Ein Blick ins Hundert-Meilen-Herz

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Der Western States 100 ist mehr als ein Lauf. Er ist Mythos, Ikone, Legende. Für viele wird eine Teilnahme am ältesten 100 Meiler der Welt für immer ein Traum bleiben. Nicht für Alles Laufbar-Autor Chris Zehetleitner, der sein Losglück kaum fassen konnte, als sein Name für die Austragung im Jahr 2022 gezogen wurde. Nun erscheint mit „Hundert-Meilen-Herz“ sein wortgewandtes und detailreiches Ultra-Trail-Memoir. Wir präsentieren einen exklusiven Auszug aus dem Buch.

Kapitel 47 – Eine Brücke ohne Hände

Marie und ich liefen eine Passage mit sanft abfallenden Singletrails hinunter, die eine scharfe Rechtskurve machte, wo sich uns wie aus dem Nichts etwas wirklich Großartiges offenbarte: die No Hands Bridge. Sieben Monate lang hatte ich dieses ikonische Bauwerk angestarrt. Ich hatte ein Foto der Brücke direkt, nachdem ich die Western States-Lotterie gewonnen hatte als Hintergrundbild meines Computers eingerichtet. Die No Hands Bridge verleitete mich oft zu Tagträumen und wurde immer mehr zu einem wahren Sehnsuchtsort, den ich unbedingt besuchen wollte. Und nun war ich tatsächlich hier und im Begriff, sie zu überqueren.

Die Mountain Quarries Railroad Bridge, wie sie offiziell heißt, überspannt die Nordgabel des American River und wurde 1912 erbaut. Ihren eigenwilligen Namen erhielt sie von der  tollkühnen Tevis-Cup-Reiterin Ina Robinson, die die Brücke – damals noch ohne Geländer – überquerte, nachdem sie die Zügel fallen ließ und sagte: »Schaut her! Ohne Hände.«

Chris überquert die ikonische No Hands Bridge bei Meile 96,5 des Western States 100.

Für die meisten Läuferinnen und Läufer des Western States ist die No Hands Bridge der Punkt, an dem sie erkennen, dass sie zweifellos das Ziel in Auburn erreichen werden. Mit nur noch fünf verbleibenden Kilometern und 156 bereits in der Tasche fühlt es sich an wie ein Endspurt. Wenn man den ganzen Tag, und im Falle der meisten Teilnehmenden auch die ganze Nacht, gelaufen ist, verschafft dieser Meilenstein eine unglaubliche Erleichterung.

Als ich die Brücke betrat, hörte ich auf zu laufen und begann über sie zu schlendern. Meine rechte Hand streifte sanft das Geländer und mein Atem verlangsamte sich. Es fällt mir schwer, die Vielfalt der Emotionen, die mich in diesem Augenblick durchströmten, in Worte zu fassen. Der treffendste Ausdruck, um diese Erfahrung zu beschreiben, ist wohl »ankommen«. Nicht an einem bestimmten Ort, sondern in meinem Inneren. Trotz all der Erleichterung und Unbekümmertheit, die ich spürte, nachdem ich aus Cal-1 explodiert war, erlebte ich beim Überschreiten der No Hands Bridge eine zusätzliche Ebene der Befreiung. Es war ein unglaublich intensiver Moment, der mir jedes Mal eine Gänsehaut beschert, wenn ich daran zurückdenke. So auch genau jetzt, während ich dies hier schreibe.

Chris bei der berühmtem Querung des Rucky Chucky River bei Mile 78.

Ankommen ist etwas, wonach ich mich als Läufer ständig sehne. Im wörtlichen Sinne, wenn ich die Ziellinie überquere, aber noch mehr im übertragenen Sinne. Ich habe bis heute nicht ganz verstanden, warum das Laufen nach der Musik meine zweite große Leidenschaft geworden ist. Vielleicht, weil es mir das Gefühl gibt, etwas zu schaffen, allein und aus eigener Kraft. Das Laufen gibt mir ein klares Ziel, auf das ich hinarbeiten kann, und lockt mit guten Chancen, es zu erreichen. Oder zu scheitern und es anschließend erneut zu versuchen. Aber letztlich weiß ich, dass ich immer dort ankommen werde, wo ich sein möchte.

Für mich war es ein kleines Wunder, dass ich so weit gekommen war. Auch wenn ich gerade nicht damit beschäftigt war, alle von meinem geplanten DNF zu überzeugen, zweifelte ich insgeheim daran, dass ich es überhaupt bis zur No Hands Bridge schaffen würde. Aber ich war angekommen. Und nun lagen nur noch ein Anstieg und eine Handvoll Kilometer zwischen mir und meinem Western States-Finish.

Chris beim langersehnten Zieleinlauf des Western States 100.

Das Buch „Hundert-Meilen-Herz. Mein lebensverändernder Western States 100-Lauf“ von Alles Laufbar-Autor Chris Zehetleitner ist die deutsche Version des Buch „RUNHUNDRED. Heart Versus Heat at Western States 100“. Auf 192 Seiten nimmt uns Chris mit auf eine außergewöhnliche Reise zum Western States Endurance Run, dem legendärsten Ultramarathon der Welt.

Das Buch erscheint am 24. September 2024.

Ihr könnt es zum Beispiel im Shop von Willpower kaufen.

Das Cover von "Hundert-Meilen-Herz" von Chris Zehetleitner.

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