Kann künstliche Intelligenz einen Trainer ersetzen?

Kein Bock zu lesen? Lass dir diesen Artikel einfach vorlesen. Jetzt Mitglied werden und Vorlesefunktion freischalten.
Künstliche Intelligenz verspricht eine Revolution im Sport. Auch im Trailrunning eröffnen sich neue Perspektiven durch KI-basierte Trainingssteuerung. Unsere Autorin beleuchtet die Möglichkeiten, Grenzen und ethischen Aspekte des Einsatzes von KI im Trailrunning-Coaching und diskutiert, ob und wie menschliche Trainer und KI in Zukunft zusammenarbeiten können. Oder sogar müssen.

Trailläufer sind leidenschaftliche Datensammler. Laut einer Umfrage der American Trail Running Association nutzen 79% aller Trailrunner GPS- und Pulsuhren zum Tracken ihrer Trainingseinheiten. Nach einem einstündigen Trainingslauf kommt man dann mit 0,5 bis 2 Megabyte hochstrukturierter Daten nach Hause: Herzfrequenz im Sekundentakt, GPS-Position, Höhenmeter, Schrittfrequenz, Bodenkontaktzeit. Während früher ganze vier Kennzahlen zur Einordnung des Trainings genügten – Strecke, Höhenmeter, Dauer, mittlere Herzfrequenz – könnte sich die heutige Datenflut als Gamechanger erweisen. Denn es stellt sich die grundlegende Frage: Wenn Maschinen diese Informationen millionenfach und präziser analysieren können als jeder menschliche Trainer – brauchen wir dann überhaupt noch den Personal Coach?

Alle Bilder wurden von einer KI generiert.

Datenanalyse ohne menschliche Verzerrungen

Im Kern sind es zwei Teilgebiete der KI, die das digitale Coaching revolutionieren könnten: Machine Learning und Large Language Models. Machine Learning lernt aus Millionen von Trainingsdaten – nicht nur aus unseren eigenen, sondern aus denen tausender anderer Läufer. Dabei erkennt die KI Muster, die klassischen Algorithmen verborgen bleiben und dem menschlichen Auge erst recht. Large Language Models wiederum fungieren als kompetente Trainer-Chatbots – als digitale Gesprächspartner, die komplexe Trainingszusammenhänge in verständlicher Sprache erklären und auf individuelle Fragen eingehen.

Schauen wir uns zunächst mal das Machine Learning an. Es kennt nur eine Währung: Daten. Damit unterscheidet es sich fundamental von bisherigen Trainingsphilosophien. Sicher: Auch diese basieren meist auf sportwissenschaftlichen Studien, aber letztendlich entscheidet immer noch der Trainer nach Bauchgefühl, welcher Studie und welcher neuen Erkenntnis er vertraut. Zwei Trainer, drei Meinungen.

So entstanden Emil Zátopeks Intervall-Exzesse fast gleichzeitig mit Arthur Lydiards systematischer Periodisierung oder Ernst van Aakens extensiver Ausdauermethode. Dieser „Guru-Effekt“ besteht bis heute: Da predigt Phil Maffetone sein Mantra „Grundlage ist alles“ mit seinem herzfrequenzbasierten Aerobic-Base-Training, während Renato Canova das Dogma „Spezifität ist alles“ vertritt und damit seine Athleten an die Weltspitze führt. Und aktuell ist die Norweger-Methode in aller Munde mit ihrem „Double Threshold“ Training: 80% im lockeren Grundlagenbereich und 20% an der anaeroben Schwelle.

Machine Learning könnte mit diesem Guru-Effekt aufräumen. Statt blind einer Trainingsphilosophie zu folgen, analysiert die KI kontinuierlich, welche Methoden bei jedem einzelnen Läufer tatsächlich funktionieren – völlig unabhängig davon, ob sie von Zátopek, Lydiard oder den Norwegern stammen. Das Ergebnis wäre eine echte Individualisierung: nicht mehr die Anpassung des Läufers an ein System, sondern die Anpassung des Systems an den Läufer.

Maßanzug statt von der Stange

Moderne Laufcoaches werben gerne damit, dass ihr Training auf aktuellen sportwissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Doch gerade hier liegt ein entscheidender Schwachpunkt: Die sportmedizinische Forschung hat einen systematischen „Age and Gender Bias“. Frauen und ältere Freizeitsportler sind in den sportwissenschaftlichen Untersuchungen deutlich unterrepräsentiert – selbst bei aktuellen Veröffentlichungen werden nur zwischen 8 und 13% der Studien ausschließlich an Frauen durchgeführt, während bei 18-34% der Studien rein männliche Probandenkollektive untersucht werden.

