Das digitale Laufband – Likes, Kudos und der Tod deines Lauf-Warums

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Verändert Social Media unser Verhältnis zum Laufen? Laufen wir eher für einen Algorithmus als für uns selbst? Unser Autor Chris Zehetleitner sagt ja und verrät uns, was man dagegen tun kann.

Das wird jetzt ein bisschen wehtun, aber jemand muss es aussprechen: Wir Läuferinnen und Läufer haben eine mehr als fragwürdige Beziehung zu sozialen Medien.

In einer Welt, in der jeder Lauf getrackt, jede Route geteilt und jede persönliche Bestleistung an Hunderte von Followern übertragen wird, haben wir es irgendwie geschafft, den simplen Akt des Laufens in eine Theateraufführung für ein quasi-unsichtbares Publikum zu verwandeln.

Das mag für viele keine „big news“ sein. Aber das hindert mich nicht daran, mich selbst (und alle, die dies lesen) an den unverhältnismäßig hohen Preis zu erinnern, den wir für unser Verhalten zahlen.

Die Beziehung zwischen Laufenden und sozialen Plattformen, allen voran Instagram und Strava, hat sich zu etwas entwickelt, das sich oft mehr wie eine Verpflichtung anfühlt als eine freie Entscheidung. Ich spreche hier nicht über Technologie oder soziales Verhalten an sich. Ich spreche darüber, was mit unserer fundamentalen Beziehung zum Laufen geschieht, wenn sie untrennbar mit öffentlicher Bestätigung verknüpft wird.

Fotos: Topo Athletic

Der Rausch der Gefühle: Wenn Kudos das Dopamin liefern, nicht das Laufen

Erinnerst du dich noch an die Zeit, als das Runner’s High oder das „gute Gefühl danach“ alles war, was du brauchtest? Heute wird diese Euphorie über das Laufen für viele von uns vom Gieren nach Likes und Kommentaren gekapert. Der emotionale Rausch des Laufens konkurriert mit dem Dopaminschub beim Anblick der Herzen und Daumen, die auf deinem perfekt gefilterten Lauf-Selfie oder deiner akribisch dokumentierten Strava-Aktivität eingehen.

Was als Plattformen zum Vernetzen mit anderen Läuferinnen und Läufern begann, hat sich in Bestätigungsmaschinen verwandelt. Wir haben ein Ökosystem geschaffen, in dem ein 10-Kilometer-Lauf ohne fotografischen Beweis praktisch nicht stattgefunden hat. Eine persönliche Bestleistung ohne Glückwünsche und Anerkennung in den Kommentaren fühlt sich seltsam leer an. Die innere Zufriedenheit über die eigene Anstrengung und Leistung wurden mit externer Bestätigung verheiratet.

Das Ergebnis? Wir laufen für einen Algorithmus anstatt für uns selbst.

Der Vergleichs-Marathon: In dem alle anderen schneller zu sein scheinen

„Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“, sagt man. Doch soziale Medien sind zu einem endlosen Highlight-Reel geworden, das Vergleiche nicht nur unvermeidlich, sondern auch pausenlos macht.

Scrolle an einem beliebigen Tag durch Instagram und du findest eine Ultraläuferin, die wie selbstverständlich 50K-Trainingsläufe vor dem Frühstück absolviert. Wechsle zu Strava und sieh dir den Laufcrew-Kollegen an, der seine 5K-Zeiten um Minuten verbessert, während er es „locker angehen lässt“. Die sozialen Plattformen haben die Kunst perfektioniert, das Außergewöhnliche normal und das Außerordentliche erwartbar erscheinen zu lassen.

Für durchschnittliche Laufende – diejenigen, die darum kämpfen, 30 Kilometer pro Woche zwischen Beruf, Familie und anderen Lebensplänen unterzubringen – wird diese kuratierte Darstellung läuferischer Exzellenz zu einer zermürbenden Erinnerung an die eigene vermeintliche Unzulänglichkeit. Die Freude am eigenen Fortschritt geht im Schatten der scheinbar mühelosen Erfolge anderer komplett verloren.

