Sandra Spörl: In Laufschuhen zurück ins Leben

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Herzinsuffizienz, Herzklappendefekt, Multiple Sklerose– seit ihrem 18. Lebensjahr wird Trailrunnerin Sandra Spörl mit unschönen Diagnosen konfrontiert. Ihr Umgang damit? Unkonventionell einerseits aber noch viel mehr unnachahmlich.

„Sie können eigentlich schon mit dem Rollstuhltraining anfangen.“ Sandra ist 25 Jahre alt, als sie diesen Satz zu hören bekommt. Soeben hat sie erfahren, dass ihr Immunsystem sich gegen ihren eigenen Körper richtet und Teile ihrer Nervenfasern angreift. Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und unheilbar.

Trailrunnerin Sandra und Hund Janosch

Rennen statt Rollstuhl

Zwanzig Jahre später steige ich mit der Trailläuferin Sandra Spörl und ihrem Hund Janosch den Berg hinauf. Vor mir läuft ein äußerlich komplett gesunder Mensch. Sandras Beine sind kräftig und mit unzähligen Tattoos verziert. Ich kann nicht sagen, ob es an den Tattoos und Piercings oder an ihrer doch eher zierlichen Körpergröße liegt, doch ich muss stutzen, als mir die Fränkin erzählt, dass sie schon Mitte 40 ist. Sandra sieht erheblich jünger aus. Den Kampf, der Sandras Leben lange Zeit prägte und die unzähligen Hürden und Hindernisse, die Sandra seit ihrer frühesten Jugend überwinden musste, sind ihr nicht ins Gesicht geschrieben. Mit fast stoischer Rationalität, als wäre diese Geschichte nur eine von vielen, erzählt sie mir von ihren drastischen Krankheitserfahrungen.

Schon mit 18 erlitt sie regelmäßig Herzmuskelentzündungen. Was genau mit ihrem Herzen nicht stimme, konnte ihr aber zu dem Zeitpunkt noch keiner sagen. Mit Mitte 20 dann der nächste Schock. Sandra leidet immer wieder unter Taubheits- und Lähmungserscheinungen der linken Körperhälfte und bekommt kurz darauf die Diagnose MS gestellt. Es fällt der Satz mit dem Rollstuhl. Sandra soll sofort mit einer Immuntherapie beginnen. Die klassische Behandlung von MS, bei der versucht wird, über immunregulierende Medikamente ein Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten. Doch Sandra entscheidet sich gegen die schulmedizinische Therapie. Stattdessen beginnt sie zu laufen: „Ich werde sicher nicht im Rollstuhl sitzen. Im Gegenteil: Ich renne. Jetzt erst recht.“

Heute ist sich die Trailrunnerin sicher, dass sie die Entscheidung gegen eine klassische medikamentöse Therapie und für den Sport, welche sie in dem Moment aus einer puren Trotzhaltung heraus entwickelte, das Leben gerettet hat. Beziehungsweise ihr ein halbwegs normales Leben ermöglichte. Sandra leidet bis heute unter regelmäßigen MS-Schüben. „Ich stehe jeden Morgen auf und weiß nicht, was ist. Entweder alles ist gut oder ich komme kaum aus dem Bett.“ Schwindel, Übelkeit, keine Kontrolle mehr über die Beine – die Symptome ihrer Krankheit sind vielfältig. An Sport ist an solchen Tagen kaum zu denken. Sandra geht trotzdem raus. Macht vielleicht nur eine kleine Runde zu Fuß oder mit dem Rad. „Ich merke, wenn ich aufhöre zu laufen, werden meine Symptome schlimmer. Das treibt mich raus.“

Der Sturschädel

Das Laufen wird für Sandra nach ihrer MS Diagnose zum wichtigen Anker ihres Lebens. „Ich bin plötzlich nur noch gelaufen.“ Die ersten Erfolge ließen auch nicht lange auf sich warten. „Den ersten Halbmarathon lief ich ohne richtiges Training in 1:40. Ich war bayerische Meisterin im Halbmarathon, oberfränkische Meisterin im Marathon und bayerische Trailrunningmeisterin.“ Mit dem Trailrunning begann sie schon zu einer Zeit, als es das Trailrunning eigentlich noch gar nicht gab. Schon vor 20 Jahren lief sie mit Trekkinghalbschuhen und einem Fahrradrucksack in den Alpen von Hütte zu Hütte. „Ein Hüttenwirt hat mich sogar richtig zur Sau gemacht, wegen meiner fehlenden Ausrüstung“, erzählt Sandra.

