Jörg Zenkel: Ein Long-Covid-Patient läuft der Erschöpfung davon

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Energie ist die Währung von uns Sportlern. Was aber, wenn genau selbige plötzlich komplett abhandenkommt? Wenn vor lauter Erschöpfung der Sport , aber vor allem ein normaler Alltag nicht mehr möglich ist? Jörg Zenkel, ein ME/CFS-Patient und leistungsstarker Trailrunner, erzählt uns seine bewegende Geschichte.

„Es gibt Tage, da liege ich nur im Bett. Tage, da müssen mir Freunde das Essen vor die Tür stellen, weil ich weder aufstehen noch reden kann.“ 

„Als Franke, willst du einmal den Solarer Berg hochfahren. Mein Ziel, den Challenge Roth zu finishen, war immer in meinem Kopf.“

Zwei Sätze, die fast unmittelbar hintereinander Jörgs Mund verlassen. Jörg leidet unter ME/CFS. Eine kaum erforschte Krankheit, die zumeist ausgelöst durch eine virale Infektion zu erheblichen Erschöpfungszuständen führt. In Deutschland leiden schätzungsweise 500.000 Menschen an diesem Krankheitsbild. Diese Zahl hat sich seit der Corona-Pandemie verdoppelt. Unter dem Begriff Long-Covid wurde die Krankheit ME/CFS einem breiteren Publikum bekannt. Jörg erkrankte schon viele Jahre vor der Pandemie an ME/CFS, galt zwischenzeitlich sogar als geheilt, gewann Trailläufe und finishte eine Triathlon-Langdistanz. Seit zwei aufeinanderfolgenden Corona-Infektionen im Sommer vergangenen Jahres hat sich sein Zustand allerdings erneut drastisch verschlechtert. 

Zwischen Berglaufmeister und völliger Erschöpfung

Ich treffe Jörg in seiner Wahl-Heimat Innsbruck. Es ist Föhnlage. Ein paradoxes Phänomen im Tiroler Inntal. Trotz kalendarischen Hochwinter pfeifen warme Windböen nahezu ohrenbetäubend durch die Gassen der Alpenmetropole. Auf unserem kleinen Spaziergang hoch zur Bergisel-Schanze erzählt mir Jörg durch den Sturm hindurch seine Geschichte. Nach einer kurzen Fußballkarriere nimmt er schon als Jugendlicher an Schülerläufen teil, gewinnt diese sogar. Er gehört zur bayerischen Laufspitze, rennt die zehn Kilometer schon mit 16 Jahren in 36 Minuten, läuft bei den bayerischen Berglaufmeisterschaften auf Platz drei und gewinnt den BLV-Lauf-Cup.

Doch auch gesundheitliche Probleme begleiten Jörg in jungen Jahren. Zweimal erkrankt er ernsthaft an Pfeifferschem Drüsenfieber (2004+2005). Mit 20 Jahren läuft der hoffnungsvolle Nachwuchs-Athlet in München seinen ersten Marathon, von dem er sich nie wieder so richtig erholt. Über Jahre hinweg erfolgt eine Aneinanderreihung unschöner Diagnosen: Virusinfektionen, Schilddrüsenunterfunktion, chronische Prostatitis, unzählige Lebensmittelunverträglichkeiten, chronische Nasennebenhöhlenentzündung, Darmentzündungen und immer wieder diese Energielosigkeit und Schwäche. Die Ärzte sind ratlos.

Jörg Zenkel über seiner Wahl-Heimat Innsbruck

Aus dem heute 36-jährigen Trailläufer sprudeln nur so die medizinischen Termini und Fachbegriffe. Jörg ist der größte Experte seiner eigenen Krankheitsgeschichte. Wann immer es sein Zustand zulässt, informiert er sich über neue Behandlungskonzepte, Studien und Erfahrungen anderer Betroffener. Arbeiten gehen ist im Moment undenkbar. ME/CFS ist ein Vollzeitjob. Ich merke, wie wichtig es Jörg ist, seine Erfahrungen zu teilen und seine Geschichte zu erzählen. Es ist ein wenig paradox: Da steckt unfassbar viel Energie und Kampfeswille in Jörgs Worten, aber gleichzeitig ist da diese Erschöpfung in seinen Augen. Ich spüre, wie ihn unser Gespräch anstrengt. Ich habe Sorge, dass ich Jörg überlaste. Der studierte Wirtschaftspädagoge hat immer wieder Crashs, die durch kognitive, physiologische oder emotionale Reize ausgelöst werden.

