Jasmin Paris und die Barkley Marathons: 99 Sekunden für die Ewigkeit

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Die Welt nach Barkley ist eine andere. Die Britin Jasmin Paris hat als erste Frau die berüchtigten Barkley Marathons beenden können. Wir erklären, warum das kein Zufall war.

Mit Superlativen wie historisch sollte man sparsam umgehen. Doch das Finish von Jasmin Paris bei den diesjährigen Barkley Marathons, einem Rennen, das von manchen als der härteste Lauf der Welt bezeichnet wird, ist genau das: ein historisches Ereignis für die Laufwelt. Die Vorstellung davon, was Frauen im Ultralaufen leisten können, muss neu kalibriert werden. Warum ist ihr Ergebnis so besonders? Weshalb berichten sogar Medien wie die New York Times, die BBC oder der SPIEGEL über diese Ausnahmeleistung? Wir wollen im ersten Schritt klären, warum die Barkley Marathons so einzigartig und schwierig sind. Im zweiten Schritt versuchen wir zu zeigen, dass das Finish von Jasmin Paris kein Zufall war. Im Gegenteil, dass es sich vielleicht sogar angedeutet hat.

Die Faszination Barkley Marathons

Um das Finish von Jasmin Paris einordnen zu können, muss man sich mit den Barkley Marathons befassen (höre hierzu auch „Vom Laufen“ Folge 67) . Der Lauf wurde 1986 zum ersten Mal ausgetragen. Er findet jährlich im Frozen Head Nationalpark in Tennessee, USA statt. Initiiert wurde die Veranstaltung von Gary Cantrell, der auf den Spitznamen Lazarus Lake hört. Seine Idee: Einen Lauf schaffen, der so schwierig ist, dass ihn kaum jemand überhaupt beenden kann. Die Herausforderungen sind dementsprechend immens: Es gilt fünf Runden von je etwa 32 km und 3000 bis 4000 hm durch unmarkiertes und größtenteils wegloses, zugewuchertes und oft sehr steiles Terrain zu laufen. Pro Runde stehen 12 Stunden zur Verfügung. GPS-Geräte sind verboten. Eine am Vortag ausgehändigte lückenhafte Streckenbeschreibung und ein Kompass müssen den Teilnehmenden zur Orientierung reichen. Auf dem Weg müssen Seiten aus einer Reihe von versteckten Büchern entnommen und am Ende jeder Runde vollzählig vorgezeigt werden. Verpflegungsstationen gibt es mit Ausnahme von einigen Wasserkanistern nicht. Die ganze Veranstaltung ist gespickt mit Kuriositäten: Eine reguläre Anmeldung gibt es nicht. Es muss ein Essay an Lazarus Lake geschickt werden, wobei selbst die richtige Adresse Lakes nur wenigen bekannt ist. Wer ausgewählt wird, erhält ein Beileidsschreiben, das als erfolgreiche Anmeldung zu verstehen ist. Das Datum des Rennens wird nicht öffentlich kommuniziert, sondern wird lediglich den Teilnehmenden mitgeteilt. Das Startgeld beträgt 1,60 Dollar. Die Startzeit? Jedes Jahr unterschiedlich. Ertönt eine von Lazarus Lake geblasene Muschel sind noch 60 Minuten Zeit bis zum Start, der mit einer entzündeten Zigarette des Veranstalters beginnt. Als wäre das alles noch nicht genug, ist häufig mit sehr schlechten Wetterbedingungen zu rechnen. Kälte, Regen und Nebel sind keine Seltenheit, wobei die letzten Austragungen untypischerweise vergleichsweise gute Bedingungen hatten. Viele der besten Langstreckenspezialistinnen und Langstreckenspezialisten der Welt scheitern regelmäßig an den Barkley Marathons. Bis 2022 haben nur 15 Läufer finishen können. 2023 und 2024 gab es ungewöhnlich viele Finisher. Die Gesamtzahl steht mittlerweile bei 20. Eine davon ist Jasmin Paris.

