Laufen als Revolte gegen die Sinnlosigkeit?

Kein Bock zu lesen? Lass dir diesen Artikel einfach vorlesen. Jetzt Mitglied werden und Vorlesefunktion freischalten.

Was haben der Erfinder der Barkley Marathons Gary Cantrell und der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Albert Camus gemeinsam? Es ist jedenfalls nicht nur ihre Sportaffinität, die die beiden Künstler verbindet – der eine liebt das Laufen, der andere mochte Fußball –, sondern vor allem ihr erhabener und kreativer Umgang mit der (vermeintlichen) Sinnlosigkeit des Lebens. Wie können wir alle gegen diese Sinnlosigkeit revoltieren?

Es gibt wohl kein absurderes Trailevent auf der Welt als die Barkley Marathons. Wo du dich für den circa 160 Kilometer langen Lauf anmelden kannst? Das weiß niemand, also niemand außer des Initiators Gary Cantrell, besser bekannt als Lazarus Lake. Ach übrigens, die Distanz ist lediglich geschätzt, denn auch die weiß niemand so ganz genau zu beziffern. Um bei dem auf weltweites Interesse stoßenden Event mitmachen zu dürfen, musst du einen Essay verfassen und hoffen, dass du zu den 40 Auserwählten gehören wirst.

Wie du von deiner Teilnahmeberechtigung erfährst? Du erhältst ein Kondolenzschreiben. Ist es deine erste Teilnahme? Dann wirst du die Jungfrau genannt und musst ein Nummernschild deiner Region mitbringen, bist du zum zweiten Mal am Start, dann ist dein Mitbringsel ein weißes T-Shirt oder auch Socken. Diese (sinnlosen) Obligationen bestimmt Cantrell nach Gutdünken. Steht auf deiner Startnummer die 1, dann bist du der oder die, mit der nach Lake geringsten Wahrscheinlichkeit, es tatsächlich ins Ziel zu schaffen. Autsch!

Gary Cantrell, besser bekannt als Lazarus Lake, zündet sich eine Zigarette an, was als Startschuss für die Barkley Marathons gilt. Foto: Michael Hodge, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

Wann der Lauf startet? Auch das weiß nur Lazarus Lake. Eine Stunde vorm Start bläst er in eine Muschel, dann wissen die in Tennessee Versammelten Bescheid, dass es bald losgeht. Warum denn in eine Meeresmuschel, magst du dich berechtigterweise fragen, wir befinden uns ja in einem abgelegenen Waldstück und nicht bei einer Strandlaufveranstaltung? Ja, gute Frage, es erscheint nicht nur absurd, es ist tatsächlich sinnfrei. Einen ganz normalen Startschuss gibt es natürlich auch nicht, denn nichts an diesem Wettkampf gestaltet sich so, wie du es kennst: Erst einmal zündet sich Lake noch eine Zigarette an, raucht diese genüsslich vor den Augen der aufgeregten Läuferinnenschaft, die sich teilweise Jahre auf diesen Moment vorbereitet hat.

Alle Startenden erkennen das Zeichen: Sie rennen los. Was für ein irrwitziges Bild! Wo lang eigentlich? Schwierig zu sagen. Aufzeichnungen per Uhr sind verboten, es wird null Stravaeinträge geben. Es sind jedenfalls fünf höhenmeterlastige Runden durchs Dickicht auszumachen, unmarkiert, klar, und das Absurdeste kommt jetzt: Im Wald liegen irgendwo irgendwelche Bücher versteckt. Um zu finishen, musst du jedes Buch finden und die Seite, die deiner Startnummer entspricht, rausreißen und mitnehmen. Äh, ok. Bis zu dieser Stelle im Text tun sich viele Fragen auf. Die drängendste: Warum all diese Kuriositäten? Jetzt kommt Albert Camus ins Spiel.

Die Barkley Marathons: Ein hochphilosophisches Konzept?

Albert who? Kurz umrissen, weil wir uns in einem Trailrunningportal und nicht in einem Philosophie-Seminar befinden, hat der Franzose Albert Camus, der Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte, die sogenannte Philosophie des Absurden entwickelt. Eines seiner Hauptwerke ist der Essay “Der Mythos des Sisyphos“, daneben brachte er seine Ideen und Gedanken auch in Romanen und Theaterstücken zum Ausdruck und erhielt für ersteres den Literaturnobelpreis.

Camus meint, dass wir Menschen zur Absurdität verurteilt sind: Unser Leben sei total absurd und daher sinnlos, immer. Es könne glücklich verlaufen, so oder so sei es aber niemals sinnvoll. Wie können sich Menschen auf diese Sackgasse der Sinnlosigkeit verhalten? Laut Camus gibt es drei Verhaltensoptionen.

