Pierra Menta Été – zwischen Gratglück, Helmpflicht und Zeitstrafe

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Klettergurt und Helm als Pflichtausrüstung bei einem Trailrunningrennen? Es ist die französische Wahl-Heimat von Jim Walmsley in der Autor Benni Bublak und sein Teamkollege eine unvergessliche Skyrunning-Erfahrung machten.

„Die holen wir uns“, rufe ich meinem Teampartner zu. Ein matschiger Downhill führt uns hinunter von diesem Traum eines Grasgrats, dem Roche Parstire hoch über Arêches. Ein Jammer, dass wir keine Zeit haben, den Blick schweifen zu lassen. Nach einer Regennacht sind die Wolken gerade aufgebrochen und geben den Blick Richtung Lac de Roselend und Mont Blanc frei. Doch vor uns läuft ein Sechser-Pulk schneller Franzosen. Die Aussicht darauf drei Teams auf einmal zu überholen, treibt uns an.

Helm, Gurt und Klettersteigset

Es ist Tag drei bei der Pierra Menta Été. Wir sind angekommen in diesem wilden Etappenrennen, welches eigentlich ein legendäres Skitouren-Rennen ist. Seit 1986 findet jährlich im März dieses viertägige Rennen auf zwei Brettern statt, welches wahlweise „Gipfel des Skialpinismus“ oder „Tour de France des Skibergsteigens“ genannt wird. Seit 9 Jahren bieten die Veranstalter auch eine Sommeredition an. Die Latten werden gegen Trailrunningschuhe getauscht, ansonsten bleiben die Voraussetzungen ähnlich: Start jeder Etappe ist im idyllischen Bergbauerndorf Arêches, von dort führt die Route auf die Gipfel und Grate der umliegenden Berge und wieder zurück nach Arêches. Helm, Gurt und Klettersteigset gehören zur Pflichtausrüstung und jeweils zwei Läufer oder Läuferinnen bilden ein Team. Die Berge in der Beaufort-Region sind nicht so hoch und zerklüftet wie im benachbarten Chamonix, dafür etwas zugänglicher für Läufer und Skibergsteiger. Nicht umsonst haben zwei der größten Ultratrailrunner der Welt dieses winzige Dörfchen zu ihrer Wahlheimat gemacht: 2021 verließ Francois D’Haene sein Weingut unweit von Lyon zugunsten der perfekten Trainingsbedingungen in den Alpen. Noch weiter hatte es der US-Amerikaner Jim Walmsley, der sein erfolgreiches Projekt UTMB-Sieg 2023 mit dem Umzug nach Arêches begann.

Team Alles Laufbar bei der Pierra Menta: Johannes Stimpfle und Benni Bublak

Charakterprüfung Teamrennen

Wir haben kleinere Ziele, als wir nach einer langen Autofahrt durch die Alpen erstmalig das Ortsschild von Arêches passieren. Am Steuer: Mein Freund Johannes Stimpfle. Ich könnte mir keinen besseren Teampartner für dieses dreitägige Abenteuer vorstellen. Mit keinem anderen stand ich auf so vielen Gipfeln, kletterte über so viele Grate und lief mehr Long Runs wie mit Johannes. Laufpartner, Kletterpartner, Bob Graham Round Finisher, Trauzeuge … nur ein Teamwettkampf fehlte noch in unserer gemeinsamen Vita. Vielleicht die größte Herausforderung? So ein Wettkampf als Team ist schließlich eine ganz spezielle Charakterprüfung. Bei meinen zwei Teilnahmen am Transalpine Run wurde ich Zeuge, wie Freundschaften und Ehen auf dem Berg zurückblieben. Das sollte uns nicht passieren. Auch weil unsere Zielsetzung für diese drei Tage in Arêches klar definiert war: Spaß haben. Die Pierra Menta Été ist das perfekte Rennen für diesen Zweck. Johannes und ich sind schon viele Jahre in der Trailrunning-Szene unterwegs. Aber hier ist auch für uns alles neu: Um uns herum fast ausschließlich Franzosen, französisch sprechende Franzosen. Beim Briefing im örtlichen Kino sind wir die einzigen im Saal, die kein Wort verstehen. Übersetzungen? Fehlanzeige. Im Nachhinein fragen wir die Veranstalter, wo wir die Ausrüstung für den Klettersteig anlegen müssen. „Zieht alles von Anfang an an. Das machen alle“, bekommen wir gesagt.

