Was können Trailrunner von Ernest Shackleton lernen?

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Was haben die Abenteuer des Polarforschers Ernest Shackleton mit Trailrunning zu tun? Uns scheint, dass seine historische Seefahrts-Odyssee Lektionen bietet, die auf jeden langen Lauf anwendbar sind. Mehr noch, wir meinen, dass niemand mehr ohne die Shackleton’schen Lehren auf die Trails gehen sollte.

Berstendes Holz zertrümmert neben dem Bug auch fast das Trommelfell, Gischt schwappt über die Reling und beißt sich in arktischer Kälte durch alles, was sie erfasst. Es riecht nach Eis. Egal, ob man den Blick in Richtung Mast, Bug oder Heck hebt, er trifft überall auf meterdicke Eisschollen, durchbrochen von schäumendem Wasser in hohem Wellengang und schier endlosem Weiß, das den Horizont gefressen hat. Wir befinden uns im Weddelmeer, unweit der Antarktis im Jahr 1915. Die Endurance, so heißt das Expeditionsschiff des Polarforschers Sir Ernest Shackleton, steckt schraubstockartig in den sie langsam zermalmenden Eismassen fest, während sie ein Meeressturm malträtiert. Auf dem Schiff befindet sich neben Shackleton eine Besatzung von Männern, die um ihr Leben fürchtet. Sie sind gefangen in menschenfeindlicher Umgebung, eine zweimonatige Schiffsreise entfernt vom Festland. Das ist der Anfang einer der faszinierendsten Odysseen, die die Seefahrtsgeschichte je schrieb und die anhand von Tagebucheinträgen wie Bildaufnahmen in Büchern und Filmen rekonstruiert wurde.

Spannend, klar, aber ihr fragt euch: Was hat Segelsport mit Trailrunning zu tun? Zum einen war Shackleton nicht nur Polarforscher, er wollte zum Ultrarunner werden: Als Ziel der Endurance-Expedition war ursprünglich die Überquerung des südlichsten Kontinents definiert. Das wären 3.000 km Fußmarsch gewesen und somit ein stattlicher antarktischer Etappen-Ultramarathon. Nun kam es schon im Weddelmeer zum DNS. Das DNS aber wird zum Start einer noch viel beeindruckenden Reise. Um zu zeigen, was Trailrunner von Shackleton lernen können, müssen wir sein Abenteuer in seiner Gänze umreißen.

Die Odyssee

Es beginnt, als der Brite zur Anheuerung einer Besatzung folgende Ausschreibung schaltet: “Männer für eine gefährliche Reise gesucht. Schlechter Lohn, bittere Kälte, lange Monate völliger Dunkelheit, andauernde Gefahr, Rückkehr ungewiss. Im Erfolgsfall: Ehre und Anerkennung.” Wenn man die geschlechterspezifische Diskriminierung rausnähme, könnte man so auch jeden Ultratrail bewerben, oder? Von 5.000 Bewerbern wählt Shackleton 28 für die Reise aus (eine ähnlich niedrige Quote wie beim Western States-Losverfahren), unter anderem nach den Kriterien Humor, Kochkünste oder Musikalität. Es braucht eine bunte Truppe, die als Team funktioniert. Die Endurance läuft 1914 von Südgeorgien im Atlantischen Ozean in Richtung Antarktis aus. Wochenlang segelt die Mannschaft guten Mutes gen Süden. Der Name, auf deutsch Ausdauer, wird noch deutlicher zum Programm werden.

Einen Segeltag vor ihrem Anlegeziel Antarktis entfernt, trifft die Mannschaft auf Packeis. Anfangs bricht die Endurance das Eis oder, wenn die Schollen zu massiv sind, umschifft die Hindernisse im Zickzackkurs, bis die Eisschicht an Dichte gewinnt und das Schiff im zufrierenden Meer stecken bleibt. Bei bis zu minus 50 Grad Celsius versuchen die Männer, einen Kanal zum Weiterfahren freizusägen. Erfolglos. Freie See zum Segeln würde in fünf Monaten bei steigender Temperatur warten. Shackleton lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. In dem Buch South wird er zitiert: “Difficulties are just things to overcome after all.” Schwierigkeiten seien gerade dazu da, um überwunden zu werden. Mit solchen Leitsätzen wird er zur moralischen Kraft des Teams, das, allen Widrigkeiten zum Trotz, weitermacht. Schritt für Schritt weitermachen, wir sind mitten im Ultratrail, äh, im Abenteuer angekommen.

