheidungen entstehen, wie 2022 beim UTMB.
Kurz vor dem Rennen kündigten die Organisatoren an, dass in den Verpflegungsstationen die 10 bestplatzierten Männer und die 5 bestplatzierten Frauen einen separaten Bereich erhalten würden, um möglichst ungestört zu sein. Die Veranstalter argumentierten, dass das Frauenfeld weiter auseinandergezogen sei und nicht die gleiche Leistungsdichte aufweise wie das Männerfeld. Dabei übersahen sie jedoch, dass die Top Frauen zu einem Zeitpunkt die Verpflegungsstationen erreichen, zu dem dort bereits die erweiterte Spitze der Männer anwesend ist, während die Top Männer in menschenleere Stationen einlaufen. Gerade für die Läuferinnen wäre ein separater Verpflegungsbereich wichtig, um vergleichbare Bedingungen wie die Männer vorzufinden. Erst nach lautstarkem Protest der Athletinnen lenkten die Organisatoren ein und ermöglichten sowohl den Top 10 der Männern als auch den Top 10 der Frauen den Zugang zu den separaten Bereichen.
Das Wissen um den Gender Performance Gap kann also nicht nur dazu führen, dass Leistungen von Frauen noch mehr Wertschätzung erfahren, sondern auch, dass die Voraussetzungen für ebenjene Leistungen erst geschaffen werden.