Ein stoisches Trotzdem – Die 100 Meilen beim Zugspitz Ultratrail

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Dieses Jahr hat es eine Premiere gegeben. Zum ersten Mal wurde mit dem ZUT100 eine 100 Meilen-Distanz beim Zugspitz Ultratrail angeboten. Unser Autor Christian ist mitgelaufen. Auf seinem 34-stündigen Leidensweg hat er ausgiebig Zeit gehabt über den tiefergehenden Sinn seiner Teilnahme nachzudenken. Was er herausgefunden hat, ist verblüffend.

Es ist nicht das Warum, was zählt, sondern das Wie. Das habe ich im Vorfeld mit Juliane im Trailfunk erörtert. Die Frage, warum ich wiederholt einen 100-Meilen-Ultratrail laufe, stellt sich mir nicht. Etwas zieht mich dahin, etwas ruft mich an. Was genau und aus welchen Gründen? Fragt mich etwas Leichteres. Ich weiß nur, dass es so ist.

Scharnitzjoch, knapp über 2.000 Meter über dem Meeresspiegel. Ein Blick auf die Uhr. Ich bin seit 20 Stunden unterwegs, vieles davon in der brütenden Hitze bei rund 30 °C. Über 100 km und 6.000 Höhenmeter liegen bereits hinter mir, Zahlen, die immer unwirklicher scheinen. Ich schaue mich um. Berge, Täler, da komme ich her, da hinten muss ich hin. Die Landschaft zu bestaunen und zu genießen findet längst nicht mehr statt. Zwei Menschen stehen dort am Gipfel. Ich höre ein paar aufmunternde Worte. Ein paar Schafe liegen im Gras. Einige von ihnen sind noch ganz klein. Ihr Fell sieht so weich aus. Sie ignorieren mich, und die Musik auch. Eine Musikbox dröhnt wenige Meter neben ihnen. James Hetfield singt den Metallica-Klassiker „Master of Puppets“: „I’m pulling your strings. Twisting your mind and smashing your dreams.“ Da ist was dran, denke ich. Meine Gedanken sind verdreht, und meine Träume sind zerschlagen. Meine Muskulatur übrigens auch.

Ad-hoc-Allianzen

Wenn es in einem Ultra schwer wird, schließen sich Trailrunner zusammen. Es werden Ad-hoc-Allianzen gebildet, Trail-Seilschaften, die zufällig entstehen. Es findet zusammen, was hinsichtlich Tempo und Persönlichkeit zusammenpasst. Nicht selten halten diese Pärchen oder Grüppchen über Stunden, Tage, Nächte bis ins Ziel. Beim Betrachten der Ergebnisliste vom ZUT100 lässt sich feststellen, dass besonders im mittleren und hinteren Teil des Feldes selten allein gefinisht wurde. Ungefähr die Hälfte aller 145 Finisher finisht mit mindestens einer anderen Person gemeinsam. Auch ich habe für längere Passagen einen Trailrunner namens Axel an meiner Seite gehabt. Wir waren im selben Tempo unterwegs. Axel Zapletal ist schon zum zehnten Mal beim ZUT dabei, ist viele lange Kanten wie die Tor des Géants gelaufen, hat dementsprechend Erfahrung auf langen Strecken – und ist über 20 Jahre älter als ich. Wir unterhalten uns, dann schweigen wir wieder. So wie wir mittlerweile Laufen und Gehen im Wechsel betreiben, verlaufen unsere Gespräche. Es gibt keine Abmachung. Wer sich gut fühlt, darf vorweg. Und doch treffen sich unsere Wege immer wieder, sodass wir ab Mittenwald die kompletten letzten 40 km durch die zweite Nacht gemeinsam bewältigen.

Durch die Nacht beim ZUT. Foto: Andi Frank (Aufmacherfoto: Andi Frank)

Die Schafe ignorieren mich immer noch. Ich mache ein Foto von ihnen. Vor mir liegen 1000 hm Downhill zur nächsten Verpflegungsstation. Axel, mit dem ich mich gemeinsam hier hochgeschleppt habe, läuft etwas voraus. Ein weiterer Blick auf mein Handgelenk. Dort steht „Be kind“. „Sei freundlich“. Auf Englisch war es kürzer. Die Schrift ist schon stark zerlaufen, und wenn ich nicht wüsste, was ich dorthin geschrieben habe, würde ich die Buchstaben nicht entziffern können. Also gut! Ich versuche, meinen körperlichen Verfall nicht mit der mir innewohnenden Strenge („Stell dich nicht so an“), sondern mit der ebenfalls in mir vorhandenen Empathie („Nimm dir die Zeit, die du brauchst“) zu kommentieren. Dann setze ich mich in Bewegung.