Die Post-exertionelle Malaise (kurz PEM) ist eine belastungsinduzierte Symptomverschlechterung. Eine typische Symptomatik bei ME/CFS. Mit einer Latenzzeit von 24-48 Stunden stellen sich nach solchen Reizen Grippesymptome, Schmerzen am ganzen Körper, komplette Energielosigkeit und weitere Symptome ein, die mehrere Tage andauern können. „Bei dem Versuch, mich wieder langsam ans Auto fahren ran zu tasten, wollte ich das Ganze zuerst an der Play-Station am Simulator ausprobieren. Das ging voll nach hinten los. Fünf Minuten Reizüberflutung verursachten eine Woche Bettlägerigkeit“, beschreibt Jörg diese Situation. 

„Ich darf keine Emotionen zeigen“

Aber nicht nur kognitive Reize verursachen diese Crashs. Auch mit emotionaler Überforderung muss Jörg vorsichtig sein: „Bei mir geht jedes Fußballspiel 0:0 aus“, berichtet mir der Wahl-Innsbrucker, in dessen Wohnung mehrere Bayern-München-Schals an der Wand hängen. „Ich darf keine Emotionen zeigen. Sowohl negative als auch positive. Das kostet zu viel Energie.“ Auf meine skeptische Frage, wie es denn möglich sein soll, seine Emotionen so stark im Zaum zu halten, antwortet Jörg nüchtern und abgeklärt: „Das musst du eben lernen.“ Jörg hat inzwischen ein Gespür dafür entwickelt, wie er die PEM-Crashs vermeiden kann. „Ich darf zum Beispiel mit meinem Puls die 110 Schläge nicht überschreiten. Außerdem vermeide ich starke Lichtquellen. Fernsehen gucke ich nur selten und dann auch nur mit Sonnenbrille. Fordernde Aktivitäten muss ich planen und mich dementsprechend vorbereiten: Ich wusste zum Beispiel, dass du heute Nachmittag zu Besuch kommst und habe mir dementsprechend gestern den ganzen Tag und den ganzen Vormittag heute Bettruhe gegönnt.“

Frühe CFS/ME-Erkrankung: Der junge Jörg Zenkel. Foto: privat

Bachelor, Marathon unter 3 Stunden und 8-Stunden-Job

Während seiner nun schon jahrelang andauernden Krankheitsgeschichte hat Jörg klar definierte Ziele im Kopf. Dieser erscheinen zeitweise endlos weit weg, sind aber dennoch immer präsent. 2013 schreibt er bei einem seiner vielen Arztbesuche auf die Frage nach seinen Wünschen und Zielen drei Dinge in den Anamnesebogen: „Marathon unter drei Stunden laufen, den Bachelor machen und acht Stunden arbeiten“. Die Sprechstundenhilfe guckt ihn daraufhin entgeistert an und sagt: „Herr Zenkel, Sie können keine 10 Meter geradeaus laufen.“ Das Klemmbrett mit dem Anamnesebogen hat Jörg bis heute aufbewahrt.

Und noch ein weiteres Ziel treibt Jörg an: Ein Bekannter von ihm kommt während dem Challenge Roth 2011 ums Leben – Herzstillstand beim Schwimmen. Bei dessen Beerdigung schwört sich Jörg, das Rennen seines Bekannten zu Ende zu laufen. Ende des Jahres 2014 ist dieses Ziel ganz weit weg. Nach einer Fehlbehandlung mit einem aggressiven Zytostatikum ist dies der absolute Tiefpunkt seines gesundheitlichen Zustandes. „Ich habe kaum mehr Essen aufnehmen können, weil ich gegen alles allergisch reagiert habe. Selbst gegen die künstliche Ernährung.“ Mit nur 45 Kilo wird er in der Notaufnahme der Uni Klinik Erlangen aufgenommen. „Im Dezember 2014 war klar: Wenn man keine Lösung findet, werde ich Weihnachten nicht mehr erleben“, schildert der Franke eindrücklich. Damals ist Jörg sogar in Palliativbehandlung, um seine Angehörigen und Freunde zu entlasten. 