Am Grat heißt es Einhängen in das angebrachte Fixseil © Paul Viard

Aufgeregt legen wir also Geschirr und Helm an. Es ist Freitag morgen und die Sonne lacht vom Himmel. Ein perfekter Tag und 2700 Höhenmeter verteilt auf nur 26 Kilometern warten auf uns. Nach einem sehr schnellen Asphaltkilometer bergab, die Franzosen preschen los wie von der Tarantel gestochen, geht es steil den Berg hinauf. Sehr steil. Ein Weg? Nur manchmal in Ansätzen zu erkennen. Johannes ist schlau und hat sein Leben etwas vielseitiger aufgestellt als ich. Was ich meine: Berge und Trailrunning haben einen hohen Stellenwert im Leben des Münchners, lassen aber die sture Kompromisslosigkeit vermissen, die ich zu Teilen an den Tag lege, wenn es um den Laufsport am Berg geht. Vielleicht sind wir deswegen noch keinen gemeinsamen Wettkampf gelaufen. Die größte Herausforderung eines Teamwettkampfes besteht tatsächlich darin, physische Leistungsunterschiede, die fast immer auftreten, psychisch zu managen. Sowohl das ständige Bewegen am Leistungslimit des Einen, als auch das stetige Rücksicht nehmen des Anderen kann jeweils zu Stresssituationen führen. Am ersten Tag der Pierra Menta übernehme ich letztere Rolle und Johannes erstere. Meine Beine sind frisch, die Sonne lacht auf die steilen Trails und die ausdefinierten Franzosen um uns herum. Ich habe Bock zu rennen, ja zu racen. Doch ich zügele mich, bleibe bei Johannes. Viele der Teams, insbesondere die Mixed Teams, haben eine clevere Lösung für selbige Situation. Da man ja sowieso einen Gurt trägt, wird kurzerhand ein Seil zwischen Vorder- und Hintermann gespannt. Noch so ein Erbe der winterlichen Pierra Menta Edition.

" Von nun an folgen wir dem Gratverlauf des Berges. Es ist unbeschreiblich. Das perfekte Skyrunning-Klischee. "

Benni Bublak

Nach einem langen und steilen Anstieg sind wir endlich oben. Von nun an folgen wir dem Gratverlauf des Berges. Es ist unbeschreiblich. Das perfekte Skyrunning-Klischee. Als Zweierteam laufen, steigen und fallen wir über den Berg immer der logischen Linie seines Rückens folgend. Wenn wir kurz aufblicken, was in Anbetracht des fordernden Geländes selten passiert, blenden uns die Gletscherflanken des von der Sonne angestrahlten Mont Blancs. Mehr geht nicht. Am Ende wartet die Kletterpassage auf uns. Fixseile sind in den Grat gehängt. Wir müssen uns einhängen. Vielleicht gehen mir jetzt doch ein bisschen die Hummeln im Hintern los, vielleicht ist es auch der kleine Teufel, der in meinem Ohr sitzt und flüstert: „Hey, jetzt zeigen wir den bergverrückten Franzosen mal, wie man sich schnell im Gelände bewegt.“ Jedenfalls rücke ich dem vor uns laufenden Team etwas nahe auf die Pelle, überholen ist hier natürlich nicht gut möglich, und vernachlässige auch das korrekte Umhängen mit dem Klettersteigset. Eine laute Stimme redet energisch und autoritär auf uns ein. Ich verstehe kein Wort des französischsprechenden Streckenposten mit der gelben Weste, hänge mich aber umgehend wieder im Seil ein und halte brav Abstand zum vor uns laufenden Team. Wohl zu spät um den schimpfenden Zeitgenossen zu besänftigen. Am nächsten Tag erfahren wir aus der Ergebnisliste, dass wir eine 15-minütige Zeitstrafe aufgebrummt bekamen. Platz 16 statt Platz 13 von knapp 300 Teams. Wir nehmen es mit Humor. Unter uns: Das Gelände ist wild und technisch, aber auch nicht verrückter als bei anderen Skyrunning-Events ohne Klettersteigset- und Helmpflicht.

Stage Race Romantik

Mit das Schönste an Etappenläufen ist die Reduktion des Tagesablaufs auf die (über)lebenswichtigen Dinge: Laufen, Essen, Regeneration, Schlafen, Laufen. Bei der Pierra Menta ist dies besonders gut möglich. Im Startgeld inklusive ist unser Zweibettzimmer. Eines von vielen in diesem ausschließlich mit Läuferinnen und Läufern gefüllten rustikalen Hotel. Wir verbringen die lauffreie Zeit hauptsächlich auf dem Bett liegend und Sport schauend. Schließlich ist Fußball-Europameisterschaft und Tour de France. Nur zum Frühstück, Mittag und Abendbrot verlassen wir das Zimmer und schlagen uns den Bauch beim üppigen, ebenfalls im Startgeld, inkludierten und sehr schmackhaften Buffet voll. Zwischen Mittag und Abendbrot legen wir uns auf einer der im Ballsaal des Hotels aufgestellten Pritschen nieder und lassen uns massieren. Auch das eine inkludierte Leistung der Veranstalter.

