Evolution der Trailrunningschuhe: Vom Minimal- zum Maximalschuh

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Trailrunningschuhe durchliefen in den letzten Jahrzehnten eine stete Entwicklung. Meistens wurden sie besser. Mit Sicherheit schneller. Der Minimalschuhtrend endete vor circa 10 Jahren ziemlich abrupt. Heutzutage kann an Trailschuhen nicht genug Dämpfungsschaum verbaut sein. Befinden wir uns in einer neuen Ära? Der Ära der Maximalschuhe? Wenn ja, wie kam es dazu?

Als ich noch jung war und gerade mit dem Trailrunning begann, kaufte ich mir diesen Schuh – den einen Schuh von Anton Krupicka. Er hieß MT-110, war von der Marke New Balance und hatte keine Dämpfung. Und wenn ich sage „keine Dämpfung“, dann meine ich auch wirklich keine Dämpfung. Ok, zwischen Außenprofil und Steinschutzplatte waren ein paar Millimeter harter Kunststoff, genannt EVA, verbaut. Aber mit dem, was wir heute unter Dämpfung verstehen, hatte das wenig zu tun. Damals liebte ich diesen Schuh. Für mich stand er für alles, was das Trailrunning vom Straßenlauf abgrenzte: Dynamik, Bodengefühl, Unmittelbarkeit und vor allem eines: Spaß. Der Schuh machte Spaß, weil er zwischen mir und dem Trail gerade so viel Distanz aufbaute, dass ich mir nicht die Füße blutig lief, und gleichzeitig so viel Nähe zuließ, dass ich jede Wurzel, jeden Stein und jede Unebenheit ohne Zeitverzögerung in Bewegungsflow zu übersetzen vermochte. Der MT-110 liegt noch heute in meinem Schuhschrank, aber in der Lage, ihn zu laufen, bin ich schon lange nicht mehr.

Wenig dran! Sowohl am Schuh als auch am Typen: Anton Krupicka mit dem New Balance MT110 am Fuß © Matt Trappe

Der Minimalschuh-Hype

Der Anfang meiner Trailrunningkarriere überlappte mit den letzten Ausläufern des Minimalschuh-Hypes. In den frühen 2010er Jahren mussten Trailrunningschuhe weitestgehend ohne Dämpfung und Sprengung auskommen. Viele Füße und Beine der damaligen Minimalschuh-Jünger haben diese Phase nicht unversehrt überstanden. Zu hoch waren die Belastungen der Null-Sprengung- und Null-Komfort-Philosophie auf unsere an moderne Schuhe adaptierten Füße. Auch Anton Krupicka musste aufgrund körperlicher Beschwerden viele Jahre Laufpause einlegen. Nur zehn Jahre später hat sich die Trailrunningschuhwelt um 180° gedreht. Ein zu viel an Dämpfung scheint es nicht mehr zu geben. Jedes Jahr überbieten sich die Marken mit neuen High-Cushioning-Modellen. Die flachen Null-Sprengung-Schuhe sind stark gebogenen Rocker-Geometrien gewichen. Zwischen diesen beiden Extremen liegen nur wenige Jahre – genug Jahre, um aus einem Mitt-Zwanziger einen End-Dreißiger werden zu lassen. Aber es liegt nicht nur am Alter, dass ich den Krupicka-Schuh von damals nicht mehr laufen kann. Ich habe mich an den Komfort und den Vortrieb der neuen Dämpfungstechnologien gewöhnt. Ein Zurück zum Minimalschuh scheint unvorstellbar. Schuhe, und die Art und Weise ihrer Konstruktion, prägen, wie wir laufen. Die Frage, die ich mir stelle, ist folgende: Sind wir vielleicht schon mitten in einem neuen extremen Trend – nämlich dem der maximal gedämpften Schuhe? Und passt dieser Trend zu unserem Sport – dem Laufen im Gelände?

" Die Frage, die ich mir stelle, ist folgende: Sind wir vielleicht schon mitten in einem neuen extremen Trend – nämlich dem der maximal gedämpften Schuhe? Und passt dieser Trend zu unserem Sport – dem Laufen im Gelände? "