„Seit ich denken kann, war ich ein ziemlicher Sturkopf. Schon mit einem dreiviertel Jahr, als ich gerade laufen lernte, bin ich daheim über den Jägerzaun geklettert. Am Tag meines 18. Geburtstags bin ich in mein Auto gestiegen, welches ich schon lange vorher besaß und zum Tätowierer gefahren.“

Sandras Sturschädel wird ihr manchmal aber auch zum Verhängnis. In der Anfangszeit des intensiven Laufens entwickelt sie eine gefährliche Magersucht: „Ich habe mir eingebildet, mein Körper hat so zu funktionieren, wie ich das will. Und wenn ich ihm nur ein Apfel am Tag gebe und dabei ein Marathon laufe, dann hat er das auch zu schaffen.“ Irgendwann wog Sandra nur noch 34 Kilogramm. Als sie keine Kraft mehr zum Laufen hat, holt sie sich Hilfe. Nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation und einer kurzen Therapie („Mit dem ganzen Therapiegedöns konnte ich nicht viel anfangen“), begreift sie, dass sie etwas ändern muss, wenn sie wieder zurück zum Laufen und überhaupt ins Leben finden will.

Auf einem schmalen Singletrail steigen Sandra und ich weiter in die Höhe. Immer voraus: Janosch. Sandras Vierbeiniger Begleiter ist nicht nur ihr treuester Trainingspartner, sondern als ausgebildeter Assistenzhund auch ein wichtiger Sicherheitsfaktor für die Tierliebhaberin. Einst hatte sie sogar vier Pferde – untergebracht im selbst gebauten Stall.

Zurück ins Leben

Zurück ins Leben finden. Eine Challenge, der sich Sandra immer wieder stellen muss. Wenn sie von ihren Kämpfen berichtet, schwingt da immer eine unglaubliche Stärke mit, ein tiefes Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeit, sich selbst mit eigener Kraft in Münchhausen-Manier am Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. „Klar, du kannst dir Hilfe holen, aber am Ende liegt es doch nur an dir, ob du es schaffst.“ Natürlich gab es auch in Sandras Geschichte Phasen, in denen gar nichts mehr ging. Momente, in denen die Resignation voll zuschlug. In denen sie dachte: „Jetzt ist es vorbei. Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr.“

Erst vor gut einem Jahr war sie wieder an solch einem Punkt angelangt. Nach drei Operationen, die erste davon am offenen Herzen, war sie am Boden angekommen. Was war geschehen? Nachdem das mit dem Laufen immer schwieriger wurde, die Luftnot immer größer, bekommt sie nach einem Kardio-MRT endlich eine Diagnose für ihre immer wieder kehrenden Herzprobleme. Sie hat einen angeborenen Defekt der Trikuspidalklappe, einer wichtigen Herzklappe, die den rechten Vorhof von der rechten Herzkammer trennt. Ein Chirurg will sich der Sache annehmen und einen Ring installieren, der dafür sorgt, dass sich die Klappe wieder richtig schließt. Obwohl Sandra inzwischen skeptisch gegenüber schulmedizinischen Interventionen ist, entscheidet sie sich für den Eingriff. Der Operateur spricht von Bestzeiten, dabei will Sandra einfach nur wieder normal laufen.

Die Operation am offenen Herzen ist nicht von Erfolg gekrönt. Die Klappe ist nach kurzer Zeit so undicht wie je zuvor und Sandra durch diesen Eingriff enorm geschwächt. Eine Corona-Infektion kurz nach der OP endet mit einem Aufenthalt auf der Intensivstation, bei dem sie der Beatmungsmaschine nur knapp entrinnt. Erneut muss sie im Anschluss Ärzteaussagen beiseiteschieben, die ihr prophezeien, dass an ein sportliches Leben mit diesem Herzen nicht zu denken sein wird. Doch die sture Sandra läuft nur 5 Monate nach der Operation am offenen Herzen wieder beim Wings For Life Run mit. Aber es warten weitere Prüfungen auf sie. Die Klammern, die ihr Brustbein nach der OP wieder zusammenhalten sollen, haben sich selbstständig gemacht und verursachen Schmerzen. Zwei weitere OPs sind nötig, um diese zu entfernen. Eine posttraumatische Schlafstörung nach der letzten OP ist dann der absolute Tiefpunkt.

" Ich merke, wenn ich aufhöre zu laufen, werden meine Symptome schlimmer. Das treibt mich raus. "

Sandra Spörl

Einfach nur laufen

Am absoluten Höhepunkt unserer kleinen Bergrunde sind Sandra und ich inzwischen angekommen. Auf dem Königstand hoch über Garmisch lacht uns dreien die Sonne ins Gesicht. Der Zugspitzblick belohnt unsere Aufstiegsmühen. Es ist ein traumhafter Bergtag. Einer von diesen Tagen, für die es sich lohnt, auch die längsten und dunkelsten Tunnel stoisch zu durchschreiten. Einer von diesen Tagen, die nach solchen Tunnel-Erfahrungen besonders hell leuchten. Wir beschließen unsere Runde noch ein wenig zu verlängern. Es ist einfach zu schön.