Wie geht man damit um, wenn plötzlich keine Energie mehr da ist? „Ich habe das als meinen Job verstanden. Wichtig ist, dass man kleine Mini-Schritte als große Erfolge feiert“, erklärt Jörg. Es gab Zeiten, da war es für ihn ein großer Erfolg, wenn er zumindest mit den Eltern mitfahren konnte, um die Großeltern zum Sonntagskaffee zu besuchen, auch wenn er sich dort sofort wieder aufs Sofa legen musste. „Ich habe heute 50 Schritte mehr geschafft.“ Oder: „Heute habe ich das erste mal wieder telefoniert,“ sind weitere solcher wichtigen Mini-Ziele, von denen Jörg mir berichtet.

Der Genesene

Kurz vor Weihnachten 2014 kommt für Jörg dann der dringend benötigte Wendepunkt. Eine auf Borreliose spezialisierte Ärztin weißt Borrelien im Körper des geschwächten Sportlers nach. Bakterien, die Jörg nach Zeckenbissen in Kindheitstagen (2002) stetig in seinem Körper mitträgt und die sein Immunsystem empfindlich triggern. Ein Medikament namens Katzenkralle und eine gezielte Behandlung der Lymeborreliose helfen Jörg. Langsam aber stetig. Es ist eine Erfahrung, die viele ME/CFS Patienten machen. Die Heilung bzw. eine Zustandsverbesserung braucht Zeit. So dauert es auch bei Jörg noch viele Monate, aber 2017 ist es dann so weit: Jörg gilt als geheilt, hat keinerlei Symptome mehr, nimmt sein Studium wieder auf und stürzt sich in das Sport- und Arbeitsleben in Innsbruck. 

Jörg im wahrsten Sinne des Wortes "oben auf"

Jörg fühlt sich von Jahr zu Jahr stärker und steigert seine Trainingsumfänge. 2022 läuft er zusammen mit einer guten Freundin 100 Kilometer auf Langlauf Skiern. Ein Erlebnis, welches Jörg einen extremen Selbstbewusstseinsschub gibt: „Ich dachte, wenn ich das geschafft habe, kann ich alles schaffen.“ Im gleichen Jahr läuft Jörg den Wien-Marathon unter drei Stunden und auch der Traum von der Triathlon Langdistanz ist nicht vergessen. Jörg kauft sich ein Triathlonrad und meldet sich für den Challenge Roth an. Es gibt nur ein Problem: Der junge Jörg hat nie schwimmen gelernt. Aber auch daran soll es nicht scheitern. Er holt sich professionelle Hilfe bei Trainern und Sportwissenschaftlern. Ein Jahr lang bereitet er sich akribisch auf die 3,8km Schwimmen, 180km Fahrradfahren und 42,2km Laufen vor. Im Juni 2023, zehn Jahre nachdem er sich dieses Ziel bei der Beerdigung seines verstorbenen Bekannten gesetzt hat, radelt Jörg, angefeuert von tausenden Zuschauern, den Solarer Berg hinauf und finisht kurz darauf den Triathlon in Roth. „Vergiss Zegama! Vergiss UTMB! Als Franke musst du einmal im Leben den Solarer Berg hoch“, berichtet Jörg stolz von diesem phänomenalen Erfolg beim größten Langdistanz-Triathlon der Welt.

Auf dem Radar bleiben

Jörg und ich haben inzwischen unseren föhnigen Bergisel-Spaziergang beendet und flüchten in seine windgeschützte Single-Wohnung im Innsbrucker Süden. Auf Jörgs Sport-Leidenschaft wird man in jedem Winkel seines Appartements hingewiesen. Trophäen säumen die Regale und Sportbilder füllen die Wände. Der Küchentisch ist zur Hälfte bedeckt mit kleinen Döschen. Für Nahrungsergänzungsmittel und weitere Medikamente gibt Jörg aktuell 1000 Euro im Monat aus. Dank eines großen und treuen Freundeskreises ist es dem 36-Jährigen möglich, auch nach seiner erneuten Zustandsverschlechterung im Sommer 2024 weiter alleine zu wohnen. „Wenn da diese Tage sind, an denen außer Bettruhe nichts mehr geht, ist immer jemand da, der mir Essen oder Sonstiges vorbei bringt.“