" Die Endurance läuft 1914 von Südgeorgien im Atlantischen Ozean in Richtung Antarktis aus. Wochenlang segelt die Mannschaft guten Mutes gen Süden. Der Name, auf deutsch Ausdauer, wird noch deutlicher zum Programm werden. "

Die Besatzung versucht das Schiff "Endurance" vom Eis zu befreien. Foto: Public Domain

Das Packeis entwickelt indes unheimliche Kräfte. Neben arktischer Kälte und stürmischer See beginnen die Holzbalken des Schiffs zu knarzen. Augenscheinlich zermalmt das Eis nach und nach das komplette Schiff. Sie müssen fliehen. In drei kleinen Beibooten versuchen sie samt Schlittenhunden, Sack und Pack im ewigen Eis ihren Weg Richtung Zielort zu lotsen, teilweise die Boote über schroffe Eisflächen schiebend. Wenn sie befahrbare Gewässer zwischen den Schollenfragmenten erreichen, kämpfen sie gegen starken Südwind, der sie immer wieder nach Norden abdriften lässt, da, wo sie herkamen. Frustrierend, vergleichbar mit dem Laufen auf feinem Sand. Difficulties? Sind ja gerade dazu geschaffen, überwunden zu werden und so läuft Shackleton zur Höchstform auf und organisiert das Vorankommen voller Motivation. Die Mannschaft folgt.

Der ursprüngliche Ansporn, die Antarktis zu Fuß zu durchqueren, weicht Plan B: Finishen, also es nach Hause schaffen, lebendig. Ständig müssen sie ihre Krafteinteilung und ihre mentale Einstellung den herausfordernden Gegebenheiten anpassen. Die Tagesaufgaben bestehen darin, sich warm zu halten, Strecke zu machen und diszipliniert Energie zuzuführen, erst durch Robbenjagd, später müssen sie ihre Schlittenhunde töten und essen. Ersetzte man die Worte Robben und Schlittenhunde mit Gels und Iso, würde sich die Beschreibung wie die eines ganz normalen Tages bei einem Ultratrail lesen, oder?

Sie sind inzwischen Monate unterwegs. Das Eis, auf dem sie campieren, wird buchstäblich immer dünner. So dünn, dass es bricht und arglose Crewmitglieder ins eiskalte Wasser fallen. Shackleton entscheidet, die heimtückischen Eisflächen zu verlassen und ein Nahrungsdepot für Walfänger auf einer Insel anzusteuern. Ein neues Etappenziel ist gesetzt. Die Mannschaft setzt sich in die Boote.

Die auf Elephant Island ausharrende Crew. Foto: Public Domain

Es ist todbringend kalt. So, dass die aufspritzende Gischt beim Niedergang ad hoc gefriert. Die Mannschaft ist durch das wochenlange Kohlenhydratdefizit geschwächt und die Meereswinde stehen zu ungünstig für das Vorhaben, um die Walfängerinsel zu erreichen. Zudem scheint selten die Sonne, die zur Navigation notwendig wäre. Shackleton muss erneut umdisponieren und seine Zielsetzung dem Zustand des Crew-Corpus und den Naturgegebenheiten anpassen. Difficulties – Shackleton liebt sie und funktioniert wie eine geölte Maschine. So erreichen sie ein alternatives Etappenziel: Elephant Island, eine vergletscherte Insel nahe der Antarktis. Immerhin eine Insel, allerdings ohne Nahrungsdepot und fernab jeder Schifffahrtsroute, die Rettung böte.

500 Tage sind inzwischen vergangen. Viele erleiden Erfrierungen, alle sind hungrig, einige körperliche Wracks. Eines ist keiner: demotiviert. Der Spruch, dass man mit dem Kopf finisht, trifft hier zu. Aber das Finish, das rettende Festland, ist 1.500 km weit weg.

Der Abenteurer Shackleton, im mentalen Ultramodus völlig prosperierend, wählt fünf Männer aus, lässt eines der kleinen Rettungsboote ausbauen und will die Fahrt in Richtung Südgeorgien, von wo sie starteten, antreten, um Rettung für die auf der Insel feststeckende Mannschaft zu ordern. Blickte man von oben auf das Unterfangen, wirkt das Beiboot wie eine Nussschale und Südgeorgien wie ein Stecknadelkopf im Ozean. Die bereits Gezeichneten wollen sich ihren Weg durch antarktische Stürme, unter bis zu 16 Meter hohen Wellengänge hindurch und mit schlechten Navigationsmöglichkeiten bahnen. Das Cut Off für die 1.500 km über See liegt bei vier Wochen, dann schließt sozusagen die VP, heißt: Die Vorräte enden. Ein Unterfangen, das schier unmöglich scheint. Ähnlich unmöglich und unsinnig, bei einem 100 Meilen-Rennen über alpine Trails den ersten Schritt zu tun. Die Mannschaft winkt seewärts und Shackleton plus fünf rudern los.

