Der Neustart: Große Gefühle beim Mountainman Nesselwang

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Nach einer langen Phase der körperlichen Erschöpfung tritt Christian von Alles Laufbar wieder an eine Startlinie. Noch am Abend zuvor ist er sich unsicher, ob er überhaupt starten soll. Was dann passiert, ist eine große Überraschung.

Oft sind es Kleinigkeiten, die den Rennverlauf entscheidend beeinflussen – so auch dieses Mal. Nach gut 30 km und 2200 Höhenmetern laufe ich auf einen Teilnehmer auf, dessen gelbes Startnummernschild verrät, dass er ebenfalls auf den 42 km der XL-Strecke des Mountainman Nesselwang unterwegs ist. „Die Höhenmeter haben wir fast alle geschafft“, sage ich ihm aufmunternd. „Ja, du siehst gut aus. Wer jetzt noch laufen kann, ist im Vorteil.“ Ich sehe gut aus? Na ja, zumindest laufe ich, oder? Und ich fühle mich entspannt. Wie eine Dopamindusche entfacht der kurze Wortwechsel meinen Willen, diesen Lauf nicht nur irgendwie ins Ziel zu bringen. Nein, jetzt brenne ich. Jetzt will ich das Tempo erhöhen und schauen, ob ich noch ein paar Trailrunner einsammeln kann. „Komm, wir gehen auf die Jagd“, sage ich mir. Rein sportlich natürlich. „Because the chase is all you know“, singen Death Cab for Cutie, und ja, momentan stimmt das.

Die Landschaft beim Mountain Nesselwang. Foto: Sportograf, Aufmacherfoto: Sportograf

Meine Neugier auf den Mountainman Nesselwang ist groß. Ich habe noch nie zuvor an einem Rennen der Mountainman-Eventserie teilgenommen – als fast Letzter in meinem Trailrunning-Bekanntenkreis. Außerdem klingt „Mountainman“ einfach verlockend. Der Lauf in Nesselwang im Allgäu ist in den letzten Jahren berühmt-berüchtigt dafür, zuverlässig nass-kaltes Wetter und rutschige, matschige Bedingungen zu liefern. Genau mein Wetter! Daher plane ich lange, am Mountainman Nesselwang teilzunehmen. Doch anstatt die Monate vorher mit einer lehrbuchhaften Vorbereitung und einem durchdachten Trainingsplan anzugehen, läuft es, wie so oft, anders.

" Den Mountainman Nesselwang kann ich vergessen, denke ich, und überlege, mir ein anderes Hobby zu suchen. "

„Ich glaube, das war’s.“ Müde, abgekämpft und unmotiviert schleiche ich mich Mitte Januar auf meine Hausrunde. Ehrlich gesagt, fühlt sich das Laufen seit einiger Zeit nicht mehr nach unbeschwerter Freiheit und Freude an, sondern eher wie ein weiterer Pflichttermin. Ich habe einfach keine Lust mehr. Fehlt es mir an Disziplin? Stecke ich in einem Motivationsloch? Aber warum fühle ich mich auch körperlich nach zehn Minuten Traben so, als wäre ich schon drei Stunden unterwegs, kaum atmen könnend – fast wie auf 5.000 Metern Höhe? Ich gehe zum Arzt und lasse meine Blutwerte untersuchen. Bei der Beschreibung meiner Symptome schlägt die Ärztin vor, meinen Stoffwechsel genauer unter die Lupe zu nehmen, konkret: das ATP-Profil. Kurz gesagt, es zeigt die Funktion der Mitochondrien, also der Kraftwerke der Zellen. Wie gut funktioniert die Energiebereitstellung? Die Antwort erhalte ich nach wenigen Tagen: Sie funktioniert sehr schlecht. Es ist wenig überraschend, dass sich Sport so furchtbar anfühlt. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt laufen gehen kann, sagt man mir. Die Therapie: moderater Sport im streng aeroben Bereich und die Einnahme verschiedener Nahrungsergänzungsmittel. Dann heißt es abwarten. Den Mountainman Nesselwang kann ich vergessen, denke ich. Danach laufe ich seltener, nur noch kurz und langsam, lasse die Uhr zuhause und überlege, mir ein anderes Hobby zu suchen.