Der steigende DNF-Druck

Ich glaube, kaum jemand läuft 100 Meilen, ohne phasenweise ans Aufgeben zu denken. Es ist ein Teil der Herausforderung, diesem Gedanken etwas entgegenzusetzen. Ultralaufen ist eine permanente Impulskontrolle, wie Eva-Maria Sperger es beschreibt. Zunächst ist es nur ein flüchtiger Gedanke, der mit Leichtigkeit weggewischt werden kann. „Wäre es eigentlich wirklich so schlimm, einfach aufzuhören?“ Doch einmal weggewischt kommt er wieder. Dieses Mal mit noch besseren Argumenten. „Komm, steig einfach aus. Du solltest dich jetzt nicht überanstrengen. Tu es für deine Gesundheit!“ Oder: „Was soll der Quatsch? Du wanderst ja nur noch. Du bist ja längst gescheitert, also mach es einfach offiziell und sag, dass du nicht mehr kannst.“ Der Druck auf dem Kessel steigt und steigt, und es wird immer schwieriger, ihm zu widerstehen. Gespräche mit anderen helfen. Sie sagen, ich würde ein DNF bereuen. Ich weiß, dass sie recht haben. Aber na und? Dann bereue ich es halt, denke ich.

Die ersten flachen Kilometer Richtung Zugspitze. Foto: Andi Frank

Am Anfang eines Ultras fühle ich mich immer matt. Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus dem langen Tapering vor dem Rennen und der überwältigenden Aufgabe, die vor einem liegt. Der Laufschritt fühlt sich jedenfalls nicht automatisiert an. Ich laufe nicht instinktiv, sondern mechanisch. Jeder Schritt muss bewusst gesetzt werden. Das Gegenteil von Flow. Ich glaube, Anton Krupicka hat mal gesagt, dass er immer mindestens zwei Stunden braucht, um warm zu werden. Das mag für Läuferinnen und Läufer, die keine Ultras laufen, etwas verrückt klingen. Aber Anton meinte das ernst. Ich nehme mir vor, einfach abzuwarten. Was bleibt mir auch anderes übrig? Die ersten welligen Höhenmeter kommen. Bergauf fühle ich mich stark. Fast mühelos erklimme ich Höhenmeter um Höhenmeter und arbeite mich so durch die Abendstunden, bis schließlich Nacht ist und die Stirnlampen angeschaltet werden.

Die ZUT-Strecke bei Nacht kenne ich gut. Ich bin sie nach meinem DNF über die 100 km 2022 mit der tatkräftigen Hilfe der Garmischer Trailcommunity, samt Pacern und VPs, komplett abgelaufen. Das war der sogenannte „Nacht-ZUT“. Als ich nun erneut den alpinen Abschnitt hinter Ehrwald vor mir habe, verspüre ich eine große Lust. Zum ersten Mal nutze ich die Kopfhörer. Die Musik verwandelt den nächtlichen Trail in meine ganz persönliche Ein-Mann-Party. Ich singe mit, hämmere meine Fäuste im Schlagzeugrhythmus – ich habe selten so viel Spaß in einem Wettkampf gehabt. Der steile Anstieg zum Wanningsattel, dem höchsten Punkt der Strecke, empfinde ich dieses Mal nicht als steil. Ehe ich mich versehe, bin ich oben. Kann es sein, dass ich einen richtig guten Tag erwischt habe? Wird dies einer dieser ganz seltenen Läufe, in denen einfach alles funktioniert, alles „klickt“? Ich bin erfahren genug, um zu wissen, dass das Wunschdenken ist. Ein Ultra ist lang. 100 Meilen erst recht. Trotzdem genieße ich diese Phase, ohne darauf zu bauen, dass es so bleiben wird.