Trailschuh-Verwandte: Trekking- oder Straßenlaufschuhe?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir noch einmal ein paar Jahre zurückgehen – weit zurück. Wie sahen die ersten Trailrunningschuhe aus? Noch vor der Minimalschuh-Ära? Interessanterweise waren die ersten Trailschuhe viel näher mit Wander- und Trekkingschuhen verwandt als mit Straßenlaufschuhen. Die Frage, die man sich stellte, war: Wie kann ich Bergschuhe so konzipieren, dass ich mit ihnen auch den beschleunigten Laufschritt wagen kann? Und eben nicht: Wie kann ich Straßenlaufschuhe so verändern, dass sie auch im Gelände gute Dienste leisten? Das Resultat war dementsprechend: Frühe Trailrunningschuhe waren schwer. Sie wogen oftmals fast 400 Gramm. Frühe Trailrunningschuhe hatten außerdem eine relativ harte und direkte Dämpfung, angelehnt an ihre Trekkingbrüder, die, zumindest früher, komplett ohne modernen Dämpfungsschaum auskamen. Komfort wurde dem direkten Bodengefühl hinten angestellt. Trailrunning-Pioniere wie der Montrail Vitesse aus den 90ern oder der La Sportiva Slingshot aus den frühen 2000ern kennt heute kaum noch jemand. Bald darauf sollten Trailrunningschuhe nicht nur leichter, flexibler und bequemer werden, sondern auch farbenfroher. Kein Schuh stand exemplarischer für diesen Fortschritt wie der Speedcross von Salomon. War der Speedcross 1, der 2006 herauskam, noch ein Nischenprodukt für ambitionierte Athleten, so gelang diesem Modell spätestens mit der dritten Version im Jahr 2011 der Durchbruch. Wer von euch war Anfang der 2000er schon Trailrunner und hatte keinen Speedcross? Wahrscheinlich kaum jemand. Die folgenden zehn Jahre war die Entwicklung von Trailrunningschuhen durchweg progressiv. Immer mehr Marken stiegen ein, die Schuhe wurden immer leichter und lauffreudiger, ohne ihre geländetauglichen Eigenschaften wie Grip und Stabilität zu vernachlässigen. Große Trends wie die Minimalschuh-Ära gab es nicht. Doch das hat sich in den letzten Jahren geändert. Maximal-gedämpfte Schuhe, oftmals kombiniert mit versteifenden Vortriebstechnologien, prägen nun durchgängig das Bild.

So sahen Trailschuhe früher aus: Der Montrail Vitesse und der La Sportiva Slingshot

Vom Minimal- zum Maximalschuh

In seinen Nischen war der Übergang vom Minimal- zum Maximalschuh natürlich deutlich fließender. Hoka, eine Marke, die den Trailrunningschuhmarkt revolutionieren sollte, brachte schon 2009 ihr erstes Modell heraus: Den Mafate, einen maximal gedämpften Schuh und damit den kompletten Gegenentwurf zum damals noch weit verbreiteten Minimalismus-Trend.

Im Prinzip waren Hoka die Pioniere einer Entwicklung, die heute den ganzen Laufschuhmarkt erfasst hat. Während man die ersten Hoka-Schuhe als Nischenprodukt für Trailrunner ansah, die sehr lange Distanzen wie den UTMB oder den Western States liefen, werden die Schuhe mit der hohen Sohle inzwischen distanzübergreifend eingesetzt. Dies ist einem weiteren Trend zu verdanken, der aus dem Straßenlaufsport auch auf die Trails überschwappte. Neue Schäume, die in Kombination mit versteifenden Carbonplatten (aber auch ohne) ein neues Performance-Versprechen gaben. Über den Carbonschuh-Trend müssen wir keine weiteren Worte verlieren. Er revolutionierte unser Verständnis von Laufschuhen. Moderne Laufschuhe müssen reaktiv sein; sie müssen Vortrieb erzeugen. Möglich ist dies nur mit einer kritischen Menge Schaum unter dem Fuß. Für Trailrunningschuhe ist diese Erkenntnis in höherem Maße ein Paradigmenwechsel als für Straßenlaufschuhe. Denn Elemente, die diese neuartigen Schuhe prägen, wie zum Beispiel eine versteifte Rocker-Form, aber auch ein viel energiezurückgebender Dämpfungsschaum, vertragen sich nur schlecht mit Eigenschaften wie Bodengefühl und Agilität. Die nächsten Verwandten moderner Trailrunningschuhe sind schon lange nicht mehr die Trekkingschuhe– sondern viel mehr die schnellen Straßenlaufschuhe.

Zwei legendäre Trailschuhe: Der erste Hoka One One (Mafate) und der Bestseller Speedcross 3 von Salomon

Schneller, aber auch besser?