Energie tanken beim Pierra Menta Buffet

Sieger-Handschlag

Der zweite Tag überrascht uns mit einer Schlechtwetterfront. Es wird auf eine Alternativroute ausgewichen. Klettersteigset und Gurt dürfen wir im Zimmer lassen. Der Helm bleibt obligatorisch. Warum, verstehen wir nicht wirklich, nehmen es aber so hin. Tatsächlich merkt man einen leichten Helm beim Laufen kaum. Statt über den Grat des Grand Mont laufen wir an diesem Tag über saftig-grüne Almwiesen, vorbei an pittoresken Bergseen und über steile und handbreite Serpentinen-Downhills. Bei diesem Singletrail-Angebot höchster Güte vergessen wir schnell die aufgrund der Alternativroute fehlenden Kraxeleinlagen. Sportlich haben wir einen Zahn zugelegt und dürfen uns an diesem Tag über Platz zehn freuen. Gewinnen wird an diesem Tag übrigens wie an jedem der drei Tage das Brüderpaar Xaver und Pierre-Francois Gachet. Die beiden stammen aus einer Skibergsteiger-Dynastie. Xaver Gachet wurde in Areches geboren, als die Pierra Menta das vierte mal stattfand. Seit seiner Geburt lebt er im kleinen Bergbauerndorf und arbeitet dort als Elektriker für die Bergbahn. Von seinem Vater, der die Pierra Menta ganze zwanzigmal absolvierte, erbte er die Liebe zum Skitourensport. Nach fünfmal Silber war es dieses Jahr endlich soweit: Mit seinem Partner William Bon Mardion gewinnt er erstmalig auch die originale Winter Pierra Menta. Außerdem auf dem Siegerpodest: Seine Frau Axelle Gachet-Mollaret. Zurück zur Sommer Pierra Menta: Während andere sich im Ziel in die Arme fallen, beendet das Gachet-Bruderpaar jede Etappe mit einem distanziert-respektvollen Handschlag. Es wirkt wie Routine.

Kettensägen, Kuhglocken und traditioneller Almkäse

Etappe drei ist kurz und schnell. 19 Kilometer mit 1600 Höhenmeter. Helm und Geschirr brauchen wir nicht mehr. Heute wird gerannt. Nicht unbedingt das, was uns liegt oder weswegen wir gekommen sind, aber wir haben Bock. Wir haben uns das Team in den gelben Shirts ausgeguckt. Zwei sympathische Jungs, nicht das wir mit ihnen gesprochen hätten – ihr wisst, die Sprachbarriere aber wer so schnell läuft, obwohl seine völlig zerschlissenen Hoka Zinal nur noch von Panzertape zusammengehalten werden, hat sich automatisch unsere Sympathien verdient. Nichtsdestotrotz wollen wir den beiden heute die Hacken zeigen, nachdem wir ihnen gestern noch knapp den Vortritt lassen mussten. Ich bin am Anfang meines Textes angelangt. Team Gelb haben wir längst distanziert, aber wir wollen mehr. Schnell ist das vor uns laufende Sechsergespann eingeholt. Kurz hängen wir uns in den Zug, nur um just in dem Moment, wo es wieder in den steileren Trail-Abschnitt geht, die Bremsen aufzumachen und dem Pulk davon zu laufen. Ich jubiliere, Johannes stöhnt, bleibt aber dran. Nur noch ein 400 Höhenmeter Anstieg plus ein steiler Downhill trennt uns vom Ziel. Wir laufen den kompletten Anstieg durch. Ich am Limit, Johannes am Limit. Oben hören wir schon die Kettensäge kreischen und die Kuhglocken klingen. „Courage“ und „Allez C’est bien“ rufen uns die gut zwanzig Zuschauer zu, von denen wir dachten, es wären mindestens 100 – so viel Lärm wie sie veranstalteten.

" Ich am Limit, Johannes am Limit. Oben hören wir schon die Kettensäge kreischen und die Kuhglocken klingen. „Courage“ und „Allez C’est bien“ rufen uns die gut 20 Zuschauer zu, von denen wir dachten es wären mindestens 100 – so viel Lärm veranstalten sie. "

Mit brennenden Beinen und Adrenalin geschwängertem Kopf stürzen wir uns in den finalen Downhill. Platz sieben verrät uns die Anzeigetafel im Ziel. Ein letztes mal fallen wir uns in die Arme. Ein paar Minuten später kommt „Team Gelb“ ins Ziel. Unser Freund sichtlich erschöpft. Wo vor der Etappe noch Panzertape war, schaut nun seine Innensohle ganze zehn Zentimeter aus den besagten Resten des Hoka-Schuhs heraus. Per Handschlag zollen wir ihm unseren Respekt. Nur zwei Stunden später sitzen wir im Auto gen Heimat. Wir resümieren das Rennen und sind uns einig, dass diese kurzen Distanzen richtig Bock machen. Einholen, Überholen und die Angst selbst, eingeholt und überholt zu werden – vor allem im Teamgefüge entfaltet diese Art des Laufens nochmal ein ganz anderes Kribbeln im Bauch, als es die Ultradistanzen, welche wir in den letzten Jahren liefen, taten.

So schnell wie wir gekommen sind, verlassen wir nach drei intensiven Tagen das Örtchen Arêches-Beaufort. Schade. Im Vorbeilaufen haben wir oft nur erahnen können, wie ein Bergbauernleben auf den Almwiesen über Arêches sich anfühlen könnte. Der berühmte Beafourt Käse, hier tatsächlich noch ein Produkt traditioneller Landwirtschaft, ist schließlich ein wenig wie die Pierra Menta: kraftvoll aromatisch, unaufgeregt traditionell, regional verankert und unfassbar ehrlich.

Nur ein Stück Blech? Über die Macht der Medaillen

Finishen: Nur eine Frage des Willens?