Spalt ist nicht Chamonix – Ein Plädoyer für Trail-Wettbewerbe im Mittelgebirge

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Grate, mächtige Gipfel, tiefe Täler – Trailrunning steht für eine klare Bildsprache. Und die ist alpin. Aber warum in ferne Höhen schweifen, wenn das Gute doch so nahe liegt? Unser Autor lebt und läuft im Mittelgebirge. Und das mit viel Überzeugung.

Es ist feucht, kalt und gerade einmal hell geworden. Im Startbereich laufen die üblichen Routinen ab: Während die einen betont lässig Scherze reißen, sind andere im Tunnel. Wieder andere beenden gerade ihr Aufwärmprogramm oder nesteln noch nervös an den Schuhen bzw. der Laufweste herum. Über allem liegt diese ganz besondere Stimmung kurz vor dem Startschuss, die wir als Läuferinnen und Läufer so sehr lieben: eine Mischung aus Anspannung, Vorfreude und Ungewissheit.

46 Kilometer mit etwas mehr als 1300 Höhenmeter stehen an diesem Sonntagvormittag für mich auf dem Programm. Allerdings nicht in den Alpen oder den Pyrenäen, sondern im Hügelland rund um die Stadt Spalt, einer von Hügeln – die trotz ihrer maximalen Höhen von knapp 500 Metern den Berg im Namen tragen – und Schluchten geprägten Region in Mittelfranken. Statt filigraner Grate, steiler Bergflanken und Felsen gibt es hier Wälder, Felder und Wurzeln so weit das Auge reicht. Für viele Trailrunner mag das nach dem Gegenteil von sportlichem Ruhm, epischen Rennen und wildem Abenteuer klingen. Aber warum eigentlich? Weil es wirklich so ist? Oder vielleicht doch eher, weil uns von allen Seiten, von Instagram und Co. über die Werbekampagnen namhafter Sportartikelhersteller bis hin zu diversen Fachmedien permanent eingetrichtert wird, dass „richtiges“ Trailrunning eigentlich nur im Hochgebirge stattfinden kann?

Spalt oder Chamonix?

Natürlich: Das mittelfränkische Städtchen Spalt ist nicht Chamonix. Aber auch Rennen wie das Western States Endurance Race haben, was z.B. die Szenerie oder den technischen Anspruch der Strecke anbelangt, wenig mit dem zumindest hierzulande als Inbegriff eines Trail-Rennens stilisierten Event, den Ultratrail Du Mont Blanc zu tun. Trotzdem wird dem Western States kaum jemand ernsthaft den Status als „echtes“ Trail-Rennen absprechen wollen. Warum auch? Er ist einfach eine andere Version desselben Sports mit besonderen Parametern, die es zu einer ganz eigenen Herausforderung werden lassen. Das gleiche gilt für Wettkämpfe im deutschen Mittelgebirge. Sie brauchen sich nicht vor den großen Namen der Szene mit den vielen Höhenmetern und den wilden Strecken zu verstecken. Ganz im Gegenteil, Trail-Rennen im „Flachland“ haben ihre Berechtigung und zudem einen ganz besonderen Reiz.

Kopf Einziehen im Mittelgebirge © Rene Rosa

Mittelgebirgsrennen sind Intervalle am Berg

In Spalt läuft das Rennen mittlerweile. Kaum bin ich raus aus der Stadt, geht es mit den typischen Trails dieser Gegend los: schmale, sich windende Wald- und Wiesenwege, mit Wurzeln und Steinen gespickte Pfade, dazwischen Schotterstraßen und immer mal wieder ein paar (Sand-)Steinstufen, querliegende Bäume oder kleine Holzbrücken, die Gräben überqueren. Jetzt, im November, sind die Trails nicht nur feucht und rutschig, sondern viele Stolperfallen gut unter einer bunten Laubdecke versteckt. Aufpassen ist also angesagt.

Wenige Minuten nach dem Start wartet schon der erste Uphill. Über Schotter, blätterbedeckte Wurzeln und rutschige Treppen geht es durch das Schnittlinger Loch, eine Sandsteinschlucht mit einem kleinen Bach und teils hoch aufragenden Wänden, hinauf nach Fünfbronn zur ersten VP. Ich lasse sie links liegen und stürze mich wenig später bereits wieder in den Downhill. Auch hier: Wurzeln, Laub, einzelne lose Steine, ein paar Holzstufen, Stöcke, die im Weg liegen. Kaum ist man unten, geht es schon wieder gut einhundert Höhenmeter den nächsten Anstieg hinauf. Steil genug, dass gehen vernünftig wäre, aber eben doch nicht so steil, um ihn nicht auch laufen zu können. Ich entscheide mich sicherheitshalber – der Trainingszustand könnte besser sein – für die erste Variante und hike hinauf. Uphill, Downhill, bergauf, bergab. Das geht die ganze Zeit so weiter.

Für Mittelgebirge ist dieses ständige Hoch und Runter charakteristisch. Die Anstiege und Bergab-Passagen sind zwar nie besonders lang. Dafür sind sie zahlreich und können durchaus steil ausfallen. 1000 Höhenmeter in der Fränkischen Schweiz sind einfach nicht dasselbe wie in den Alpen. 10 kurze 100-Höhenmeter-Anstiege stellen körperlich und auch taktisch eine ganz andere Herausforderung dar als der eine lange 1000-Höhenmeter-Uphill. Letzteren wird kaum jemand durchlaufen. Die meisten werden versuchen, ein solides Speedhiking-Tempo zu finden, um möglichst kraftsparend und trotzdem schnell oben anzukommen.

