Beine hoch und Däumchen drehen? Die Kunst des Taperns

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In der letzten Phase eines Trainingsplans, kurz vor dem großen Rennen, wenn die Anspannung mit jedem Tag steigt, soll man weniger trainieren, als üblich. Das fällt vielen schwer. Wer sich tiefer mit dem sogenannten Tapering befasst, merkt: Richtig tapern ist eine Wissenschaft für sich.

Es ist Sonntag. Draußen scheint die Sonne. Man hat alle Zeit der Welt. Was gäbe es jetzt Schöneres, als eine schöne große Runde durch die Hausberge zu unternehmen? Niemand hindert dich daran. Trotzdem bleibst du zähneknirschend in deiner Wohnung und entscheidest dich dazu, nachmittags eine lockere kurze Runde im Tal zu laufen. Die Entscheidung ist dir alles andere als leichtgefallen, aber die Vernunft hat das Verlangen nach einem kleinen Abenteuer letztendlich besiegt. Denn in sechs Tagen zählt es. In sechs Tagen willst du in Höchstform sein, weshalb du dich bereits jetzt in der Taperingphase befindest.

„Unter Tapering versteht man eine Verfahrensweise zur Modellierung des Trainings, welche zu einer Maximierung der sportlichen Leistungsfähigkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt – wichtiger Wettkampf – führt.“[1] Durch eine Taperingphase will man also das bisherige Training zur kompletten Wirkung kommen lassen um am Wettkampftag in Topform zu sein. Diese Phase in der Trainingsvorbereitung ist vielleicht die schwierigste Phase, denn nun muss man darauf vertrauen, in den Wochen zuvor das Richtige gemacht zu haben und quasi die Beine still zu halten. Man muss sich jetzt erholen, ohne dabei die bisher erzielten Trainingsanpassungen zu gefährden.

Wie effektiv dabei das Tapering ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab:

[1] WEINECK 2007, S. 106

  • Dauer der Belastungsreduzierung

  • Ausmaß der Belastungsreduktion

  • Art der Belastungsreduzierung

  • Vorhergehende Trainingsbelastung

Von der Weltklasse lernen

Bei der Art der Belastungsreduzierung wird zwischen einer stufenweisen, exponentiellen und linearen Reduktion unterschieden. Oftmals findet auch eine Mischung dieser drei Stufen statt, wie auch eine aktuelle Studie (Haugen et al. 2022) beweist. So starten die meisten Weltklasseläufer 7 – 10 Tage (stufenweise Reduktion) vor einem wichtigen Wettkampf mit der Reduktion ihres Trainingsumfangs. Dabei wird der Umfang um etwas mehr als die Hälfte reduziert, die Intensität bleibt aber hoch. In der Studie wird aber auch davon berichtet, dass einige Weltklasseläufer erst 4 – 5 Tage vor ihrem Hauptwettkampf die Trainingsbelastung deutlich reduzieren (exponentielle Reduktion). Wieder andere berichten davon, in den letzten zwei bis drei Wochen vor dem Wettkampf die Trainingsbelastung progressiv zu reduzieren (lineare Reduktion).

Die Tabelle zeigt den Wochenumfang in den verschiedenen Trainingszonen bei 10 Top-Marathonläufern, darunter so bekannte Namen wie Eliud Kipchoge oder Kenenisa Bekele in den letzten fünf Wochen vor einem Marathon:

Quelle: The Training Characteristics of World‑Class Distance Runners: An Integration of Scientific Literature and Results‑Proven Practice, 2022.

Taperingdauer in Abhängigkeit des Wettkampfes

Die verschiedenen Taperingstrategien lassen sich 1:1 auf Trailwettkämpfe übertragen. Vor einem A-Wettkampf sollte man mindestens 7 – 10 Tage vorher mit dem Tapering beginnen, bei einem eher unwichtigen Wettkampf kann man auch erst 4 – 5 Tage vorher mit der Reduzierung beginnen. Vor ganz langen Ultra-Trailwettkämpfen reduziert man mitunter schon 20 Tage vorher den Trainingsumfang. Dies hängt damit zusammen, dass man den letzten richtig langen Lauf – oftmals den längsten Lauf der Vorbereitung – ungefähr drei Wochen vor dem Wettkampf absolvieren sollte. Diese Reduktion ist aber nicht gleich zu setzen mit dem Tapering. Denn in der Taperingphase wird nicht nur der Gesamtumfang reduziert, sondern der Umfang jeder einzelnen Trainingseinheit.

