Wanderer nimmt an Ultras teil, läuft keinen Schritt und ist schneller als die meisten Läufer

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Es gibt Wanderer, die an Ultratrails teilnehmen und im vorderen Bereich abschneiden – ohne auch nur einen einzigen Schritt gelaufen zu sein. Wie bitte? Im Kern geht es hier um nichts anderes als die Definition unseres Sports und um das Selbstverständnis derer, die ihn ausüben. Tun Wanderer etwa nichts anderes als Trailrunner auch, nur ohne High-end-Ausrüstung, sündhaft teurer Sporternährung und ohne die ersten 500 Meter eines Trailrennens als Alibi zu traben, bevor es sowieso in den dauerhaften Wanderschritt übergeht? Darüber haben wir mit dem Wanderweltmeister und Ultrahiker Jannik Giesen gesprochen.

„Es war furchtbar“, fasst Jannik seine erste Weitwandererfahrung zusammen. Aus Neugierde wollte er wissen, ob es möglich ist, 1.000 Kilometer in 20 Tagen, also 50 km am Tag, zu Fuß zurückzulegen. Ein befreundeter Student der Sportwissenschaften rät ihm ab: Das sei unmöglich ohne ausgiebiges Training. Ohnehin würde man die ganzen Kalorien nicht wieder reinkriegen. „Das habe ich als Challenge angesehen und habe es dann einfach gemacht. Ich bin nach Flensburg gefahren und bin mit einem 20 kg Rucksack einmal um Dänemark rumgelatscht“, sagt Jannik uns am Telefon. Auf der Tour hat er im Regen im Zelt geschlafen. Es ist eine körperliche und mentale Grenzerfahrung. Gleichzeitig spürt er: Es gibt verdammt nochmal nichts besseres. Und: Er kann das. Das Feuer ist entfacht.

Jannik Giesen bei einer Wanderung im Wald. Foto: Privat

Jannik Giesen ist 35 Jahre alt und wohnt in Wuppertal. Der bei der Deutschen Bahn angestellte Rheinländer hat die Fortbewegungsform Wandern vor rund 10 Jahren für sich entdeckt. Kurze Zeit später beginnt der Weitwander-Boom mit organisierten Veranstaltungen namens Mammutmarsch und Megamarsch. Eine Szene entwickelt sich. Das Fernwandern wird gesellschaftlich normalisiert. Sehr zur Freude von Jannik. „Man wurde von da an nicht mehr wie ein Aussätziger behandelt“, erinnert sich der rotblonde Vollbartträger. Heute darf sich der Mittdreißiger Wanderweltmeister nennen. Diesen Titel hat er 2023 erlangt. Dafür wanderte er im Rahmen des Mammutmarsch in Duisburg 186 km binnen 24 Stunden. Nicht nur das. In Ultraläufen schneidet Jannik im vorderen Bereich ab und lässt die Mehrheit der gemeldeten Läuferinnen und Läufer im Wanderschritt hinter sich. Wie kann das sein?

Sind Trailrunner eigentlich verkappte Wanderer?

Dass Trail- und Ultrarunner eigentlich verkappte Wanderer in Rennmontur sind, ist ein Motiv, dass in vielen Witzen und Memes aufgegriffen wird. “Experts say new data reveals trail running and hiking may be more closely related than originally thought”. Diese Nachricht hat das Instagramprofil “yaboyscottjurek” vor wenigen Tagen verkündet. Zu Deutsch: Experten zufolge zeigen neue Daten, dass Trailrunning und Wandern möglicherweise enger miteinander verwandt sind als ursprünglich angenommen. Bei dem Post handelt sich natürlich nicht um ein tatsächliches Studienergebnis, sondern um Satire. Beinahe täglich macht sich „yaboyscottjurek“ über Trail- und Ultraläufer lustig und legt die vermeintlichen Absurditäten des Sports offen.

Ein beliebtes Ziel seiner Satire ist die Aussage, dass Ultralaufende eigentlich nichts anderes tun als Wandern (dies allerdings aus Ego-Gründen nicht zugeben wollen und sich in ihren Hightech-Laufoutfits aufspielen wie die ultimativen Ausnahme-Extremsportler). Deshalb nennen sie es auch nicht Wandern, wenn sie im Zuge eines Ultras gehen müssen, sondern Powerhiking. Die Posts entstehen nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Liebe zum Sport. (Höre dazu auch die Trailfunk Folge: Warum uns Trailrunning-Memes zum Lachen bringen“). Der Volksmund besagt, dass in jedem Scherz auch ein Körnchen Wahrheit steckt. So scheint es auch hier zu sein. Ist es ein wunder Punkt der Trailrunningcommunity, sich unbedingt vom Wandern abgrenzen zu wollen?