Im Mittelgebirge ist aufgrund ihrer Kürze die Möglichkeit und damit die Verlockung viel größer, die Bergauf-Passagen tatsächlich auch zu laufen. Das jagt nicht nur den Puls und den Energieverbrauch in die Höhe, sondern sorgt auch für ordentlich aufgepumpte Waden- und Oberschenkelmuskeln. Letztendlich sind Mittelgebirgsrennen Intervalle am Berg, nur dass die Pausen wegfallen. Denn oben angekommen geht es selten lange flach dahin, sondern der nächste Downhill wartet bereits. Technisch ist es bergab im Mittelgebirge allerdings selten so schwer, dass man gehen müsste, was tut man also? Richtig, man lässt es laufen. Zum einen, weil es einfach möglich ist. Zum anderen läuft man schließlich ein Rennen und will Tempo machen. Nicht zuletzt wäre der Downhill sowieso viel zu kurz, um sich erholen zu können. Unterm Strich fällt die Belastungspause also aus – der nächste Anstieg wartet ja schon.

Mittelgebirgs-Trails beim Spalter Hügelland Trail © Rene Rosa

Mittelgebirgs-Familie

Ich bin mittlerweile an einer weiteren VP angekommen. Auf der Festung von Burg Wernfels, hoch über dem Tal der Fränkischen Rezat, kümmern sich eine Handvoll Helferinnen und Helfer um die Ankommenden, füllen Flasks auf, reichen Essen, holen neue Gels aus den Rückenfächern von Laufwesten und feuern an. Knapp 400 der insgesamt 500 Teilnehmenden werden an diesem Tag hier durchkommen. Weil ich die 46k-Strecke laufe und das eine Wendepunktstrecke ist, werde ich etwas später noch einmal da sein. Und die Zeit in der VP genießen. Denn auch das ist typisch für Trailrennen im Mittelgebirge: Da solche Wettbewerbe nicht selten von lokalen Vereinen – beim Spalter Hügelland-Trail ist es zum Beispiel die Ultrasport-Abteilung des TSV Katzwang 05– auf die Beine gestellt werden, geht es einfach sehr familiär zu.

Die VPs werden von Vereinsmitgliedern, deren Familien, Freunden oder anderen Freiwilligen aus der Umgebung betrieben, die viel Zeit und Liebe in ihre Arbeit stecken und sich mit „ihrer“ Station identifizieren. Da wird sich nach Wünschen erkundigt, Hilfe angeboten und die dampfenden Waffeln, die nicht nur herrlich schmecken, sondern auch die vor Kälte starren Hände wärmen, machen es schwer, nicht zu lange stehen zu bleiben. Gleichzeitig funktioniert eine so persönliche Betreuung aber vor allem deshalb, weil bei Mittelgebirgsevents die Starterfelder in der Regel erheblich kleiner sind. Was nicht nur den Aufenthalt in der VP, sondern auch das Laufen auf der Strecke wesentlich entspannter macht.

VP an der Burg Wernfels © Martin Priebe

Allgemeines Gefahrenpotential? Sehr gering!

Gleichzeitig sind Veranstaltungen wie der Spalter Hügelland-Trail, der Altmühltrail oder der Ultratrail Fränkische Schweiz – um nur einige Beispiele aus meiner Heimat zu nennen – sehr inklusiv. Sie sind ideal dafür geeignet, um zum ersten Mal Wettkampfluft auf Trails zu schnuppern. Denn die Einstiegshürden sind sehr gering: Umfangreiche Pflichtausrüstung – Fehlanzeige. Mehr Spezialequipment als griffige Schuhe und eine Laufweste braucht es nicht. Lauftechnische Fertigkeiten – überschaubar. Schotterkare, wackelige Felsblöcke oder Wege mit Klettersteig-Charakter gibt es hier nicht. Allgemeines Gefahrenpotential – sehr gering. Das macht nicht zuletzt auch mental einen riesigen Unterschied. Als Einsteiger werde ich meinen ersten Ultratrail in einem Mittelgebirge sicher entspannter absolvieren und mehr an meine körperlichen Grenzen gehen können als in den Alpen. Einfach weil ich mich auf das Rennen und das Laufen konzentrieren kann und mir keinen Kopf um objektive Gefahren wie Steinschlag, einen Wettersturz oder Schneefelder machen muss.

Als ich am Ende des Rennens wieder in Spalt ankomme, bin ich trotz der Kälte nassgeschwitzt, die Beine sind fertig, aber ich bin glücklich. Meine Familie und Freunde sind da, meine Tochter sprintet strahlend mit ihrem geschafften Papa an der Hand über die Ziellinie. Nicht mal eine Stunde später stehe ich daheim unter der heißen Dusche und lasse den Tag Revue passieren. Trailrunner-Herz, was willst du mehr.

© Martin Priebe

Vielleicht folgt die Entwicklung beim Trailrunning ja der des Klettersports: Mittelgebirgsregionen wie das Elbsandstein, die Pfalz oder die Fränkische Schweiz waren lange Zeit für ambitionierte Kletterer wenig mehr als eine einfach verfügbare Trainingsmöglichkeit, um sich auf die echten Berge vorbereiten zu können. Seit etlichen Jahrzehnten sieht das ganz anders aus. Beide, die Alpen wie die Mittelgebirge, sind als vollwertige Klettergebiete anerkannt, hier wie dort werden – jeweils unter charakteristischen Bedingungen – sportliche Höchstleistungen erbracht, Legenden geboren, wird dieser Sport gelebt. Spalt muss nicht Chamonix sein, es ist trotzdem Trailrunning at it’s best.

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