Alle Fotos: Sportograf

Schnitt. Ich stehe im Startbereich des Mountainman Nesselwang. Laute Musik, Rauchkanonen, ein großer roter Countdown – noch 45 Sekunden. Ich bin hier, obwohl ich mir gestern noch unsicher war, ob ich wirklich starten soll. Doch in den letzten 2-3 Wochen ging es mir deutlich besser. Ich konnte einige längere Trailausflüge mit steilen Anstiegen absolvieren, die ich als „Training“ verbuche. Dennoch fühle ich mich so unvorbereitet wie nie zuvor bei einem Wettkampf. Keine Erwartungen, kein Druck – nur der Wunsch, herauszufinden, ob ich es noch kann. Ein Marathon ist ein Marathon, auch wenn es kein Ultra ist. Mit 2700 Höhenmetern wird das ein langer Tag in den Bergen, den ich keinesfalls unterschätze.

Es geht los. Die meisten Höhenmeter bewältige ich in der ersten Rennhälfte. Ich laufe ruhig und konzentriere mich darauf, radikal in meiner Komfortzone zu bleiben. Die Ärztin hat gesagt, ich solle moderaten Sport im streng aeroben Bereich machen – genau das tue ich hier. Na ja, fast. Über die genaue Bedeutung von „moderat“ lässt sich natürlich diskutieren. Der lange Anstieg mit vielen Treppen, der Wasserfallweg, führt dazu, dass wir in einer langen Reihe bergauf marschieren. Ich werde ausgebremst – und das ist in meinem Fall perfekt. Anstatt mich zu ärgern oder nervös zu überlegen, wo und wann ich jemanden überholen könnte, sag ich leise: Danke!

Endlich Downhill! Foto: Sportograf

Ich genieße das Gefühl, endlich wieder Teil der Trailrunning-Community zu sein. Es ist keine Notwendigkeit, Rennen zu laufen, um dazuzugehören, aber das gemeinsame Erleben unserer Leidenschaft, der kollektive Einsatz und das geteilte Glück im Ziel verbinden mich erneut mit dem Trailrunning und den Trailrunnern. Es fühlt sich an wie ein Ritual, das Freundschaften und Liebesbeziehungen mit einer Handlung untermauert. Meine Teilnahme am Mountainman Nesselwang zeigt mir wieder, wie tief meine Verbindung zu diesem Sport ist — nachdem sie durch die streikenden Mitochondrien fast verloren schien. Mit jedem Schritt gewinne ich an Zuversicht, Selbstbewusstsein und auch an Glück, mich wieder als Trailrunner zu fühlen. Ich mag, was ich sehe.

" Es ist keine Notwendigkeit, Rennen zu laufen, um dazuzugehören, aber das gemeinsame Erleben unserer Leidenschaft, der kollektive Einsatz und das geteilte Glück im Ziel verbinden mich erneut mit dem Trailrunning und den Trailrunnern. "

Endlich kommen die Downhills. Viele Trails bergauf sind breit und gehen moderat in der Steigung nach oben. Die Downhills sind hingegen steil und technisch, durch ein feines Netz wuchtiger Wurzeln. Spätestens hier, in einem dieser herausfordernden Downhills, bin ich mir sicher, dass ich genau hierher gehöre. Dass das hier mein Zuhause auf den Trails ist. Ich hole die Leute ein, die anfangs schneller waren als ich. Das spielerische Element eines Wettkampfs kehrt zurück. Der Spaß ist wieder da.

Was brauche ich, um bei einem Trailrunning-Wettkampf Spaß zu haben? Für mich sind das: a) ein funktionierender Körper, b) eine positive Einstellung und c) die Chance, andere zu überholen, statt überholt zu werden. Besonders letzteres gelingt am besten, wenn man das Pacing zu Beginn vorsichtig gestaltet und in der zweiten Hälfte die unvermeidliche Erschöpfung durch positive Überholerlebnisse kaschieren kann. Vielleicht ist das mein ultimativer Tipp für die 90 % von uns, die nicht um das Podium kämpfen oder es überhaupt anstreben.

Im Ziel. Foto: Sportograf

Nachdem ich nach 5:49 Stunden im Ziel in Nesselwang ankomme, fühle ich mich dankbar. Danke, Körper! Danke, Mountainman Nesselwang! Der Gedanke „Das war’s“ verschwindet schnell – ich habe das Gefühl, dass ich nicht am Ende eines Wettkampfs angekommen bin, sondern am Anfang eines neuen Kapitels in meinem Leben als Trailrunner.

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