Die Perfektionisten-Choreografie: Inszenierung deines Lauflebens

Es gibt eine wachsende Absurdität in der Art und Weise, wie wir unser Laufleben dokumentieren. Das „lässige“ Lauf-Selfie, für das 12 Versuche nötig waren. Das strategische Posten von Läufen (nie zu langsam, nie zu kurz), um eine bestimmte Online-Persona aufrechtzuerhalten. Die sorgfältig formulierten Bildunterschriften, die Leistungen gerade genug herunterspielen, um nicht angeberisch zu wirken, während gleichzeitig sichergestellt wird, dass alle genau wissen, wie schnell und wie weit du gelaufen bist.

Wir haben eine regelrechte Choreografie, für unsere Lauf-Inhalte entwickelt: Winkel, die unsere Schritte effizienter erscheinen lassen, Filter, die den dramatischen Himmel bei unseren Sonnenaufgangsläufen verstärken, und strategisch platzierte Ausrüstung, um Markenzugehörigkeiten zur Schau zu stellen. Das Laufen, einst eine der authentischsten Aktivitäten überhaupt, ist für viele zu einer Inszenierung geworden.

Der Sponsoren-Traum: Wenn Einfluss wichtiger wird als Fortschritt

Der Aufstieg der „Lauf-Influencer“ hat die Ambitionen innerhalb des Sports umgeprägt. Für viele Neueinsteiger geht es nicht mehr nur darum, besser zu werden. Es geht darum, gesponsert zu werden, kostenloses Equipment zu erhalten, Markenbotschafterprogrammen beizutreten.

Diese Verlagerung der Motivation von innen nach außen hat weitreichende Folgen. Trainingsentscheidungen werden von dem beeinflusst, was Engagement erzeugt, nicht von dem, was Ergebnisse oder Freude bringt. Die Laufenden jagen Trends hinterher, anstatt der allgemeinen Trainingslehre zu folgen. Die Grundfrage „Was macht mich besser?“ wird ersetzt durch „Was macht mich vermarktbarer?“.

Inzwischen haben Marken gelernt, aus unseren Unsicherheiten und Sehnsüchten Kapital zu schlagen, indem sie die Illusion schaffen, dass die richtige Ausrüstung, die richtigen Ernährungsprodukte oder die richtige Trainings-App uns in die Läuferpersönlichkeiten verwandeln, die wir in unseren Feeds sehen. Wir haben vergessen, dass die meisten Legenden, die diesen Sport aufgebaut haben, dies ohne GPS-Uhren, Hightech-Stoffe mit Mottenlöchern oder Superschuhe mit Karbonplatten getan haben. Von sozialer Anerkennung ganz zu schweigen.

" Jenseits der Likes, jenseits der Kudos, jenseits der Bestätigung liegt dein ursprünglicher Grund für das Laufen. "

Chris Z

Das Authentizitäts-Vakuum: Laufen ohne Filter

Der vielleicht heimtückischste Effekt der sozialen Medien auf die Laufkultur ist, dass sie authentische Erfahrungen untergraben. Die schwierigen, chaotischen und unglamourösen Aspekte des Laufens – die verpatzten Trainingseinheiten, die Einbrüche, die Verletzungen, die enttäuschenden Wettkämpfe oder einfach die Hunderte von „Ich hatte heute keinen guten Tag“-Läufen – verschwinden größtenteils aus unseren Feeds. Was bleibt, ist eine sterilisierte Version des Laufens, die wenig mit der Realität des Sports zu tun hat.

Neulinge sehen dieses Highlight-Reel und fragen sich, warum ihre eigenen Erfahrungen – voller Kampf, Unbehagen und langsamen, fast nicht vorhandenen Fortschritten – so ganz anders sind als das, was sie online sehen. Erfahrene Läuferinnen und Läufer bearbeiten ihre eigene Laufnarrative, um in die erwartete Form zu passen, während sie selektive Wahrheiten teilen und die vollständige Erfahrung verbergen.