„Quod licet iovi, non licet bovi“ – das wussten schon die alten Römer. Hier könnte man es frei übersetzen mit: Was für Jim Walmsley funktioniert, gilt für eine 60-jährige Hobbyläuferin noch lange nicht. Längst ist bekannt, dass sich männliche und weibliche Läufer bei Biomechanik, Energiebereitstellung und Metabolismus unterscheiden. Ebenso unterscheiden sich ältere von jüngeren Athleten hinsichtlich Kraft, Regeneration, Verletzungsanfälligkeit oder VO2max. Herkömmliche Algorithmen bilden individuelle Unterschiede nur begrenzt ab – sie wenden dieselben Formeln auf alle Läufer an, unabhängig von Alter, Geschlecht, Gewicht oder Trainingshistorie.

Machine Learning lernt dagegen aus den spezifischen Datenmustern jeder Person. Ein System, das Messdaten und biografische Variablen kombiniert, erkennt beispielsweise, dass ältere Läuferinnen andere Regenerationszeiten benötigen als die jungen Sportler aus den Studien. So entstehen individuelle Optimierungskurven – der digitale Maßanzug statt der Konfektionsware von der Stange.

Wenn die KI sprechen lernt: Large Language Models als Personal Trainer

Die künstliche Intelligenz hat in den letzten Jahren einen entscheidenden Evolutionssprung vollzogen: weg von rein datenbasierten Machine Learning-Systemen hin zu Large Language Models. Damit hat die KI nicht nur rechnen, sondern auch sprechen gelernt. Für das Lauftraining bedeutet das einen fundamentalen Wandel – vom reinen Analyse-Tool zum Coach, mit dem man sich tatsächlich unterhalten kann.

Ich habe das in den vergangenen Wochen selbst ausprobiert. Bedingt durch eine Verletzung und einen Trauerfall war ich deutlich weniger zum Trainieren gekommen als geplant. Sollte ich dennoch – wie ursprünglich vorgesehen – beim Mountainman Nesselwang starten? Also setzte ich mich hin und befragte ChatGPT dazu. Das Ergebnis überraschte mich positiv: In einer längeren Unterhaltung erörterte das System gemeinsam mit mir, ob ein „unvorbereiteter“ Start beim Mountainman nicht allzu viel Frust erzeugen könnte. Ob es nicht sinnvoller wäre, das Ziel zu ändern, wenn sich der Weg dorthin als ungangbar erweist.

Sofort hatte ich auch einen neuen Trainingsplan, der zwar eher auf „Safety first“ ausgelegt war – aber das erschien mir mit meinen Voraussetzungen ohnehin vernünftig. Wenn mir auch etwas die Variationsbreite bei den Einheiten fehlte, so wirkte doch insgesamt alles durchdacht. Und wenn ich mal aufgrund von Dienstreisen oder wegen der Wohnungsauflösung nicht zum Trainieren kam: Kein Problem. Coach ChatGPT hatte immer einen Alternativplan parat und gleich noch ein paar motivierende Worte dazu. Echt praktisch: ein kostenloser Coach, rund um die Uhr verfügbar und dazu noch mit Engelsgeduld.

Aber ist dieser Coach nur einfühlsam, oder kann er auch anders? Versucht er mich auch dann noch aufzubauen, wenn es mal ein „Quäl dich, du Sau!“ bräuchte?

Um das herauszufinden, legte ich mir ein Alter Ego und einen zweiten Account beim KI-Coach zu. Hier spielte ich die Couch-Potato, die zwar ein konkretes Ziel hat, aber keine Motivation, dafür hart zu trainieren. Über die Einstellungen ließ ich ChatGPT wissen, dass ich eher trainingsfaul bin und durchaus mal eine harte Ansage vertrage. Und die kam dann auch. „Geh raus. Beweg dich. Und hör auf, Gründe zu suchen“, bekam ich schon am ersten Tag zu hören. Oder: „Du willst Trailrunnerin sein? Dann verhalte dich auch so.“ Nach der ersten Woche folgte das Fazit: „Du hast letzte Woche geliefert – aber in einem Wohlfühl-Korridor. Ab dieser Woche gibt’s keinen Kuschelkurs mehr.“

Dieses kleine Experiment zeigt: KI-Systeme haben durchaus die Fähigkeit, kontextsensitiv zu antworten. Aber für eine wirklich differenzierte Anpassung an verschiedene Persönlichkeitstypen und Motivationsstrukturen benötigen sie noch klare Anweisungen. Anders als ein erfahrener Coach, der intuitiv erkennt, ob sich ein Läufer wirklich übernommen hat oder nur vor sich hin prokrastiniert, müssen Large Language Models derzeit vom Nutzer noch explizit angeleitet werden, welchen Coaching-Stil sie anwenden sollen.