Die Antwort der Marken auf diese Problematik war und ist fortlaufend kreativ. Da werden zwei statt einer durchgängigen Platte verwendet, wie beim Hoka Tecton. Da werden Rods statt durchgängiger Platten verwendet, wie beim Terrex Agravic Speed Ultra. Da werden härtere Schäume verwendet, wie beim Dynafit Ultra DNA oder beim Merrell MTL Adapt. Das funktioniert ziemlich gut. Während Straßencarbonschuhe auf unebenem Geläuf quasi kaum zu kontrollieren sind, sind High-Performance-Trailschuhe flexibler und dadurch auf dem Trail laufbarer geworden. Was aber fast allen Schuhen gemein bleibt, ist der hohe Aufbau und die erhebliche Standhöhe. Dies setzt sich auch jenseits der High-Performance-Schuhe durch. Im Jahr 2025 schafft es kaum noch ein Trailschuh auf den Markt, der nicht eine kritische Menge an Dämpfungsmaterial aufweist. Das hat unbestreitbar große Vorteile: Noch nie waren Trailrunningschuhe so reaktiv, wie 2025. Noch nie waren Trailrunningschuhe so komfortabel, wie 2025. Noch nie waren Trailrunningschuhe so schnell, wie 2025. Zumindest gilt dies für eine kleine Zahl sehr ambitionierter und zügiger Trailrunning-Athleten. Denn zur Wahrheit gehört auch: Der Vorteil moderner Schaumtechnologien entfaltet sich erst ab einer gewissen Laufgeschwindigkeit und Laufdynamik. Diese ist beim Straßenlauf für eine große Zahl an Läufern und Läuferinnen gegeben. Aber auch beim Trailrunning? Schließlich wird in unserem Sport oft schnell gewandert statt gelaufen? Auch die Laufdauer ist oft deutlich länger und die Geschwindigkeit dementsprechend geringer. Ein großer Vorteil der Wunderschäume bleibt aber Trailrunning-spezifisch: Im Downhill wird ein großer Teil der erheblichen Aufprallenergie vom Schuh geschluckt, bevor sie unsere empfindliche Oberschenkelmuskulatur erreicht. In unserem Sport lassen uns Superschäume also nicht in erster Linie schneller laufen, viel mehr schonen sie unsere im Downhill stark beanspruchte Muskulatur, sodass wir auch Downhill Nummer zwei, drei und vier schnell hinunterlaufen können. Ein echter Game-Changer.

Allerdings zahlen wir dafür einen Preis: Je mehr Material unter unserem Fuß, desto geringer das Gefühl für den Trail. Auf einfachen Trails unter Umständen verschmerzbar. Auf fordernderen Trails sind wir in Schuhen, die näher am Boden stehen, sicherer und selbstbewusster unterwegs. Trailrunning-Profis sind in der Lage, dies zu kompensieren. Sie sind bereit, für ein Mehr an Performance Kompromisse einzugehen und lernen auch auf unebenem Terrain mit der großen Menge an Dämpfung umzugehen. Aber gilt das auch für uns normalsterbliche Läufer und Läuferinnen?

Autor Benni Bublak auf der Strecke des Zugspitz Ultratrail 2016. Die 100 Kilometer lief er im Salomon Slab Sense 8 - heute unvorstellbar.

Plateau auf die Trails?

Ich bin froh, dass meine ersten Trailrunning-Schritte im New Balance MT110 und anderen vergleichbar wenig gedämpften Schuhen stattfanden, statt in einem modern und üppig gedämpften Modell von heute. Vielleicht hätte ich den ein oder anderen Wettkampf schneller laufen können mit der heutigen Technologie. Aber in weniger Schuh lässt sich das Traillaufen doch erheblich besser erlernen. Und noch wichtiger: Lieben lernen. Wenn ich aus den schon beschriebenen Performance-Vorteilen zum modernen, gedämpften Schuh greife, vermisse ich es doch des Öfteren: Dieses Gefühl von Unmittelbarkeit, Wendigkeit und Dynamik, welches mir eben nur die Kombination aus Singletrail und dezent gedämpftem Trailschuh zu geben vermag.

Vor 10 Jahren lief man in Minimalschuhen, weil man sich einen gesundheitlichen Vorteil davon versprach. Eine gewisse Minimalismus-Attitüde schwang immer mit. Heute läuft man maximal gedämpfte Schuhe, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Schnell laufen ist die Maxime. Das ideologische Narrativ wich dem Performance-Narrativ. Ist der Wandel der Schuhkonstruktion eventuell auch ein wenig Abbild des Wandels der Trailrunningszene? Mir ist, was damals zu wenig war, heute etwas zu viel: Liebe Schuhhersteller, Schuhe mit 5 Zentimetern und mehr Plateau mögen in die 90er-Jahre Technoszene passen, aber nicht auf den Trail!

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