  1. Suizid. Aber das sei natürlich keine reale Option, denn das käme einem Aufgeben gleich.
  2. Man könnte sich einer Religion oder einer Ideologie anschließen. Also aufhören, selbst zu fragen und sein Leben selbst zu gestalten, sondern sich einfach ein fremdes Weltbild oder -konzept aneignen und sich auf die (vergebliche) Suche nach Sinn begeben. Aber das gliche einem philosophischem Suizid, denn das käme einem Ausweichen der unwiderlegbaren Tatsache gleich, dass unser absurdes Leben sinnlos ist und bietet damit ebenfalls keine reale Handlungsoption.
  3. Nach Camus bleibt nur der dritte Ansatz: Akzeptanz. Das Leben ist absurd und sinnlos, das wissen wir ganz genau und trotzdem leben wir es und zwar hoffnungsvoll, ja, sogar froh. Dieses höhnische Trotzdem sei eine permanente Revolte gegen das Absurde und die einzige Lösung, mit der Sinnlosigkeit umzugehen.

Sisyphos in einem Gemälde, das 1548/49 enstanden ist. Foto: Public Domain

Um ein Beispiel anzufügen: Schauen wir uns Sisyphos an. Die Figur aus der griechischen Mythologie, die vom Göttervater Zeus dazu verdammt wurde, auf ewig einen Steinklotz einen Gipfel herauf zu schieben, der wieder herunterrollt, um erneut herauf zu geschoben zu werden, der erneut herunterrollt, um erneut und erneut und erneut herauf geschoben zu werden. Sinnloser geht’s nicht. Camus aber sagt dazu: “Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.” Moment, was? Naja, Sisyphos scheint seine Aufgabe und damit die Sinnlosigkeit akzeptiert zu haben, denn er macht einfach weiter. Er ist im Hier und Jetzt und denkt nicht an die nächste Runde. In dieser Akzeptanz und in dem Im-Moment-Leben liegt Freude wie Freiheit.

Camus und Cantrell: Zeigen sie uns den Weg zum Glück?

Zurück zu den Barkley Marathons-Laufenden. Sie stellen kleine Sisyphosse dar, von Cantrell dazu verdammt, immer wieder in eine neue Runde einzubiegen, um irgendwelche Bücher im dichten Unterholz zu suchen. Muss man sie sich in ihrem absurden Läuferinnendasein als glückliche Menschen vorstellen?

Cantrell scheint Camus Philosophie des Absurden nicht nur verinnerlicht, sondern in der Praxis organisiert zu haben. Diese Philosophie der Freiheit und des Individualismus ruft dazu auf, sein eigenes Leben in irgendeiner Weise zu gestalten. Da eh alles sinnlos ist, kann man auch so ein Konzept wie die Barkley Marathons mit all ihren kuriosen Regeln entwerfen und trotz all der darin wohnenden Sinnlosigkeit ernst nehmen. Die Teilnahme führt allen die Sinnlosigkeit erst so richtig vor Augen. Und schaut man sich die Teilnehmenden zum Beispiel in den diversen YouTube-Filmen dazu an, schaut man in viele glückliche Gesichter.

" Würde Sisyphos daran denken, dass er künftig, also ewig einen Stein schieben muss, wäre er wohl an der Augenscheinlichkeit dieser sinnlosen Aufgabe verzweifelt. Genau wie die Laufenden in Tennessee. "

Juliane Bruneß

Selbst dass die Wahrscheinlichkeit eines Scheitern höher liegt als die eines Finish, ist Teil des Konzepts (bisher finishten seit 1977 erst 19 Männer plus Jasmin Paris das Event): Nur so bleibt garantiert, dass die Einzelnen im Moment leben und nicht zu weit in die Zukunft schauen. “You have to live in the moment”, sagt Lake. Die Anmelde- und Startzeremonie garantieren genau das. Sehr aufmerksam müssen alle jeden Moment darauf achten, wann die absurde Muschel erklingt, die den Start des sinnlosen Rennens symbolisiert. Und wenn du dir darüber Gedanken machst, was auf der nächsten der insgesamt fünf Runden auf dich wartet, wirst du notwendigerweise scheitern, denn die Strecke und die Buchsuche erfordert all deine Aufmerksamkeit. Das immer im Moment sein, wird zur Erfolgsvoraussetzung. Und das immer im Moment sein ist auch Glücksgefühlvoraussetzung.