"Echte Ultraläufer wandern nicht, sie Powerhiken." Foto: Screenshot von instagram.com/yaboyscottjurek

„Du gehst ja so schnell, wie ich laufe“, ist ein Spruch, den Jannik Giesen immer wieder zu hören bekommt. „Am Anfang bist du in einem Pulk aus Läufern, die so 8 km/h laufen. Ich juckel neben denen her und bin genauso schnell, ich habe nur eine andere Technik.“ Der Wanderweltmeister schafft eine Höchstgeschwindigkeit von 9 km/h. Das ist eine Pace von 6:40 min/km. „Das ist definitiv kein olympisches Gehen, es ist kein Laufen. Ich würde es einfach Wandern nennen“, sagt der Wuppertaler, der sich in den sozialen Medien „lonewolf_ultrahiking“ nennt. Ultrahiking also. Ist das nicht ein Begriff, der dem sehr nahekommt, was die Mehrheit der Trailrunner während eines langen Ultratrails tun?

" Ich verspüre gar nicht den Reiz zu laufen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich am Ende schneller im Ziel wäre. "

Jannik Giesen

100 Meilen Berlin: Unter den schnellsten 10 %

„Typischerweise bin ich kurz nach dem Start in den hinteren 20 % des Feldes. Und dann rolle ich das Feld von hinten auf. Die Läufer werden immer langsamer und machen immer länger Pause. Man läuft an allen vorbei und ist am Ende Platz 30 von über 300.“ So war es im Oktober 2024 beim Mauerweglauf, auch bekannt als „Die 100 Meilen Berlin“. Auf größtenteils asphaltierten Wegen geht es einmal um das ehemalige West-Berlin herum. „Dem ein oder anderen schmeckt das gar nicht, wenn ich als Nicht-Läufer an denen vorbeihusche.“ Kein Wunder: Einen Ultratrail, den man aus Erschöpfung nur noch gehend ins Ziel bringt, nennen Trailrunner augenzwinkernd „Wandertag“. Wer will schon von einem Wanderer überholt werden?

Es motiviere ihn, Läufer zu ärgern, witzelt Jannik. Rein sportlich gesehen natürlich. Denkt er nicht manchmal darüber nach, wie schnell er wäre, wenn er immer mal wieder einen Kilometer laufen würde? Nein, er wandere aus Überzeugung. „Ich verspüre gar nicht den Reiz zu laufen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich am Ende schneller im Ziel wäre. Im Wandern bin ich am effizientesten“, meint der großgewachsene Wandersmann. Die, die laufen, machen es sich aus seiner Sicht manchmal etwas zu kompliziert. „Wie viel Spezialausrüstung braucht man? Wie obsessiv muss man irgendwelche Ernährungsregeln einhalten? Je unabhängiger man unterwegs ist, desto besser“, findet Jannik.

Jannik beim Halden Mohikaner 2024, einem Last One Standing-Rennen auf der Bergehalde der ehemaligen Grube Göttelborn. Foto: Privat

Der einsame Wolf

„Das mit dem einsamen Wolf passte gut“, antwortet er auf die Frage, wie er zu seinem Instagram-Namen „lonewolf_ultrahiking“ kam. Er habe mal gelesen, dass Wölfe zwar Rudeltiere seien, sich einzelne Tiere aber teilweise Tausende Kilometer weit von der Gruppe entfernen, nur um dann nach langer Zeit zum eigentlichen Rudel zurückzukehren. Die beste Leistung hole er aus sich heraus, wenn er alleine unterwegs sei. Das habe er schnell gemerkt. Dann komme er in das Flow-Erlebnis. Dann würde er das finden, was er auf den strapaziösen Wanderungen sucht. „Dadurch, dass es ultra-anstrengend, hart und fies ist und alles wehtut, kommt man gar nicht umhin, im Moment zu sein. Denn jeder einzelne Schritt für sich ist machbar. Das hat viel mit dem ursprünglichen Wandergedanken der Romantik zu tun: die Schönheit des Augenblicks wahrnehmen, Einswerden mit der Natur. Das ist der philosophische Reiz, warum ich das mache. Es ist die Möglichkeit im Leiden zu echter Selbsterkenntnis zu finden.“ Gedanken, die uns Trailrunnern bekannt vorkommen dürften.