Die Schattenseite der KI-Revolution: Wer profitiert von unseren Daten?

Bei allen Möglichkeiten, die die KI bietet, zeigt sie auch ihre Schwächen – und ihre Schattenseiten.

Das wichtigste Problem: Um KI-basiertes Coaching zum Funktionieren zu bringen, braucht es vor allem eines: Daten. Unsere Daten. Millionen von Trainingsdaten, biometrische Informationen, subjektive Bewertungen und Verhaltensmuster. Und genau hier beginnt ein ethisches Dilemma, das weit über den Sport hinausreicht.

Schon heute stimmen wir beispielsweise auf Plattformen wie STRAVA stillschweigend zu, dass das System unsere Daten nutzt – es sei denn, wir wühlen uns durch die Tiefen der Optionen und Einstellungen, um diese Zustimmung aktiv zu verweigern. Den meisten Läufern ist jedoch nicht bewusst, dass sie mit jeder hochgeladenen Aktivität, jeder Herzfrequenzmessung und jeder subjektiven Bewertung ihrer Trainingsqualität aktiv zur Entwicklung kommerzieller KI-Systeme beitragen.

Es heißt: „Wenn ein Produkt kostenlos ist, dann bist du das Produkt.“ Den KI-Coach mögen wir derzeit noch kostenlos nutzen können. Aber wir liefern unbewusst die wertvollsten Rohstoffe mit: unsere Trainingsdaten, Schlafmuster, Herzfrequenzvariabilität und GPS-Tracks. Mit diesen Informationen trainieren Unternehmen ihre Algorithmen und werden uns die daraus entwickelten „intelligenten“ Systeme später als Premium-Features zurückverkaufen. Ein Teil der „Intelligenz“ dieser KI-basierten Coaching-Systeme stammt aber direkt von uns, den Nutzern. Da stellt sich die Frage: Ist das fair? Und ist es fair, dass wir nicht transparent auf unsere „Datenspenden“ hingewiesen werden?

" Beim Trailrunning jedoch stößt die künstliche Intelligenz an ihre Grenzen. Die Komplexität der Variablen ist hier deutlich größer als auf ebenem Asphalt. "

Sabine Heiland

Wo KI an ihre Grenzen stößt - und Menschen unverzichtbar bleiben

Doch auch jenseits dieser grundlegenden ethischen Bedenken: Auch rein praktisch stößt die aktuelle Generation der KI-basierten Coaches noch an ihre Grenzen – besonders dort, wo die Komplexität der realen Welt auf die Grenzen der Parametrisierung und Objektivierung trifft.

KI hat im Straßenlauf-Training bereits beeindruckende Fortschritte erzielt und stellt eine ernstzunehmende Alternative sowohl zu algorithmenbasierter Analyse-Software als auch zu menschlichen Trainern dar. Die ersten spezialisierten Apps zeigen bereits heute, wie präzise maschinelles Lernen individuelle Anpassungen vornehmen kann.

Beim Trailrunning jedoch stößt die künstliche Intelligenz an ihre Grenzen. Die Komplexität der Variablen ist hier deutlich größer als auf ebenem Asphalt. Während sich Tempo, Herzfrequenz und Streckenlänge noch gut vermessen lassen, sind andere Faktoren kaum fassbar: der technische Anspruch einer Passage, der aktuelle Zustand des Trails – ob voller Schlamm nach Regenfällen oder mit rutschigen Restschneefeldern überzogen – und vor allem die höchst individuellen Reaktionen der Läufer auf solche Bedingungen. Ein erfahrener Trailrunner mag mühelos durch loses Geröll navigieren, während ein Straßenläufer dort ins Stocken gerät. Die feinen Unterschiede der Läufer hinsichtlich Erfahrung, Technik und psychischer Verfassung sind für KI-Systeme schwer zu erfassen.

Fairerweise muss man sich fragen: Sind menschliche Trainer hier wirklich so viel besser? Auch für sie ist es herausfordernd, sich vollständig in die spezifische Situation eines Athleten hineinzuversetzen, denn sie erleben ihn ja nie auf dem Trail selbst, sondern müssen seinen Berichten vertrauen.

