Finishen: Nur eine Frage des Willens?

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Did Not Finish sind drei harte Worte. Hart sein zu uns selbst. Das ist es, worauf es ankommt, wenn man einen Trailrun finishen will. Oder etwa nicht? Nein, sagt unser Autor und erklärt, warum die verhaltenspsychologische Methode der Ausführungsabsichten ein stärkeres Tool ist als der pure Wille.

Letzthin bei Kilometer 120: Ich laufe in die Verpflegungsstation, oder eher schleiche ich. »Nur noch ein Marathon«, steht auf einem Schild. Ich bin entschlossen, hier aus dem Rennen zu gehen. Die Beine schmerzen, der Gaumen pappt, mir ist schwindlig. Flasche leer. Um es kurz zu machen: Ich bin ins Ziel gekommen. Es war nicht schön, aber interessant. Ein Trick aus der Verhaltenspsychologie hat mir geholfen. In der Therapie ist er etabliert. Im Ultralaufen noch nicht.

Der deutsche Psychologe Peter Gollwitzer hat den Trick erfunden. Er hat sich lange damit beschäftigt, wie Menschen ihr eigenes Handeln steuern können. Die Lücke zwischen den Absichten eines Menschen und seinem Tun kennen wir alle: Dringend etwas erledigen müssen, aber auf der Couch prokrastinieren. Weniger Zucker essen wollen und doch wieder nicht am Süßigkeitenregal vorbeikommen. Oder eben, sich fest vorgenommen haben, dieses Rennen zu schaffen – und dann aufgeben. Psychologen sprechen von der »intention-behaviour gap«. Sie ist gut belegt durch Studien. Zum Beispiel verhalten Menschen, die beabsichtigen, sich umweltfreundlich zu verhalten, sich nicht wesentlich umweltfreundlicher als andere.

Foto: UTMB

Ich habe vor ein paar Jahren mit Gollwitzer telefoniert, für einen Artikel in einem Wissensmagazin darüber, wie man schlechte Gewohnheiten loswird. Gollwitzer lebt seit langem in New York und spricht seine Muttersprache Deutsch inzwischen mit amerikanischem Akzent. Seine Methode nennt er »implementation intentions«, was sich mit Ausführungsabsichten übersetzen lässt. Der seltsame Name wird verständlicher, wenn man bedenkt, wie wir gewöhnlich unsere Absichten formulieren: »Ich will mit dem Rauchen aufhören« – »Ich möchte auf alle Fälle finishen«. Das sind Zielabsichten. Eine Ausführungsabsicht sieht hingegen so aus: »Wenn ich am Schreibtisch nervös werde, dann gehe ich in die Küche und hole mir ein Glas Wasser.« Das ist ein konkreter Plan, ein »Wenn-dann-Plan«. Kein abstraktes Ziel wie »Mit dem Rauchen aufhören«.

Warum ist dieser Unterschied wichtig? Warum sollte es mit einer Absicht besser klappen, nur weil man sie etwas umformuliert? Weil unser Handeln oft von mächtigen Impulsen aus den archaischen Tiefen des Gehirns gesteuert wird. Auch das kennen wir alle. Morgens in der Küche Kaffee kochen: geht praktisch im Schlaf. Wenn man aber am ersten Urlaubsmorgen im Hotel aufwacht: Huch, wo bin ich? Wo gibt es Frühstück? Man muss denken, planen, aufmerksam sein. Fähigkeiten, die oft beeinträchtigt sind, wenn man die Nacht durchgefeiert hat oder durchgelaufen ist.

" Mit purem Willen gegen die eigenen Impulse ankämpfen, das geht auf die Dauer nicht gut. "

Tobias Hürter

Markus Mingo, der schnelle Läufer aus dem Bayerischen Wald, schreibt in einem Artikel: »Kämpfen bis zum Schluss lohnt sich immer! DNF ist keine Option!« Das klingt nach dem traditionellen Rezept »Reiß dich zusammen!«. Wenn es nicht geht, musst du es eben noch fester wollen. Doch diese Strategie hat einen Haken: Sie erfordert ständige Selbstkontrolle, und das ist äußerst anstrengend. Der amerikanische Psychologe Roy Baumeister hat das Phänomen der Ich-Erschöpfung (ego-depletion) ausgiebig studiert: Wer sich dauernd zusammenreißen muss, kann irgendwann nicht mehr. Mit purem Willen gegen die eigenen Impulse ankämpfen, das geht auf die Dauer nicht gut. Ein schwacher Moment, und der Impuls gewinnt. Einen Alkoholiker zu etwas mehr Willensanstrengung auffordern? »Viel Glück damit!«, sagt Peter Gollwitzer.

Auf der Ebene der Gehirnfunktion ist das Verfolgen eines Ziels ein komplexer, behäbiger »Top down«-Vorgang. Dagegen zeigen Studien von Neurowissenschaftlern, dass bei Handlungen, die von einem Wenn-dann-Plan gesteuert sind, gerade jene Gehirnareale anspringen, die für situativ gesteuertes Handeln zuständig sind – gerade jene, die auch impulsives Handeln kontrollieren. Auf diese Weise lässt sich also ein Impuls mit seinen eigenen Waffen schlagen.

Foto: UTMB

Seit Gollwitzer auf die Idee mit den Wenn-dann-Plänen kam, haben er und andere Psychologen in einer ganzen Flut von Studien gezeigt, dass sich das Verhalten mit ihnen tatsächlich deutlich besser steuern lässt als mit guten Vorsätzen. Patienten, denen ein künstliches Gelenk eingesetzt wurde, lernen mit Wenn-dann-Plänen schneller, ihren Alltag wieder zu bewältigen. Menschen, die ihren Fleischkonsum reduzieren wollen, sind mit Wenn-dann-Plänen besonders erfolgreich.

Diese Erkenntnisse, über die ich vor Jahren geschrieben hatte, fielen mir wieder ein, als ich mich auf den letzten 42 Kilometern zielwärts mühte. Ich bin ziemlich sicher, dass meine daraufhin kurzfristig gefassten Wenn-dann-Pläne mir geholfen haben, ins Ziel zu kommen. Zum Beispiel dieser Plan: »Wenn du an der nächsten Verpflegung keine feste Nahrung runterkriegst, führe mit Cola oder gezuckertem Kaffee Energie nach.« Und dieser: »Wenn du anläufst, achte auf kurze, schnelle Schritte.« Selbstautomatisierung statt Selbstbemitleidung.

Mehr als meine anekdotische Evidenz überzeugen mich die Argumente, mit denen sich Peter Gollwitzer und andere Wissenschaftler sich damals auseinandersetzten. Wenn-dann-Pläne sind schlauer als Durchbeißen, Kämpfen und eiserner Wille. Vermutlich benutzen manche Läuferinnen und Läufer sie längst, auch wenn ihnen Gollwitzers Konzept der Ausführungsabsichten neu ist.

Wer Erfahrungen dazu hat: interessiert mich! Gern an tobias@fastmail.com.

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