Nach 14 Tagen erreichen sie Südgeorgien, nachdem sie noch von einem Hurricane erwischt werden, nicht anlegen können und die Insel von der anderen Seite ansteuern müssen, was zur Folge hat, dass sie die Insel noch zu Fuß überqueren müssen, um zur rettenden Walfangstation zu gelangen. Eine Insel, die von einem vergletscherten Hochgebirge durchzogen ist, das nie zuvor ein Mensch überquert hat. Difficulties? Shackleton würde wohl denken: “Super!”

Shackleton wollte ja zum Ultrarunner werden, nun hat er die Möglichkeit dazu. Die Inselquerung beträgt über 50 km mit etlichen Höhenmetern. Er schlägt Nägel in die Schuhe, um sie zu Spikes zu machen, nimmt ein Seil, eine Axt sowie die Männer mit, die noch stehen können. Zwei der fünf müssen zurückbleiben. Sie sind halb tot nach der Odyssee übers Meer. DNF. Shackleton geht voran, er will auch sie später retten. Nach 36 Stunden Fußmarsch erreichen sie ihr Ziel. “When things are easy, I hate it”, soll Shackleton gesagt haben. Shackleton? Du kannst dich glücklich schätzen, denn auch die Rettung der anderen Männer wird schwierig und kostet drei Anläufe. Alle überleben. Alle schaffen es nach Hause. Alle finishen. “By Endurance we conquer”, auf deutsch “Durch Ausdauer siegen wir”, lautet ein weiteres Shackleton-Credo. Ob Seefahrer oder Ultratrailrunner, beide würden das wohl unterstreichen.

Ernest Shackleton (zweiter von links) und Teile seiner Crew. Foto: Public Domain

Die Lektionen

  • “Survial never goes out of style”, singt die Band Jawbreaker und trifft mit dieser Liedzeile aus “Save your generation” den Kern des Faszinosums Shackleton wie auch des Traillaufens. Denn auf den Trails fühlen wir uns in eben diesen Survival-Modus katapultiert. Daher bietet es sich an, bei Long Runs oder Races den Survival-Meister zu konsultieren: Was würde Shackleton tun? Schon beim Gedanken an diese Frage passiert Folgendes: Die eigenen Herausforderungen relativieren sich. Dein Energy Spring-Vorrat neigt sich dem Ende zu, es sind aber noch 2.300 Hm bis zur nächsten VP zu bewältigen? Naja, immerhin musst du jetzt nicht deinen Hund schlachten, um Energiereserven zu akquirieren. Was würde Shackleton tun? Er würde sein letztes Gel strecken und weitermachen, wenn auch etwas langsamer. Also tun wir es ihm gleich.

 

  • Die Geschichte zeigt eine Basisregel von Ultraläufen oder von Laufevents allgemein auf, die “Kontrolliere das Kontrollierbare” heißt. Dieses Credo hat Shackleton in Perfektion vorgeführt. Immer den nächstmöglichen Schritt tun, um irgendwann ans Ziel zu kommen. Wäre die Crew schon beim Sinken des Schiffs verzweifelt, hätten sie es wohl nie nach Hause geschafft. Der Weg war so lang. Ähnlich beim Laufen: Eine Marathon-Finishlinie scheint verdammt weit weg. Was, wenn wir an der Startlinie lieber an den nächsten kleinen Schritt, das nächste Gel oder die nächste VP denken als an das 42,195 km entfernte Ziel?

 

  • Odyssee ist ein Synonym für Ultratrail. Bei beidem braucht es ein starkes Warum, um durchzukommen. Shackletons Mission, alle Männer lebend nach Hause zu bringen, zieht stark. Diesen Antrieb können wir in den Laufkontext übertragen. Das funktioniert durch die sogenannte simulierte Unbedingtheit, also die imaginierte Vorstellung, es ginge um Leben (Finish) oder Tod (DNF). Auch die Trailelite macht sich diese Strategie zu eigen, wie Hannes Namberger in einem Podcast offenbarte. Zu dem Phänomen ausführlich: Vom Laufen-Podcastfolge 7.

 

  • Mind over muscle.” Shackleton war körperlich nicht der stärkste, mental aber offenbar unzerbrechlich. Seine Geschichte zeigt, wie schwer Mentales beim Vorankommen, ob per Schiff oder per Trailschuh, ins Gewicht fällt. Mentaltraining lohnt sich.