Der entscheidende Vorteil menschlicher Coaches liegt aber in der nonverbalen Kommunikation und situativen Intelligenz. Ein erfahrener Trainer erkennt sofort, ob ein Athlet wirklich erschöpft ist oder schlicht unmotiviert ist. Er spürt Unsicherheiten, kann zwischen den Zeilen lesen und reagiert empathisch auf emotionale Schwankungen. Diese echte Empathie kann in kritischen Situationen oft mehr ausrichten als die zwar freundlichen, aber oft vorhersagbaren Äußerungen von Sprachmodellen.

Noch gewichtiger ist der Faktor Accountability: Die Verpflichtung des Athleten gegenüber einem Menschen aus Fleisch und Blut wiegt meist schwerer als die gegenüber einer App. Man will den Trainer nicht enttäuschen, man will sich vor ihm nicht blamieren. Diese soziale Komponente schafft eine Verbindlichkeit, die digitale Assistenten – trotz Push-Nachrichten und Gamification – nur schwer erreichen.

Dabei ist die Entwicklung längst nicht abgeschlossen. Was Large Language Models derzeit als Trainingspläne formulieren, wie sie mit uns kommunizieren, lässt sich als solide Hausmannskost bezeichnen – funktional, aber noch weit entfernt von Perfektion. Doch die vergangenen Jahre haben eindrucksvoll gezeigt: Die KI-Entwicklung vollzieht sich in einem Tempo, das einem schwindlig werden lässt. Was heute als technische Grenze gilt, kann morgen bereits eine etablierte Methode sein. Daher wird sich auch im Bereich der KI-basierten Trainingssteuerung noch viel bewegen.

Fazit: Koexistenz statt Verdrängung

Künstliche Intelligenz bietet beim Laufcoaching unbestreitbare Vorteile: überlegene Mustererkennung bei großen Datenmengen, dogmenfreie individuelle Anpassung und vor allem die Skalierbarkeit. Eine KI kann Tausende von Läufern gleichzeitig betreuen und dabei aus jedem einzelnen Datenpunkt lernen, während ein menschlicher Trainer bei ein paar Handvoll Kunden bereits an seine Kapazitätsgrenzen stößt.

Wird Coach KI also den persönlichen Trainer ersetzen? Nur teilweise. Was definitiv verschwinden wird, sind die starren Trainingspläne aus Laufzeitschriften und Ratgeberbüchern. Sie werden höchstens noch dazu dienen, die grundlegenden Ideen hinter verschiedenen Trainingsmethoden zu vermitteln. Kostenlose oder kostengünstige individualisierte KI-Programme sind hier bereits heute deutlich überlegen. Und sie stellen eine echte Alternative dar gerade für Laufanfänger oder reine Hobbyläufer.

Auch das untere Preissegment des Laufcoachings steht vor einem Umbruch. Coaches, die nur standardisierte Pläne mit begrenzter Interaktion anbieten, werden von KI-Systemen übertroffen, die rund um die Uhr verfügbar sind und wesentlich umfangreichere Betreuung bieten können.

Die Zukunft gehört einer Koexistenz. Und gleichzeitig wird sich für die Personal Trainer der Markt auf ein Kerngeschäft einengen. Übrigbleiben werden diejenigen Coaches, zu deren Klientel sehr viele ambitionierte Athleten gehören, denn dort ist der menschliche Faktor und die authentische Erfahrung beim Trailrunning entscheidend. Zudem werden nur diejenigen Trainer „überleben“, die selbst in der Lage sind, das Maximum aus KI-Assistenten herauszuholen und diese als mächtige Werkzeuge in ihrer täglichen Arbeit einsetzen. Die besten Coaches von morgen werden nicht diejenigen sein, die gegen die KI ankämpfen, sondern jene, die die Klaviatur der KI beherrschen.

Und vielleicht liegt in der KI noch ein ganz anderes, bislang wenig beachtetes Potential: Erkenntnisgewinn. Wenn es gelingt, die Entscheidungen neuronaler Netze nicht nur zu nutzen, sondern auch zu verstehen, könnten wir durch „erklärbare KI“ nicht nur individuelles Coaching verbessern, sondern auch unser wissenschaftliches Verständnis von Training vertiefen. Die KI wird so nicht nur zum digitalen Trainer, sondern auch zum Assistenten der Sportwissenschaftler. Sie erkennt Muster, die dem Menschen verborgen bleiben – und gibt uns die Chance, über sie nachzudenken. Nicht nur Automatisierung, sondern echte Einsicht: Das wäre der eigentliche Quantensprung im Sport der Zukunft.

Zahlen und Storylines vom Hardrock 100, Trail Verbier St. Bernard, PIUT und Strahlenburgtrail

Tromsø-Passage, Kombiwertung und Einlaufkinder – von der Beständigkeit des U.TLW