Jasmin Paris auf der Strecke der Barkley Marathons. Foto: Instagram.com/searchingforzocherman

Dass die Barkley Marathons kein Ultratrail wie jeder andere ist, ist nun hoffentlich deutlich geworden. Es ist ein Ausdauer-Orientierungs-Wachbleibe-Strategiespiel, das keine groben Fehler verzeiht. Wer Navigations- oder Verpflegungsfehler begeht und diese nicht umgehend korrigiert, wird das enge Zeitfenster nicht schaffen. Es sind 60 Stunden Problemlösungskompetenz, Ausdauerfähigkeit und vor allem Beinkraft gefragt, denn die insgesamt 16.000 bis 20.000 hm (die Angaben variieren, denn niemand darf das Rennen tracken) haben es in sich. Wer Uphill nicht konstant hiken und Downhill nicht mehr laufen kann, vergeudet zu viel Zeit. Die Uhr tickt beim Barkley unnachgiebig. Jasmin Paris hat all diese Kompetenzen an den Tag gelegt. Die Karriere der 40-jährigen Tiermedizinerin hat sie ideal auf die Barkley Marathons vorbereitet. Dazu gehören Bestzeiten auf den traditionellen britischen Rundkursen „Bob Graham Round“, „Ramsay Round“ und „Paddy Buckley Round“, sowie Siege bei anspruchsvollen Skyrunning-Rennen wie Tromsø SkyRace und Glen Coe Skyline. Internationale Aufmerksamkeit erlangte sie spätestens 2019, als sie das 431 km lange „Spine Race“ als Gesamterste gewinnen konnte und dabei einen neuen Streckenrekord für Männer und Frauen aufstellte. Damit nicht genug: Während des Rennens hat sie ihrem Baby die Brust gegeben. 2022 nahm Jasmin das erste Mal an den Barkley Marathons teil. Sie schaffte drei Runden (den sogenannten „Fun Run“). Ein Jahr später schaffte sie ebenfalls drei Runden, wobei sie die vierte Runde zwar beendete, aber das Zeitlimit überschritt. Die zweifache Mutter hatte also mehrere Versuche, bevor sie 2024 erneut am Start in Tennessee stand. Erfahrung, die bei einem Rennen wie dem Barkley unbezahlbar wichtig ist.

99 Sekunden bis Zielschluss

Das Tor kurz vor dem Abpfiff eines Fußballspiels. Der Buzzer Beater im Basketball (das ist die Bezeichnung für einen Korb, der kurz vor dem Erschallen der Sirene als Signal für das Spielende geworfen wird). Wenn etwas unter hohem zeitlichen Druck passiert, Sekunden über Sieg oder Niederlage entscheiden, dann übt das eine zusätzliche Faszination für das Publikum aus. Dann ist Sport ein Drama, das ein tragisches Ende oder ein erlösendes Happy End haben kann. Jasmin Paris hat diese Dramatik geboten. Alles spitzte sich auf diesen letzten Moment hin zu. Es wurde im Kopf gerechnet. Wie schnell muss Jasmin sein, um noch eine Chance zu haben? Als Jasmin Paris selbst 8 Minuten vor Zielschluss auf die Uhr schaut und weiß, dass es noch ein Kilometer bergauf ins Ziel ist, ist sie sich unsicher, ob sie es schaffen wird. Sie weiß nur: Es wird verdammt knapp. In einem Interview mit The Guardian wird sie gefragt, was sie in diesem Moment angetrieben hat. Sie sagt sich: „Wenn du das nicht schaffst, musst du es noch einmal machen.“ Alles, nur das nicht. Jasmin Paris gibt alles. Sie verausgabt sich komplett. Ihr ist schwindelig. Sie läuft in einem Tunnel und bekommt den frenetischen Beifall am Streckenrand nur peripher mit. Sie berührt die gelbe Schranke, ein Speichelfaden hängt aus ihrem halb geöffneten Mund, dann kollabiert sie in Richtung Boden. Bilder für die Ewigkeit. Sie wird Minuten brauchen, um ihren Atem zu kontrollieren. Und der Rest ist Geschichte. Internationale Medien, die selten über den Laufsport berichten, schreiben über ihren Erfolg. Sie ist zu Gast im Fernsehen der BBC. Jasmin Paris ist für diesen Moment ein Medienphänomen.