 

  • Außerdem könnte man Shackleton als Busfahrer engagieren. Einen, der den mit Gedanken vollbesetzten Bus während eines Ultratrail-Rennens steuert. Es werden viele sein, darunter viele negative, die einen zum Aussteigen drängen, sobald es hart und unangenehm wird. Wenn allerdings Shackleton am Steuer sitzt, dann hat er eine Mission und die heißt Weiterkommen. Springt einer der Gedanken-Passagiere aus seinem Sitz, um mit dem Fahrer zu diskutieren und zu bitten anzuhalten, wird dieser genügend kategorische Argumente finden, den DNF-Willigen zu beruhigen und auf seinen Platz zurückzuschicken, um unbehelligt weiterzufahren, dem Überzeugten ein aufmunterndes Lächeln durch den Rückspiegel zuwerfend. Der Bus heißt Kopf, der Fahrer heißt Shackleton, auf der Stirn des Busses leuchtet in Großdruckbuchstaben “FINISH” auf.

 

  • “Schlimmer geht immer” ist ein Gedanke, den man im Ultratraillaufen kennt. Ob es das Reißen einer Rucksackschnalle, ein unvorhergesagter Regenerguss, eine Dehydration, ein Verdauungsdesaster, ein falsches Abbiegen oder ein mentaler Marianengraben ist, irgendwas Unvorhergesehenes wird irgendwann passieren, denn der Weg ist weit, beinhaltet also ein hohes Katastrophen- und Verzweiflungspotential, das sich den 100 Prozent nähert. Die Flexibilität, darauf zu reagieren, können wir uns von Shackleton kopieren. “Hallo Difficulties”, können wir denken und sie lieben lernen, genau wie er. Schwierigkeiten sind gerade dazu geschaffen, gelöst zu werden, super!

 

  • Humor hilft. Die Geschichte Shackletons beinhaltet eine Art von Komik, wie sie nur das echte Leben schreiben kann. Natürlich braut sich am Ende der Odyssee noch ein Hurrikan zusammen und klar baut sich ein unüberquerbares Gebirge samt Gletscherspalten auf; das kann man sich nicht ausdenken. Wenn wir das Ganze mit Humor betrachten, übrigens ein Attribut, das Shackleton zugeschrieben wurde, läuft es sich viel leichter. Klar, hat der Veranstalter auf den letzten km noch eine 30 Prozent abfallende Asphaltstraße eingebaut, logisch verliere ich kurz vor Schluss beim Kollidieren mit einem fetten Stein noch meinen Fußnagel. Der konkrete Begriff lautet wohl Galgenhumor. Weniger witzig, aber zweckdienlich.

 

  • Teilen. Shackleton war der Boss. Dennoch teilte er seine Kekse mit in der Hierarchie niedriger Stehenden oder gab seinen Schlafsack bei bitterster Kälte her. Eine Etikette, die wir ins Laufen übertragen sollten. Nicht nur wegen des guten Gefühls, das einen bei der guten Tat selbst überkommt.

 

  • Selbstmanipulation ist eine wirksame, in Shackletons Fall lebenserhaltende, Strategie. Als sich beim 50 km Marsch über das schneebedeckte Gebirge seine Männer zum Schlafen auf das Eis legen, weckt er sie nach fünf Minuten und lügt, indem er statuiert, sie hätten eine halbe Stunde geschlafen. Die Männer glauben ihm und folgen ihm weiter. Sie wären gestorben, hätten sie tatsächlich eine halbe Stunde in der Kälte verweilt. Eine Lüge, wie zum Beispiel: “Es ist nicht mehr weit”, kann beim Durchhalten unterstützen.

 

  • Umgib dich mit Leuten, die dasselbe Ziel teilen. In Shackletons Szenario ist der Plan wunderbar aufgegangen. Die Mannschaft wollte überleben, so haben sie erfolgreich kooperiert und überlebt. Dasselbe passiert bei Ultras. Mit einer Crew am Race-Rande oder einem Team auf der Strecke läuft es sich einfacher.

 

  • Im postheroischen Zeitalter, in dem wir uns befinden, scheint Sir Ernest Shackleton ein geeignetes Vorbild für unsere Lauf-Community abzubilden. Trotz ihres einhundertjährigen Zurückliegens, verjährt die Bedeutsamkeit der Shackleton’schen Odyssee nicht. Viel Spaß beim Nachmachen auf den Trails!

 

Höre hierzu auch Folge 12 des „Vom Laufen“ Podcasts.

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