Tapering bedeutet Umfangsreduzierung bei Beibehaltung der Intensität

So wird in der Taperingphase kein wirklich langer Dauerlauf mehr absolviert. Egal wie lang dein Ultratrail sein wird, in der Taperingphase sollte nicht länger als 90 – 120 Minuten gelaufen bzw. gehikt werden. Auch der Umfang der Bergintervalle wird teilweise drastisch reduziert. Bist du drei Wochen vor dem Saisonhighlight noch 3 x 20 Minuten bergauf mit hoher Intensität gelaufen, sind es jetzt nur noch 3 x 10 Minuten oder sogar noch weniger. Dafür läufst du aber jetzt im besten Fall einen kleinen Tick schneller bergauf als noch zwei Wochen zuvor. So spricht nichts dagegen, 5 – 6 Tage vor dem A-Wettkampf noch einmal ein hartes Training mit kurzen Bergauf-Intervallen einzustreuen. Dabei darf auch bergab noch einmal geballert werden.  Denn in der Taperingphase soll die Intensität weiterhin auf hohem Niveau bleiben. Dies geschieht, um die Transformation nicht zu gefährden. Unter „Transformation“ versteht man die Anpassungsprozesse des Körpers an die vorhergehende Trainingsbelastung, die zu einer verbesserten Leistungsfähigkeit führen soll. Die gleichbleibende Intensität soll den Körper also daran hindern, an Leistungsfähigkeit aufgrund des reduzierten Trainings zu verlieren. Die Reduktion des Umfangs ist aber notwendig, um einerseits dem Körper die Möglichkeit zu geben, sich zu regenerieren.

Belastungsreduzierung wegen Kohlenhydratspeicher

Andererseits hat man nur durch einen stark reduzierten Trainingsumfang die Chance, die Kohlenhydratspeicher zu füllen. Zeitgleich mit der Reduktion des Trainings sollte man gezielt vermehrt Kohlenhydrate zu sich nehmen bzw. nicht weniger als in den Wochen zuvor essen. Dies ist tatsächlich für Trailläuferinnen und Trailläufer, die sich konzentriert auf einen Ultra vorbereiten, ein entscheidendes Kriterium. Denn in den Phasen der hohen Trainingsumfänge ist es quasi unmöglich, die Kohlenhydratspeicher vollständig aufzufüllen. Erst der reduzierte Umfang in der Taperingphase lässt die Speicher in Muskulatur und Leber wieder voll werden.

Nicht jeder muss tapern

Die Taperingphase ist in der Wettkampfsaison die Phase, die entscheidend dafür ist, erholt am Tag X zu sein. Allerdings muss nicht jede Athletin und jeder Athlet tapern. Wer von euch in der Vorbereitung auf einen kürzeren Trailrun im Schnitt dreimal die Woche trainiert hat, braucht das Training nicht reduzieren bzw. muss den Gesamtumfang nur minimal reduzieren. Mitunter sind für diese Trailläuferinnen und Trailläufer die Wettkampfwochen die Wochen mit den höchsten Trainingsumfängen. Wer einen Wettkampf als Trainingswettkampf nutzen möchte, muss davor auch nicht das Training reduzieren. Denn schließlich möchte man den Trainingsprozess nicht unterbrechen.

Beine stillhalten

Wer aber wirklich bei einem Wettkampf in Topform sein möchte, muss rechtzeitig mit dem Tapering beginnen. Denn in den letzten Tagen vor einem Wettkampf kann man nichts mehr an seiner Form verbessern durch Training. Man kann aber sehr wohl seine sportliche Form zerstören, indem man jetzt seinen Körper nicht die notwendige Ruhe gönnt und zu viel und intensiv trainiert. Jetzt heißt es gelassen bleiben und die Beine stillhalten. Auch wenn gerade das uns mitunter doch am schwersten fällt.

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