„Ein Freund berichtete mir letztens von seinen fehlenden Motivationsproblemen nach einem erfolgreichen Wettkampf. Früher ging mir das ähnlich. Heute nicht mehr. Wenn du froh bist, aufstehen zu können und auf deinen eigenen Füßen stehen zu dürfen, dann bist du über jeden Meter froh, den du laufen kannst. Wettkämpfe und Laufziele werden dann auf einmal ziemlich klein“, berichtet mir Sandra.

Autor Benni Bublak mit Sandra Spörl

Neue Trainingspartnerin und neues Ziel

Was nicht heißt, dass Sandra keine Laufziele hat. „Ich plane nicht mehr. Nehme eher jeden Tag, wie er kommt.“ Eine Ausnahme macht sie dann aber doch. Seit kurzem gibt es da einen ziemlich großen Plan in Sandras Leben. Doch um dies zu erklären, müssen wir noch mal einen Schritt zurückgehen. Nach ihren drei Herz-OPs ist Sandra unsicher, wie stark sie ihr krankes Herz belasten darf. Eine hilfreiche Antwort bekommt sie nirgends. Viele Ärzte sind skeptisch, ob ihres ambitionierten Sportprogramms. Genau zum richtigen Zeitpunkt lernt sie Isabelle Schöffl kennen. Die Kinder-Kardiologin und Sportmedizinerin ermutigt Sandra in ihren sportlichen Zielen: „Isabelle hat mir unglaublich geholfen. Sie hat mir die Angst genommen, indem sie mir sagte, ich darf und soll sogar Sport machen. Ich kann nichts kaputtmachen und mein Körper sagt mir schon, wann es zu viel ist.“

Isabelle Schöffl, selbst ambitionierte Trailrunnerin, ist seitdem nicht nur Sandras Ärztin, sondern auch Freundin und Trainingspartnerin: „Ich bringe dich wieder dazu, den Transalpine Run zu laufen. Das machen wir jetzt als Projekt. Wir finishen 2025 den Transalpine Run zusammen“, sagt sie zu Sandra. 2014 ist Sandra schon einmal den Transalpine Run gelaufen. Die Aussicht, die Alpenüberquerung im Team mit ihrer Ärztin ein weiteres Mal zu finishen, trotz MS-Diagnose und manifester Herz-Insuffizienz, gibt der Hunde-Mama Kraft und Lebensenergie. Energie, die Sandra gern weitergeben möchte. Ihre guten Erfahrungen, die therapierende Wirkung des Sports betreffend will sie unbedingt mit anderen Betroffenen teilen. „Wenn wir dieses Projekt in Angriff nehmen, muss es auch einen weiteren Zweck erfüllen, als die Erfüllung meines persönlichen Traums“, sagt sie folgerichtig zu Isabelle.

„Kinder mit Herzfehlern werden oft in Watte gepackt, man ist sehr vorsichtig, dabei kann es ihre Lebensqualität erheblich verbessern, wenn sie sich bewegen und gezielt Sport treiben. Aber da müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten, um diese Erkenntnis zu etablieren“, erklärt die Kinder-Kardiologin. Die Aufmerksamkeit für dieses Thema zu erhöhen und per Crowd Funding Mittel zu generieren, um die Sportmedizin bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern zu etablieren, ist das Ziel der beiden TAR-Aspirantinnen.

Ärztin Isabelle Schöffl und Patientin Sandra Spörl © Sandra Spörl

Der Umgang von Sandra Spörl mit den Hindernissen, die ihr das Leben in den Weg schmiss, sind sicher alles andere als konventionell. Statt sich ihrem Schicksal, dem ärztlichen Rat und der konventionellen Therapie hinzugeben, hat Sandra die Laufschuhe geschnürt. Der tägliche Ausdauersport, die täglichen Kräftigungsübungen und ihre konsequent vegane und glutenfreie Ernährung sind Folge ihres Selbststudiums im Umgang mit ihrer Krankheit. Mit einem Finish beim Transalpine Run nächstes Jahr wäre sie über 20 Jahre nach ihrer MS-Diagnose weiter entfernt vom Rollstuhl als der gesunde Durchschnittsbürger. Das hat sie wohl auch ihrem Dickschädel zu verdanken: „Ich bin ein unheimlicher Sturkopf. Das hat mich schon manchmal in schwierige Situationen gebracht, aber noch viel mehr hat es mir geholfen.“

Im September 2025 wollen Sandra und Isabelle, Patientin und Ärztin, gemeinsam den Transalpine Run finishen. Bis dahin läuft auch ihr Crowdfunding-Projekt mit dem Ziel, die Sportmedizin bei Kindern und Erwachsenen mit angeborenen Herzfehlern zu etablieren. Hier findet ihr alle Informationen und könnt das Projekt unterstützen.

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