Wir haben eine Kultur geschaffen, in der Verletzlichkeit inszeniert wird, anstatt echt zu sein. „Authentische“ Posts über Rückschläge sind sorgfältig kalkuliert, um Belastbarkeit und Stärke zu demonstrieren, nicht um echte Schwäche zu zeigen. Sogar unsere Misserfolge werden zu optimiertem Content, um den Hype zu maximieren.

Laufen unplugged: Die Zurückeroberung deines Lauf-Warums

Aber wie können wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen? Wie können wir wieder zum Laufen um des Laufens willen zurückkehren und nicht um des sozialen Wertes willen?

Die Antwort liegt nicht unbedingt darin, diese Plattformen ganz aufzugeben. Sie bieten echte Vorteile in Bezug auf Gemeinschaft, Informationsaustausch, Unterhaltung und positive Inspiration, wenn sie bewusst genutzt werden. Stattdessen müssen wir die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen, grundlegend ändern.

Ich bin kein großer Fan von Ratgebern und sicher nicht die geeignete Person, um sie zu erstellen. Aber hier sind ein paar Ideen, die für uns alle funktionieren könnten:

  • Beginne damit, deine Motivationen zu hinterfragen. Machst du diesen Lauf für dich selbst oder für andere? Würdest du deine Läufe auch dann noch genießen, wenn niemand davon erfährt? Diese unbequemen Fragen können offenbaren, wie stark soziale Bestätigung mit deiner Identität als laufender Mensch verwoben ist.
  • Denke über regelmäßige Social Media Fastenzeiten für Laufinhalte nach. Lauf „nackt“ ohne Tracking-Geräte. Erlebe Läufe, ohne sie zu dokumentieren. Finde die private Freude wieder, die dich ursprünglich zu diesem wunderbaren Sport gebracht hat.
  • Kuratiere deine Feeds gnadenlos. Folge keine Accounts, die bei dir Vergleiche triggern oder Unzulänglichkeitsgefühle auslösen. Finde Content Creators, die das ganze Spektrum des Laufens zeigen – die Triumphe und die Rückschläge – anstatt nur hochglanzpolierte Highlight-Reels.
  • Am wichtigsten: Finde wieder zu deinem „Lauf-Warum“ zurück. Jenseits der Likes, jenseits der Kudos, jenseits der Bestätigung liegt dein ursprünglicher Grund für das Laufen. Ob es die Gesundheit, den Kopf frei bekommen, der Wettkampftrieb oder einfach die Freude an der Bewegung war, diese Kernmotivation, dein „Lauf-Warum“, ist für immer und nachhaltiger als jedes externe Belohnungssystem.

Die Revolution des Genugseins: Finde Zufriedenheit in deiner Laufgeschichte

Aber der revolutionärste Akt in der heutigen Laufkultur ist es, dich selbst als genug zu erklären. Dein Tempo ist genug. Die Distanzen die du läufst sind genug. Dein Körper ist genug. Deine Anstrengung ist genug.

Dabei geht es nicht darum, Standards zu senken oder Ambitionen aufzugeben. Es geht darum, die Hoheit zurückzugewinnen, Erfolg nach eigenen Maßstäben zu definieren und nicht nach den Metriken sozialer Anerkennung.

Der stille, undokumentierte und ungesehene Lauf kann der tiefste und bewegendste sein. Der persönliche Triumph, der nur innerlich gefeiert wird, kann der bedeutsamste sein. Der Weg, mit all seinen Unzulänglichkeiten, ist die wahre Geschichte, für die es sich zu laufen lohnt.

Als Läuferinnen und Läufer stehen vor einer fundamentalen Entscheidung: Laufen wir für den Feed oder für uns selbst? Darauf läuft alles hinaus.

Wenn du die Likes, die Follower und die digitale Bestätigung wegnimmst, bleibt die uralte Wahrheit, die deine Füße und dein Herz schon immer kannten: Laufen ist nichts, was du teilst, es ist etwas, zu dem du wirst.

Dieser Artikel ist ebenfalls im wöchentlichen Newsletter „Das Z-Letter“ von Chris Zehetleitner erschienen, den wir wärmstens empfehlen.

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