Die Kluft Anspruch und Wirklichkeit

Der angesprochene DNF-Druck liegt meines Erachtens in der wachsenden Kluft zwischen dem persönlichen Anspruch und der immer weiter davon abweichenden Wirklichkeit. Das Selbstbild, so wie man sich gerne ein Rennen laufen sehen würde, und die Realität klaffen schonungslos immer weiter auseinander. Bei einem 100-Meilen-Lauf mitunter so weit, dass die Gegenwart nicht mehr tolerierbar scheint: „Lieber gar nicht laufen, als so zu laufen.“

Christian in der VP Hubertushof bei Kilometer 111. Foto: Marian Wilken

„Bist du trotzdem zufrieden, auch wenn du es wieder nur ins Ziel gewandert bist?“ So oder so ähnlich wurde ich im Nachgang befragt. Meine Antwort dazu ist eindeutig ja. Ich behaupte: Für 80 % der Teilnehmenden ist das „ins Ziel wandern“ eines 100-Meilers so ein integraler Bestandteil dieser Disziplin wie die Tempoverschärfung auf der letzten Runde eines Bahnwettkampfs – eben nur andersrum. Es sollte nicht nur damit gerechnet werden, es sollte sogar als völlig normales Phänomen akzeptiert werden, für dass sich niemand rechtfertigen oder schämen braucht. Es gibt die Ambitionierten und die Elite, die weniger langsam werden, aber unsereins? Natürlich werde ich am Ende viel gehen müssen. Was habe ich denn bitteschön anderes erwartet? War denn mein Anspruch, das Ding durchzulaufen? Nein, die Wirklichkeit ist eine andere, auch wenn sie bitter ist. Aber genau das ist der Geist des Ultratrails: Ein stoisches Trotzdem.

Die Sonne brennt. Ich versuche, mich so gut es geht zu kühlen, mache Hut, Bandana und Armlinge bei jeder Gelegenheit nass. Aber gegen die backofengleiche Hitze in den windstillen Tälern komme ich nicht an. Tempo drosseln ist die einzige Maßnahme, die mir darüber hinaus einfällt. Die Pausen an den VPs werden länger, aber es sind Pausen, die ich brauche. Gut investierte Abkühlungsgelegenheiten, die dem großen Ziel, dem Finish, nur dienlich sein können. „Bald wird es wieder dunkel“, ist das Mantra, dass sich alle, die zu diesem Zeitpunkt auf der Strecke sind, sagen. Sich in den Sonnenuntergang retten, scheint das Motto zu sein, und dann endlich: die Nacht. Als ich vor dem Rennen gefragt wurde, ob ich während des ZUT100 schlafen wollen würde, habe ich verneint. Während eines 100-Meilers wird nicht geschlafen. Doch als die Müdigkeit so heftig wird, dass ich kaum noch auf den Beinen bleiben kann, entscheide ich mich auf dem Holzboden der Laubhütte bei Kilometer 143, für 15 Minuten zu schlafen. Es ist irgendwas zwischen 1 Uhr und 2 Uhr nachts. Ich schlafe nicht, ich ruhe. Aber als der Wecker mich zurück auf die Strecke schickt, bin ich munter. Hätte ich gewusst, wie sehr eine solche Pause helfen kann, ich hätte sie schon früher eingelegt. Ich steige zum Osterfelderkopf auf und laufe den gesamten Downhill im Sonnenaufgang zurück nach Garmisch.

Christian und Juliane im Ziel. Foto: privat

100 Meilen ohne Metaebene

Viele Trailrunner, ich eingeschlossen, versuchen ihren Wettkämpfen oft einen höheren Sinn zu verleihen. Eine sinnstiftende Metaebene, die dem vermeintlich sinnlosen Laufen eine Bedeutungstiefe zuschreibt. Die die Teilnahme in die eigene Lebensbiographie einbettet, als Fortführung einer persönlichen Entwicklung oder auch als Neuanfang eines Lebensabschnitts. Dieses Mal war es anders. Wenn ich ehrlich bin, ist es schon eine ganze Weile anders. Mein erster 100-km-Lauf 2015 war symbolisch so aufgeladen, dass ich darüber ein Buch hätte schreiben können. Vielleicht ist es der Gewöhnungseffekt oder das Alter, aber mittlerweile schaue ich deutlich nüchterner und mit weniger Pathos auf die Dinge. Weniger Drama, mehr Sachlichkeit. Als ich mit Axel, Juliane und meiner Tochter Emelie die Ziellinie überschreite, bin ich froh, es geschafft zu haben. Emotionen darüber hinaus? Keine. Eine tiefergehende Analyse über die Lektionen, die ich fürs Leben gelernt habe? Fand bisher nicht statt. Welchen Stellenwert hat der ZUT100 in meinem Läuferleben? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass 100 Meilen verdammt lang sind und ein Finish nie selbstverständlich ist. Was ich noch weiß? Dass es auf das Wie ankommt und nicht auf das Warum.

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