In privaten Projekten lebt er einerseits seine Leidenschaft für das einsame Weitwandern aus: Er geht von Köln nach Nordschottland, von Venedig nach Köln und von Wuppertal nach St. Petersburg. Andererseits reizt ihn auch das Wettkampfformat. Denn irgendwann stellt sich nicht mehr nur die Frage nach der Machbarkeit, sondern auch nach der Schnelligkeit. Der Leistungsgedanke ist im Extremwandern genauso vorhanden wie in anderen Sportarten. Auch bei Jannik ist der sportliche Ehrgeiz geweckt, nachdem er sich seiner Ehefrau zuliebe 2018 für einen gemeinsamen 100 km-langen Mammutmarsch angemeldet hat. Seine Partnerin wurde im Vorfeld krank, konnte nicht starten. „Dann kannst du auch Vollgas durchballern“, habe er sich gesagt, und los gings. Die Zeit von damals sei in der inoffiziellen Mammutmarsch-Bestenliste immer noch Top 3. „Und die anderen beiden Zeiten sind auch von mir“, sagt Jannik nicht ohne Stolz. Janniks aktuelle 100 km-Wander-Bestzeit mit Startgepäck von 8 kg: 11:45 Stunden, was einer Durchschnittspace von 7:03 min/km entspricht.

" Die Wandercommunity hält mich eigentlich für einen Läufer. Der ist ungerecht schnell, heißt es. "

Jannik Giesen

Zwischen den Stühlen

Er trainiert zwischen 20 und 25 Stunden pro Woche. Die meiste Zeit wandert er. Etwas Lauftraining ist allerdings auch dabei. Wöchentlich etwa 20-30 km. „Ich würde mich selbst nicht als guten Läufer bezeichnen.“ Einen 10 km-Lauf oder einen Halbmarathon laufe er schon mal auf Zeit, aber Laufen als Hauptsport? Für Jannik ausgeschlossen. „Die Wandercommunity hält mich eigentlich für einen Läufer. Der ist ungerecht schnell, heißt es. Den müsste man eigentlich aus der Wertung nehmen. Aber für Läufer bin ich auch irgendwie falsch. Ich stehe etwas zwischen den Stühlen.“ Erst ab einer Distanz von 100 km sei er überhaupt konkurrenzfähig und könne Läuferinnen und Läufer, wie er sagt, „ärgern“. Auf kürzeren Strecken habe er als Wanderer keine Chance.

Jannik Giesen in seiner Wandermontur.

Es sei übrigens eine absolut goldene Regel, ein Ehrenkodex und eine Reputationsfrage unter Wanderern bei Wanderveranstaltungen wie dem Mammutmarsch nicht heimlich zu laufen. „Wer das macht, ist asi, weil man sich durch eine andere, schnellere Technik einen Vorteil verschafft.“ In Janniks Kopf sei das strikt voneinander getrennt, Laufen und Wandern. Ganz im Gegensatz zu Laufevents, wo prinzipiell jeder und jedem freigestellt ist, wie man sich (auf den eigenen zwei Beinen) fortbewegt. Aber auch hier gelte für den Wanderweltmeister der persönliche Ehrenkodex. Wenn er hier und da laufen würde, wäre er ja nur einer unter vielen. Dann würde der Witz an der Sache fehlen. Es wäre weniger besonders.

Bei den Backyard Ultras verschmilzt Laufen und Wandern miteinander. Da sieht man beides. Auch in dieser Disziplin kann Jannik sich behaupten. Beim Laufhaus Backyard Ultra wird er nach 49 Stunden und 322 km Zweiter. Bei der letztjährigen Team-Weltmeisterschaft ist er ebenfalls am Start. Für ihn ist klar: Am Ende ist die sportliche Leistung aller Teilnehmenden ziemlich vergleichbar. Der Strecke des Backyard Ultras (und letztlich der aller anderen Ultra-Distanzen auch) ist es egal, ob man geht oder läuft: Jeder Meter muss zu Fuß zurückgelegt werden. An die körperlichen und mentalen Grenzen stoßen wir am Ende alle: Trailrunner, Läuferinnen, Wanderer, Ultrahiker und alle anderen dazwischen auch.

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