Jörg ist ein sehr sozialer Typ. Er ist stolz, in der Innsbrucker Lauf-Community so gut eingebunden zu sein. Das Soziale aufrechtzuerhalten, ist wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen für ME/CFS Patienten. „Du bist auf eine gewisse Art eingesperrt und das Leben zieht an dir vorbei. Deine Freunde können dich noch so lieb haben, es entsteht automatisch eine gewisse Distanz, wenn du für einen längeren Zeitraum einfach nicht teilhaben kannst. Natürlich ist die Sorge präsent, dass man irgendwann einfach vom Radar verschwindet.“ Wenn Jörg diese Sätze sagt, ist keinerlei Bitterkeit in seiner Stimme zu vernehmen. Es ist eher eine nüchterne Bestandsaufnahme, gemischt mit viel Verständnis für die Härte, die auch Angehörige von ME/CFS-Betroffenen erfahren. 

100 Kilometer Langlaufen: Ein unvergesslicher Tag, den Jörg sich verewigt hat

Unheilbar gibt es nicht

Nach den bereits erreichten Zielen, dem Marathon unter drei Stunden und der Triathlon-Langdistanz, gibt es tatsächlich noch einen offenen Punkt auf der Bucketlist des passionierten Trailrunners. Einmal im Leben möchte er einen 100-Kilometer-Ultratrail finishen. Für den Großglockner Ultratrail war er letztes Jahr schon gemeldet. Doch dann begannen die erneuten gesundheitlichen Probleme. Es sind aber nicht die sportlichen Ziele, die inzwischen Jörgs größten Motivator darstellen. „Was mich wirklich antreibt, sind andere Dinge: Ich will wieder mit dem Rene auf dem Funduspfeiler stehen. Ich will wieder mit Isa in den Sonnenuntergang skaten. Ich will wieder mit Benni auf dem Mountainbike sitzen. Diese kleinen Momente mit guten Freunden zu teilen, das ist es, worauf ich hinarbeite.“

" Dieses Wort unheilbar begegnet mir immer wieder und nichts könnte mich mehr aufregen und gleichzeitig mehr motivieren. "

Wenn einer weiß, wie man der Krankheit ME/CFS oder Long-Covid entrinnt, dann Jörg. Er hat es schon einmal geschafft. Auch jetzt arbeitet er, wann immer es sein Zustand zulässt, an seinem gesundheitlichen „Comeback“. „Die Zeit, die ich wach bin und die ich mich konzentrieren kann, nutze ich, um mich zu informieren und zu bilden. Alles kann mir helfen.“ Was noch hilft: Das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Sich selbst das Gefühl geben, die Zügel in der Hand zu haben. Darin ist Jörg ein Meister: „Mich hier hinzulegen und zu warten, bis irgendein medizinischer Durchbruch gelingt, ist keine Option.“ Dass Jörg in nicht allzu ferner Zukunft die Ziellinie eines alpinen Hunderters überlaufen und mit seinen Freunden Gipfel und Langlaufloipen erobern wird, ist für mich ausgemachte Sache.

Auch wenn die Schulmedizin beim Thema ME/CFS komplett im Dunkeln tappt, kann man aus den bekannten Fällen folgende Schlüsse ziehen: Eine Genesung braucht Zeit, oft Monate und Jahre und dementsprechend viel Durchhaltevermögen. Letzteres ist bei Jörg im Überschuss vorhanden. Jörgs Durchhaltevermögen wird vor allem durch zwei Dinge genährt: Ein starkes soziales Umfeld und klare Ziele, die er nie aus den Augen verliert, geben ihm Vertrauen und Hoffnung, eine vermeintlich unheilbare Krankheit erneut zu besiegen: „Dieses Wort unheilbar begegnet mir immer wieder und nichts könnte mich mehr aufregen und gleichzeitig mehr motivieren“, sagt der Leistungssportler und Long-Covid-Patient. Unheilbar gibt es für Jörg nicht.

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