Die Erleichterung im Ziel. Foto: instagram.com/searchingforzocherman

Courtney, Camille und Jasmin: Ultraläuferinnen setzen neue Maßstäbe

Paris reiht sich mit ihrer Leistung in eine Reihe von sensationellen Ereignissen von Ultraläuferinnen ein, die es in den letzten Monaten zu bestaunen gab. Courtney Dauwalters Triple mit unangefochtenen Siegen bei den drei ikonischsten 100 Meilen-Rennen der Welt Western States, Hardrock und UTMB innerhalb eines Sommers hatte Fans und Medien letztes Jahr in Ekstase versetzt. Camille Herrons neuer 6-Tage-Weltrekord im März diesen Jahres mit 901.8 zurückgelegten Kilometern in 144 Stunden wurde ebenfalls mit vielen Superlativen bedacht. Dauwalter und Herron sind zwei Athletinnen, die die Ultrawelt nicht zum ersten Mal auf den Kopf gestellt haben. Und dann das Finish von Jasmin Paris. So langsam gehen einem die Begrifflichkeiten aus, um die Leistungen der Frauen im Ultrabereich zu beschreiben. Unfassbar? Unglaublich? Wahnsinn?

Wir leben in einer Zeit, in der Welt- und Streckenrekorde in einer Regelmäßigkeit unterboten werden, dass einem schwindelig werden kann. Woran mag das liegen? Besonders die Straßenlaufelite profitierte in den letzten Jahren von mehreren parallel stattfindenden Technologiesprüngen in Form von hocheffizienter und gut-verträglicher Sportnahrung und mit Karbonfaserplatten und neuartigen Dämpfungsschäumen ausgestatten Laufschuhen. In abgemilderter Form gilt dies auch für das Trailrunning. Auch hier hat sich viel getan. Wobei die beiden genannten Fortschrittsaspekte (Sportnahrung und Schuhtechnologie) bei einem Rennen wie den Barkley Marathons keine Rolle spielen. Gegessen wird, was reingeht. Bei einer Renndauer von bis zu 60 Stunden wird niemand nur auf Sportnahrung setzen. The Guardian verrät Jasmin Paris, dass sie unter anderem Pasta, Porridge, Reispudding, Bananen, Käsebrote, Pizza und Snickers gegessen haben will. Man müsse essen, was man kann, sagt sie in dem Interview. Und Superschuhe? Die bringen auf diesem Terrain keinen Vorteil. Die meiste Zeit befindet man sich im Bergaufgehen, unterbrochen von Downhills und kurzen Flachpassagen. Schnell gelaufen im Sinne von einer hohen Pace und einem dynamische Schritt wird hier nicht. Das heißt: Die Barkley Marathons sind in gewisser Weise ein Rennen, das immun ist gegen Trends. Unterschiede in der Ausrüstung werden von der Strecke egalisiert. Barkley belohnt hartes Training und eine vielgestaltige physische und psychische Resilienz, die einen nicht aufgeben lässt.

Es scheint demnach so, dass die Zeit einfach reif war für die erste weibliche Barkley-Finisherin. Für eine Frau, die erfahren und selbstbewusst genug war. Die vermutlich auch dank ihres naturwissenschaftlichen Hintergrunds gewissenhaft und präzise in der Vorbereitung wie Durchführung war. Für eine Frau, die es stark genug wollte. Kurz: Die Zeit war reif für eine Frau wie Jasmin Paris.

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