Camus würde Cantrell wohl zustimmen. Philosophisch ausgedrückt, solltest du keinen teleologischen Ansatz in deinem Leben verfolgen, also einen Ansatz, der auf ein Ziel in der Zukunft gerichtet ist, sondern stattdessen im Hier und Jetzt leben. Würde Sisyphos daran denken, dass er künftig, also ewig einen Stein schieben muss, wäre er wohl an der Augenscheinlichkeit dieser sinnlosen Aufgabe verzweifelt. Genau wie die Laufenden in Tennessee.

Albert Camus im Jahr 1957. Foto: United Press International, Public domain, via Wikimedia Commons

Cantrell hat das Konzipieren solch absurder Events zum Sport gemacht: Neben den Barkley Marathons hat er noch andere abstrus anmutende Rennformate ins Leben gerufen, so zum Beispiel die Backyard Ultras, ein Format in dem du pro Stunde 6,706 km zurücklegen musst und das 24 Mal, sodass du am Ende eines Tages auf 100 Meilen, also 160 km, kommst. Und so weiter. Wer die meisten Runden läuft, gewinnt. Ähnlich wie Sisyphos werden Teilnehmende gezwungen, im Moment zu laufen, sonst würden sie wahrscheinlich sofort sportlichen Suizid begehen (also ein DNF), angesichts der Sinnlosigkeit der sich immer wiederholenden Aufgabe stupide um irgendeinem Hinterhof rumzujoggen, immer und immer wieder.

Ist das (Lauf-)Kunst oder kann das weg?

Das was Lake da kreiert, lässt uns ihn als Leonardo da Vinci of Pain bezeichnen, und seine Projekte als Performance Kunst, die durch den künstlerischen Gehalt der situationsbezogenen Darbietung gekennzeichnet sind. Die Barkley Marathons sind als sein Meisterwerk in verschiedenen Sätzen anzuerkennen. Jeder einzelne Teilnehmer wird Teil des Projekts und die Läuferinnenschaft somit zum Künstlerkollektiv. Und apropos Kollektiv und Gemeinschaft – der sich daran anlehnende Begriff der Solidarität war auch Camus sehr wichtig.

Er meint, dass du dein Leben, selbst wenn es sinnlos ist, nach Werten ausrichten kannst und ein wichtiger Wert ist der der Solidarität. Auch diesen Aspekt hat Cantrell berücksichtigt, denn die Barkley Marathons werden durch Spenden aus dem Läuferinnenkollektiv finanziert, was ja nichts anderes als eine solidarische Geldgabe ist. Die Grundlage dafür, dass das Event stattfinden kann, legt also ein solidarischer Akt, so wie für Camus die Grundlage für ein glückliches Leben durch solidarisches Handeln ausgezeichnet ist.

“Where Dreams Go To Die” heißt eine YouTube-Dokumentation, in der der Protagonist Gary Robbins beim knappen Scheitern der Barkley Marathons gezeigt wird. Philosophisch betrachtet, gerät Robbins in eine existentielle Krise, die nach Camus notwendig scheint, um die Sinnlosigkeit erst zu erkennen, dann zu akzeptieren, um im nächsten Schritt zu Freiheit wie Glück zu finden und einfach zu machen.

Filmplakat des Films "Where Dreams Go To Die". Quelle: IMDb

Das “höhnische Trotzdem” zeichnet sich in den Gesichtern der Startenden deutlich ab, die der Absurdität ins Gesicht zu lachen scheinen: Trotz der (gewollt hohen) Möglichkeit des Scheiterns, trotz der absurd widrigen Bedingungen, trotz der grandiosen Sinnlosigkeit werden sie dieses Race antreten, teils mehrfach.

Bewegen wir uns weg von den Barkley Marathons, die das Absurde stark zuspitzen. Jedes Race ist nämlich sinnlos, laut Camus ist ja alles sinnlos. Camus als großer Fußballfan soll gesagt haben: “Alles, was ich über Moral weiß, verdanke ich dem Sport”. Wenn ich laufe, einen Pass spiele oder einen Steinklotz mit meiner Körperkraft einen Berg hinaufschiebe – das alles gleicht einer Revolte gegen die Sinnlosigkeit. Albert Camus wäre wohl ein exzellenter Ultratrailläufer gewesen. Und Gary Cantrell? Der besitzt exzellentes philosophisches Potenzial.

Über das Thema sprechen Christian und Juliane im Vom Laufen-Podcast, Folge 67.

Jack Kuenzle: Der Unangepasste

Ausgelaufen? Wenn die Motivation verloren geht